filmwissenschaft

Rettende Kritik Ein Gespräch über Miriam Hansens posthum erschienenes Buch Cinema and Experience und die Kritische Theorie der Massenmedien

Von Gertrud Koch und Simon Rothöhler

Simon Rothöhler: In Cinema and Experience bündelt Miriam Hansen ihre jahrzehntelange Forschungsarbeit zur film- und medientheoretischen Dimension der Kritischen Theorie – eine enorm materialreiche, akribische Rekonstruktion, die unter anderem auszeichnet, über ein umfassendes Verständnis der für diese Perspektive relevanten Texte von Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno zu verfügen.

Gertrud Koch: Cinema and Experience ist wirklich eine große Ideengeschichte. Für Leute, die sich mit Filmtheorie und deren Genese beschäftigen, ist das Buch ab jetzt unhintergehbar, ein Standardwerk. Miriam betreibt eine minutiöse Erforschung der Theorie als historischer, historisiert aber nicht in dem Sinn, dass damit implizit bedeutet würde: das, was in diesen alten Texten steht, gilt heute nicht mehr. Sie diskutiert die Autoren vor dem Hintergrund dieser enorm weit verzweigten Werke, um filmspezifische Relektüren zu ermöglichen – und sie bleibt dabei immanent, das ist ihre Intention. Aus den jahrzehntelangen Diskussionen mit Miriam weiß ich, dass es bei ihr zwischenzeitlich allerdings auch mal ein stärkeres Interesse daran gab, direkte Bezüge zu anderen Theoriemodellen herzustellen, etwa Adorno mit Derrida zu vernetzen.

SR: In der jetzt publizierten Version ist der ausdrückliche Kontakt mit jüngeren theoretischen Entwicklungen eher punktuell. Das angesprochene Zwischenstadium scheint mir dennoch über den enorm detaillierten Fußnotenapparat repräsentiert.

GK: Miriam ist als Theoretikern auch ausdrücklich Historikerin. Es geht ihr nicht primär um aktuale Öffnungen, sondern um eine Form der Augenhöhe mit den Autoren, darum, nochmal Interesse zu wecken für eine philosophisch begründete Filmtheorie, die an einem spezifischen Moment der Kritik festhält.

SR: Es wird sicher deutlich, dass es nicht um Kanonisierung und Konsolidierung geht, nicht darum, ein Theoriekorpus als abgelegte Geschichte zu verschnüren. Beeindruckend an Cinema and Experience ist nicht zuletzt, wie sorgfältig hier eine theoretische Substanz freigelegt wird, von der aus dann vielfältige, informierte Weiterschreibungen möglich werden.

GK: Genau, denn man muss die historische Genese von Theorien verstehen, bevor man Bögen in je unterschiedliche Gegenwarten schlägt, bevor andere Geltungsansprüche daran angeknüpft werden können. Worum es gehen sollte ist in diesem Sinn eine Figur rettender Kritik.

SR: Was ist, auf der allgemeinsten Ebene, zu retten an der Kritischen Theorie, sofern sie von Massenmedien spricht?

GK: Ein Begriff von Kritik, der etwa in den meist sehr affirmativ gewendeten Cultural Studies, die dieses Erbe ja in gewisser Weise mitangetreten haben, verloren gegangen ist. Da dominiert meist ein recht schlichter Relativismus: Die Verhältnisse sind nicht so monolithisch und geschlossen, heißt es dann, jede Gruppe an Rezipienten, jede Subkultur nimmt das vorliegende Kulturmaterial ganz anders wahr und macht was Schönes daraus. Eine sympathische Vorstellung, aber sie geht doch ziemlich an der gegenwärtigen Brisanz vorbei, an dem Umstand, dass es mittlerweile global verfahrende Kanäle gibt, die die Bandbreite dessen, was faktisch rezipiert wird, eher nicht ausdehnen. Unterm Strich sehen immer mehr Leute immer Ähnlicheres.

SR: Wie sind denn dann die pluralistischen Versprechen netzbasierter Kommunikation und Distribution einzuschätzen? Keine Option zur Aufweichung «vermachteter» Öffentlichkeiten?

