medienwissenschaft

Doppelte Staatsbilderschaft Die israelische Philosophin Ariella Azoulay erkennt in der Fotografie einen Gesellschaftsvertrag

Von Robin Celikates

Ein Mann hält uns sein kaputtes Schloss entgegen, als gäbe es kein offensichtlicheres Zeichen für das Unrecht, das ihm angetan worden ist. Eine ältere Frau entblößt ihre verletzten Beine und blickt uns – nicht den Fotografen – in einer Direktheit an, die kein Ausweichen zulässt. Diese beiden Bilder der israelischen Fotografen Anat Saragusti und Miki Kratsman sind mehr als Dokumente, sie sind selbst politische Akte, und zwar im doppelten Sinn. Zum einen ist das Fotografieren unter den Bedingungen, die das Verhältnis von Israelis und Palästinensern prägen, ein unvermeidlich politischer Akt; zum anderen können die Fotografierten, die von staatlicher Seite oft gerade nicht als politische Akteure anerkannt werden, im Medium der Fotografie diesen Status zugleich in Anspruch nehmen und reklamieren. Dass die beiden Bilder exemplarisch eine ganze politische Theorie der Fotografie enthalten, ist die These, die die israelische Philosophin und Kuratorin Ariella Azoulay in ihrer materialreichen wie politisch engagierten Studie The Civil Contract of Photography ausführt.

Wie und unter welchen Bedingungen wird ein Foto zu einem genuin politischen Akt? Die Bedingung der Möglichkeit hierfür liegt in der Natur der Fotografie, die drei voneinander unabhängige Parteien – Fotografen, Fotografierte und Betrachter –, zusammenbringt, um etwas zu produzieren, das von keiner Seite kontrolliert oder besessen und dessen Wirkung nicht vorhergesehen oder gesteuert werden kann. Fotos sind wesentlich öffentlich. Sobald sie in der Welt sind, können sie auf je neue Weise gesehen und gedeutet werden. Dennoch ist die Praxis der Fotografie keine Praxis der Beliebigkeit. Sie ist voraussetzungsreich und anspruchsvoll. Um die Voraussetzungen dieser Praxis und die in ihr erhobenen Ansprüche zu artikulieren, verlässt Azoulay die ausgetretenen Pfade der Fotografietheorie und greift auf eine der Grundideen der modernen politischen Theorie zurück: den Gesellschaftsvertrag.

Vertragsverhältnisse

In einem Vertrag werden die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien festgelegt. Nicht anders verhält es sich im «Gesellschaftsvertrag der Fotografie». Die Beteiligten geben ihr Recht am eigenen Bild auf, erhalten im Gegenzug das Recht, die Welt durch den Blick der anderen zu sehen, und gehen die Verpflichtung ein, diesen Blick nicht zu unterdrücken, sondern anzuerkennen und zu schützen.

Die Bilder von Saragusti und Kratsman nehmen diese normative Struktur in Anspruch: als sei es das Recht der Abgebildeten, fotografiert zu werden, und unsere Pflicht, das Foto genau zu betrachten. Diese Verpflichtung kommt in der Adressierung der Betrachter durch den Blick der Fotografierten zum Ausdruck. Der Pflicht der Fotografen, «einfach» zu fotografieren, korrespondiert die Pflicht der Betrachter, genau hinzusehen – und auf den Anspruch zu reagieren, mit dem sie konfrontiert werden (denn natürlich spricht das Foto – so suggestiv es auch sein mag – nie für sich, sondern muss zum Sprechen gebracht werden). Das Insistieren auf einem genauen Lesen jedes einzelnen Bildes, das trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten eine jeweils eigene, andere Geschichte erzählt, ist weder rein ästhetisch noch bloß ethisch, sondern genuin politisch: Die Fotografierten verlangen nicht Empathie oder Mitleid, sondern die Anerkennung dessen, was ihnen passiert ist, und die Übernahme der Verantwortung für das, was wir sehen.

Ein Medium der Beschwerde

Politisch ist ein Foto demnach nicht, weil etwas Bestimmtes abgebildet ist oder weil man damit eine bestimmte Wirkung erzielen kann, sondern als Medium der Beschwerde und als Form der politischen Vergemeinschaftung. Denjenigen, die zwar regiert, aber nicht als Staatsbürger anerkannt werden, und die deshalb gegenüber der Regierung über keine Mitbestimmungs- und Einspruchsrechte verfügen, erlaubt der Gesellschaftsvertrag der Fotografie, was ihnen der reale Gesellschaftsvertrag versagt: ihren Status als Bürger, also ihr Recht in Anspruch zu nehmen, als politische Akteure zu sprechen und zu handeln.

