dokumentarfilm

Allmächtiger Panzer Zu Tsahal von Claude Lanzmann und Z32 von Avi Mograbi

Von Bert Rebhandl

Tsahal (1994)

© absolut MEDIEN

 

Der israelische Panzer Merkava («Streitwagen») unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von verwandten Typen dieser Waffengattung. Er hat untypischerweise den Motor vorn, und dahinter eine zusätzliche Wand aus Metall, sodass die Besatzung auch einen frontalen Artillerietreffer überleben kann. Der Merkava verfügt zudem über eine kleine Luke an der Unterseite, durch die nicht nur Soldaten den Panzer im Notfall schneller und geschützter verlassen können als durch die Gefechtskabine oben, sondern durch die auch verwundete Soldaten vom Schlachtfeld aufgenommen werden können. Der Merkava wurde von der israelischen Armee spezifisch auf deren Anforderungen hin entworfen, er geht aus den Erfahrungen hervor, die in den Kriegen gemacht wurden, in denen das Bestehen des Staates Israel auf dem Spiel stand.

In Claude Lanzmanns Film Tsahal figuriert der Merkava ganz konkret als ein Dingsymbol für diesen gefährdeten Staat, der ohne seine Streitkräfte nicht mehr existieren würde. Die Tsava Haganah ­Leisrael (Armee zur Verteidigung Israels) bildet die entscheidende Grundlage nicht nur für das Fortbestehen, sondern für die Identität des Gemeinwesens, das in weit über 3000 Jahren jüdischer Geschichte erst die dritte Phase territorialer Souveränität (nach dem vorexilischen Königtum im 8. Jahrhundert und dem Makkabäerreich im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) darstellt, wie der General Ehud Barak an einer Stelle des Films betont.

Warum Israel?

Tsahal, fertiggestellt 1994, aber gedreht über einen langen Zeitraum, stellt nicht nur in dieser Perspektive eine Antwort auf die Frage dar, die Claude Lanzmann zu Beginn seines Filmschaffens gestellt hatte: Pourqoi Israel? Tsahal verschiebt den Akzent: Warum (immer noch) Israel? Die beiden Filme verhalten sich analog zueinander wie Shoah und Sobibór, 14 octobre 1943, 16h, die ebenfalls durch eine Dialektik von erlittener und gerechter (Defensiv-)Gewalt geprägt sind.

In Tsahal schlägt Lanzmann einen Bogen von den Bedrohungs- und Vernichtungserfahrungen im Sechstagekrieg 1967 und im Yom-Kippur-Krieg 1973 zu den Alltagserfahrungen der Besatzung in den Gebieten, die Israel in den beiden Kriegen erobert hat. Die spektakuläre Wende sowohl 1967 und 1973 brachte zuerst einmal eine Phase des Hochgefühls, die vom «Geist des allmächtigen Panzers» geprägt war, wie es an einer Stelle des Films heißt. Das Militärfahrzeug, das für offensive Strategien konzipiert wurde, steht für das Selbstbewusstsein der wehrhaften Nation.

Die Legitimationserzählun­gen verschwimmen mit der historischen Erfahrung. Als am Mittwoch während des Sechstagekriegs 1967 Ostjerusalem erobert wird, wird dies mit dem biblischen Satz «Har HaBayit beyadenu» verkündet – «der (Tempel-)Berg ist in unseren Händen». Yossi Ben-Hanan, einer der Gesprächspartner von Lanzmann, musste in diesem Moment an einen zionistischen Film denken. Das prophetische Motiv der wiederhergestellten jüdischen Nation mit dem Zentrum des Tempels in Jerusalem verbindet sich in Tsahal mit dem zweiten Begründungsmotiv einer Wiedergeburt nach der Shoah.

Yanush Ben-Gal erzählt in einer Variante dieses Motivs zuerst von seiner Odyssee als Kind (sein Vater brachte die Familien in Polen auf ein Gebiet, das von der Roten Armee erobert wurde; er kam in ein Lager nach Nowosibirsk, dann nach Bombay, und schließlich über Teheran nach Palästina), und dann von seinem zweiten Leben. 1955 trat er in die Armee ein, sie wurde zu seiner Ersatzfamilie, seine Formulierung könnte anschaulicher nicht sein – er fühlte sich wie «neu geboren in einem Panzer».

Tsahal dauert fünf Stunden, und gleicht auch formal in seinem Wechselspiel von Interviews und Landschaftsbildern in vielerlei Hinsicht Shoah. In der Präambel gibt Lanzmann dem Film selbst ein prophetisches Ziel – er möchte die kurze Geschichte der Staatlichkeit Israels in den Kontext einer längeren Dauer stellen, und so auf eine Zeit «vers l’adieu aux armes» hin öffnen. Die konkrete Erfahrung, die den zweiten Teil des Films prägt, ist allerdings die, von der bis heute die Politik Israels und das Vorgehen des Militärs bestimmt ist: Nach den Kriegserfolgen ist Israel (de iure inzwischen nur noch im Westjordanland, de facto immer noch auch im Gazastreifen) Besatzungsmacht und damit in eine Form von Kriegsführung verstrickt, die durch Sicherheitsfragen geprägt ist. Die Veröffentlichung von Tsahal fiel 1994 in die Zeit unmittelbar nach der ersten Intifada, während derer wesentliche Passagen des Films gedreht wurden. Die entscheidende Frage, wie die Tsahal eine «reine Armee» bleiben kann, wenn auf der Gegenseite Steine werfende Kinder stehen, wird von den Soldaten kasuistisch beantwortet – sie verweisen auf einen detaillierten Regelkatalog, an dessen Ende potentiell immer die Rechtfertigung konkreter Tötungen steht.