GK: Erzwungene Ähnlichkeit ist die Dialektik der neuen Verbreitungsmedien. Sie stellen gleichzeitig Öffentlichkeiten her, begradigen dabei aber das, was kommuniziert wird, immer stärker. Es geht darum, etwa im Gespräch mit der von Miriam rekonstruierten Tradition der Kritischen Theorie, Positionen zu entwickeln, die weder in die Feier des befreiten und befreienden Netzes einstimmen, noch der Paranoia erliegen, wonach das Netz vor allem ein hegemoniales Kontrollmedium ist, in dem wir gefangen sind. Zur Dialektik von Massenkommunikationswegen gehört grundsätzlich auch, dass sie immer wieder alternativ nutzbare Legitimationsfenster aufmachen. Die Produktionsnische – man denke etwa an Alexander Kluges Kulturfernsehen-Mini-Imperium – hängt nicht nur hinten dran, sondern gehört dazu. Voll durchschlagende ökonomistische Marktgleichschaltung gibt es ja nur als Heilsvorstellung der Neoliberalen. Herr-Knecht-Verhältnisse lassen sich aber nicht einseitig stillstellen. Auch für das Internet gilt, dass neue Medien immer von merkwürdigen utopischen Projektionen begleitet werden. Als ob durch Technik allein irgendetwas gelöst werden könnte. Da muss immer noch was hinzukommen, mit der Technik muss etwas gemacht werden: Handlungen, Formenbildungen. Kritische Theorie ist so gesehen immer interessiert an den Transformationsgelenken: Es geht um eine Praxis, nicht um die Frage, ob erst eine bestimmte Technik da war, oder das dazugehörige Phantasma.

 

© Literaturarchiv Marbach

 

SR: Miriam Hansen rekonstruiert in einem Kapitel sehr genau, wie sich Walter Benjamin das Kino als Ort einer alternativen Technikaneignung vorgestellt hat, als Medium, in dem die Zumutungen der Moderne spielerisch angenommen und zugleich distanziert werden können – eine Art Trainingslager für kommende Subversion. Wie sehr ist dieses Modell an eine historische Medienkonfiguration gebunden? Heute hat sich das Kino, auch als Form der Öffentlichkeit, aus dem Zentrum der Massenmedien zurückgezogen; es ist sukzessive ersetzt worden durch kleine Screens, nicht-kollektive Rezeptionspraktiken. Zuschauer streben danach, User zu sein.

GK: Was Benjamin anlangt würde ich sagen, dass es weniger um das Kino als Institution geht, sondern um Filmästhetik, um das, was die Kamera kann, den Typus Bild, den sie hervorbringt. Das eigentlich Neue war das Bewegungsbild – aber natürlich auch eine bestimmte Idee der Masse. Was die Gegenwart angeht: Auch wenn Film heute viel multipler geworden ist, ist das Kino nicht verschwunden. Da gibt es was Robustes im Modell des Bewegungsbildes, etwas, das offenbar auch via iPhone funktioniert. Es sei denn, wir täuschen uns und es liegt eben doch nicht an diesem Bild, an den somatischen Involvierungen, die es produziert, sondern am Geschichtenerzählen. Vielleicht sehen die Leute auf den kleinen Schirmen gar keine Filme, sondern genießen Hörspiele.

SR: Die Arbeiten von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer sind im filmwissenschaftlichen Diskurs weitestgehend etabliert, selbstverständlicher Bestandteil jeder plausiblen universitären Einführung in die Filmtheorie. Miriam Hansens Buch hilft hier fraglos, um auch bei diesen beiden Autoren zu einem breiteren Verständnis der hierfür zu konsultierenden Texte zu sorgen: jenseits von Kunstwerkaufsatz und Theorie des Films. Schon von der Architektur des Buches fällt aber auch auf, dass Adorno eine prominentere Rolle spielt, als dies in der Filmwissenschaft üblich ist.

GK: Das hat verschiedene Gründe, auch biografische. Miriam und ich haben uns ja gewissermaßen in der Adorno-Schule kennengelernt, zu Studienzeiten in Frankfurt. Auch wenn Adorno dann schon in unserem zweiten Semester verstarb, war er natürlich eine ganz prägende Größe. Die beliebte Formel lautete damals, mit Adorno gegen Adorno denken, also eine Kritische Theorie der Massenmedien zu entwickeln, die das Verdikt, dass an ihnen nichts zu retten sei, hinter sich lässt. Das geht ja durchaus theorieintern, etwa, indem man Adornos musikphilosophische Analysen als immanente Methode versteht und auf andere Phänomene wie den Film überträgt. Dann tritt der pauschale Eindruck des Kulturindustriekapitels automatisch zurück. Gekoppelt waren die theoretischen Bemühungen meiner Generation zudem an die Auseinandersetzungen der Studentenbewegung, wo es ja auch um die Frage ging, wie man innerhalb einer als geschlossen vorgestellten spätkapitalistischen Formation überhaupt einen Ort finden kann, von dem aus Kritik möglich ist.