Diese politische Logik der Fotografie tritt vor dem Hintergrund der Exklusions- und Herrschaftsmechanismen real existierender politischer Gemeinschaften besonders deutlich hervor. Sie ist durch und durch egalitär und kommt ohne eine übergeordnete souveräne Instanz aus. Sie nimmt eine neue, teils virtuelle, teils bereits existierende Gemeinschaft in Anspruch und instantiiert sie zugleich. Da sie alle staatlich auferlegten und durchgesetzten Teilungen in Staatsbürger und Semi- oder Nicht-Bürger zurückweist, steht sie der Logik des Nationalen nicht weniger entgegen als der Logik des Eigentums. Die Fotografie wird damit für Azoulay zu einer avantgardistischen Vorwegnahme der Entterritorialisierung und Entnationalisierung von Bürgerschaft – für sie die einzige Möglichkeit, das egalitaristische Versprechen der Französischen Revolution zu retten. Die utopische Dimension der «Bürgerschaft der Fotografie» besteht gerade darin – gegen jede Instrumentalisierung der Fotografie durch ökonomische und staatliche Partikularinteressen eine Gemeinschaft der Gleichen zu schaffen.

Leben «am Rande der Katastrophe»

Da diese Gemeinschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen aber doch ein Vorgriff bleibt, müssen im Medium der Fotografie auch die Bedingungen der Sichtbarkeit politischer Akteure und ihres Leidens problematisiert, neu verhandelt und verändert werden. Die Fähigkeit eines Bildes, etwa die Aussage zu vermitteln, dass es sich um eine Notlage handelt und dass etwas dagegen getan werden muss, untersteht Bedingungen, die nicht in der Hand der involvierten Parteien liegen. Azoulay diskutiert diese Frage anhand der Versuche des israelischen Staates, die von ihm selbst mitproduzierte Notlage zu banalisieren und zu normalisieren, indem sie partiell unsichtbar gemacht wird. Die unzähligen Fotos von Palästinensern, die mit gefesselten Händen und verbundenen Augen von israelischen Soldaten festgehalten werden, sind zwar für alle zu sehen – und doch sind sie insofern unsichtbar, als sie bei den Betrachtern normalerweise nicht das Gefühl der Dringlichkeit auslösen. Im Einklang mit der staatlichen Logik werden die Betroffenen primär als potentielle Risiken, die reguliert werden müssen, und nicht als Opfer willkürlicher Gewalt betrachtet. Die Fotos selbst fungieren nicht mehr als Zeugnisse eines singulären Ereignisses, das konkrete Personen existentiell betrifft, sondern als Illustrationen eines wohlbekannten Problems.

Gegen die normalisierende Ausblendung dessen, was man sieht, gegen die offizielle Repräsentation der Besatzung und ihre Strategie der Unsichtbarmachung, die Azoulay als wesentlichen Teil der Besatzung begreift, kann wiederum allein die Fotografie helfen. Sie muss das Leben «am Rande der Katastrophe» zeigen – also jenen Alltag in der «Strafkolonie» dokumentieren, in dem die Katastrophe im Namen der Sicherheit zur Routine gemacht worden ist.

Das Schicksal der vom vollen Bürgerstatus Ausgeschlossenen beschädigt aber auch den Anspruch der unter dem Schutz des Staates stehenden Bürger auf politische Gleichheit, denn dieses Ideal steht quer zur staatlichen Aufteilung in Staatsbürger und Fremde. Darauf zu insistieren, dass Bürgerschaft nicht als vom Staat einseitig zugewiesener Status, sondern als gemeinsame Praxis der staatlicher Herrschaft Unterworfenen verstanden werden muss, ist die politische Bestimmung einer Fotografie, die nicht nur die Klage der Ausgeschlossenen über ihren Ausschluss in eine Anklage übersetzt, sondern auch vom utopischen Vorschein einer Gemeinschaft der Gleichen geleitet ist. Fotografie ist dann mehr als Dokumentation – sie wird zur Arena des politischen Handelns aus Solidarität.

Archiv einer israelischen Bürgerin

Azoulay selbst hat die Herausforderung der Fotografie nicht nur als Theoretikerin, sondern auch als Kuratorin und Archivarin – primär aber vielleicht als Bürgerin des Staates Israel – angenommen. Dabei steht die Auseinandersetzung mit den Bildern und der von ihnen ausgehenden Aufforderung am Anfang einer Theorie, die dem archivarischen Projekt der Rettung seinen systematischen Ort innerhalb des Gesellschaftsvertrags der Fotografie zuweist. Azoulays fotografische Geschichte der Besatzung führt mehr als 700 Bilder von über 50 Fotografen zusammen, ohne dabei eine der in sich selbst komplexen Perspektiven zu privilegieren. Damit wird die Besatzung in ihrer Vielschichtigkeit und Enormität ebenso sichtbar wie der alltägliche Umgang mit ihr. Die von ihr kuratierte Ausstellung, die zunächst in Israel und dann in Italien zu sehen war und aus deren Katalog auch die umseitigen Abbildungen stammen, präsentiert die Bilder nicht als Illustration einer schon bekannten Erzählung – sie sind die Erzählung selbst und doch auf ihre Betrachter angewiesen, um zu einer Erzählung zu werden. Alles ist sichtbar, und doch müssen wir erst lernen, es zu sehen.

Ariella Azoulay: The Civil Contract of Photography (New York: Zone Books 2008)