Das «Ende der Nachkriegszeit»

Für den ersten Teil von Tsahal hatte Lanzmann vor allem «Helden» interviewt, darunter auch die späteren Politiker Ariel Scharon und Ehud Barak. Im zweiten Teil kommen dann auch Anwälte und Intellektuelle zu Wort, die der Besatzung kritisch gegenüber stehen. Tsahal begreift damit sehr anschaulich jenen historischen Wendepunkt in sich, den Fritz Stern 1974 in einem Beitrag für die Zeitschrift Commentary als das «Ende der Nachkriegszeit» bezeichnet hat. Er fällt mehr oder weniger mit dem Ende des Yom-Kippur-Kriegs zusammen und markiert den Übergang zu der Situation, von der noch unsere Gegenwart geprägt ist: der Holocaust wird in den Augen der Weltöffentlichkeit zunehmend historisiert (und in Israel umso stärker geschichtspolitisch instrumentalisiert), die Hegemonie der (israelischen Schutzmacht) USA schwindet.

«Das Bild einer heroischen, sozialdemokratisch-liberalen Nation von Pionieren – und Soldaten –, ein Zufluchtsort für Flüchtlinge und eine neue Nation mit einer besonderen zivilisatorischen, auf eine Verbindung von nationalen und universalen Werten gestützte Botschaft, verwandelte sich langsam in das Bild einer abgekapselten, nationalistischen Gesellschaft, die das Schwergewicht auf militärisch-martialische Tugenden legte: eine Gesellschaft von Unterdrückern.» (S. N. Eisenstadt in seinem Buch über Die Transformation der israelischen Gesellschaft) Lanzmann versucht in Tsahal, diesen Bruch persönlich zu überbrücken. Er umarmt ganz buchstäblich nicht nur die angehenden jungen Piloten, sondern auch die arabischen Tagelöhner, die langwierige Sicherkeits­kontrollen über sich ergehen lassen müssen, und am Ende den Siedler Uri Ariel, der eine Vision der territorialen Integrität von Erez Israel durchblicken lässt, die durchaus eine politische Lösung enthält.

Auf dem Land, das seiner Meinung nach Abraham «gekauft» hat, würde er auch dann als Bürger Israels leben, wenn es territorial zu einem anderen Staat gehören würde. Ob diese zugleich prinzipielle und pragmatische Position mehrheitsfähig ist, kann der Filmemacher Lanzmann nicht entscheiden. Er legt aber auf jeden Fall seine Arme auch um diesen Mann, dessen Selbstwidersprüche er gerade noch durch insistierendes Fragen offengelegt hatte.

 

Z 32 (2008)

© absolut MEDIEN

 

Eine Fallgeschichte: Z 32

In seiner enormen konzeptionellen Erstreckung bildet Tsahal eine Grundlage, auf der spätere Dokumentarfilme wie Z 32 von Avi Mograbi aufbauen können. In dieser konkreten Fallgeschichte eines Elitesoldaten, der an einer Rache­mission gegen palästinensische Polizisten teilgenommen und sich damit zum Mörder und Kriegsverbrecher gemacht hat, müssen und können die prinzipiellen Legitimationsfragen der israelischen Verteidigungspolitik nicht mehr gestellt werden. Stattdessen setzt Mograbi, der in seinen Filmen immer auch selber auftritt, an einer anderen Stelle ein – dort, wo die Soldaten später in das zivile Leben zurückkehren und mit ihren Taten nicht nur wieder integriert werden müssen, sondern – in diesem Fall tut es ein junger Mann vor seiner Lebensgefährtin – nach «Vergebung» suchen. Mograbi versieht diese Fallgeschichte mit einer zweiten Ebene, die bei ihm immer selbstreflexiv ist: «Ich beherberge einen Mörder in meinem Film.»

Der Mörder, der sich vor der Kamera exponierte und dies nur unter der Voraussetzung tat, dass er digital unkenntlich gemacht wurde, vertritt mit seiner individuellen Schuld nicht weniger als die Gesamtheit der israelischen Gesellschaft. Deswegen geht Z 32, wie fast alle Filme von Mograbi, vom Wohnzimmer des Filmemachers aus und verfremdet den (therapeutischen, maieutischen) Prozess des Films in der seltsamen Form eines Singspiels, das sehr lose an das Formexperiment der Dreigroschenoper von Brecht und Eisler anschließt.

Die Größe von Tsahal erweist sich auch darin, dass ein Fall wie der von dem Soldaten, dessen Geschichte das Aktenzeichen Z 32 trägt, bei Lanzmann in einer Episode schon präfiguriert ist. Sein Film, obwohl vor fünfzehn Jahren abgeschlossen, reicht intellektuell tatsächlich bis in die Gegenwart, und zeugt doch von einem epochalen Bruch: dass die Tsahal eines Tages ihr Gesicht würde verbergen müssen, wie es in Z 32 der Fall ist, deutet zumindest darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen nationaler Identität und militärischer Strategie, an dem Lanzmann zentral interessiert war, zerbrochen ist und auch durch prophetische Umarmungen nicht mehr gestiftet werden kann. 

Tsahal (Claude Lanzmann), F/D 1994, DVD bei absolut MEDIEN