SR: Cinema and Experience präpariert auch sehr deutlich, dass hinter dem Label «Kritische Theorie» durchaus konträre, nicht immer komplementär zu lesende Annahmen über die Funktionsweisen der Massenmedien des 20. Jahrhunderts verborgen sind. Ein geteilter Fluchtpunkt liegt in eher kommunikationstheoretischen Überlegungen?

GK: Man kann die paradigmeninternen Gegensätze in Richtung einer allgemeinen Theorie der Öffentlichkeit auflösen, wie das Habermas gemacht hat. Auch Alexander Kluge und Oskar Negt haben ja diesen Weg eingeschlagen. Da geht es dann nicht um konkrete Formen und Objekte, sondern um soziale Steuerungsmedien, die Öffentlichkeit herstellen. Die kommunikationstheoretische Wende war und ist relativ wichtig. Sie gibt natürlich auch noch mal einen anderen Schub in die Soziologie rein. Gerade auch über Adorno. Seine empirischen Arbeiten, das Radio Research Project zum Beispiel, waren ja ganz handfest, da ging es wirklich darum zu sehen, wie in den gängigen massenmedialen Produktionsformen beispielsweise die musikalische Klassik verarbeitet wird, welche Stereotypenbildungen sich da ausmachen lassen. Generell stellt sich die Frage, ob man Massenkommunikation eher von der Produktionsseite oder von der Rezeptionsseite her betrachten soll.

SR: Auch diesbezüglich bringt Miriam Hansen Adorno ins Spiel, während die Filmwissenschaft sonst meist auf Benjamins Thesen zur Erfahrungsfreisprengung via Kollektivrezeption oder eine an den frühen Kracauer angelehnte Vorstellung der Affizierung des Zuschauerkörpers zurückgreift.

GK: Für eine Ästhetik des Films gibt es bei Adorno ja nur ganz wenige Beiträge, vor allem die Filmtransparente und die Komposition für den Film, das Buch das er mit Hanns Eisler zusammen geschrieben hat. Letztlich ging es ihm ja um eine Kritik der industriellen, warenförmigen Produktion von Subjektivität. Das ist im Kern eine ganz foucaultianische Hintergrundanalyse: Massenkultur als Herrschaftsdispositiv, in dem Subjektivität geformt wird. Diese Argumentation in der Dialektik der Aufklärung, wo es diese scharfe, wenngleich häufig zu einseitig gelesene Kritik am Kino gibt, ist so gesehen bereits eine, die von der Erfahrung ausgeht. Adornos zentrale These ist, dass Erfahrung durch Zurichtung von Subjektivität verhindert wird. Man könnte auch von einer Usurpation sprechen: An die Stelle von Erfahrung tritt projektive Stereotypenbildung, die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen, wird immer weiter zugeschüttet. Insofern ist der Erfahrungsbegriff bei Adorno ganz wesentlich. Den gibt er auch nicht auf, wenn er über Film redet. Generell finde ich den Streit, ob Adorno was von Film verstanden hat oder nicht, eigentlich nur als Klatschgeschichte interessant. Theoretisch produktiver ist die Frage, wie Adornos ästhetische Analysen im Feld der Musik und der Literatur funktionieren und wie Transfers gedacht werden können. Das Programm von Miriam und unserer Generation, sofern sie aus der Kritischen Theorie kam, setzte ja im Grunde bei der Idee an, dass der Film trotz oder gerade wegen seiner industriellen Produktionsweise ästhetisch interessant ist. Und natürlich wurden dabei auch andere Werturteile gefällt über bestimmte kulturelle Produktionen.

SR: Das dabei mitlaufende Verständnis von Ästhetik hat mit Kunstbetrachtung und -autonomie nicht mehr viel im Sinn; das Ziel ist letztlich, Ästhetik als privilegierten Ort der Irritation von Kommodifizierungsprozessen zu verstehen.

GK: Was an Ästhetik interessiert, sind jene Momente, wenn Formationen brüchig, wenn Einstellungs- und Wahrnehmungswechsel möglich werden. Es geht um eine Logik der Überschreitung, bei der das Ästhetische als etwas gesehen werden kann, das eine kritische Negation des Bestehenden, wie das bei Adorno immer heißt, nach sich ziehen kann. Diese Idee des Ästhetischen ist eben nichts, was sich an die bürgerliche Ästhetik und autonome Kunst allein bindet; sie zielt auf transformatorische Momente.

SR: In Cinema and Experience ist in diesem Zusammenhang auch von «vernacular modernisms» die Rede – ein integrativer Begriff?

GK: Miriam Hansen benutzt ihn, um die Diskussion über verschiedene Konzepte der Moderne zu differenzieren: Die Oppositionen, die zum Beispiel in den Vorstellungen der «modernen Kunst» gegen die «popular culture» sich eingeschliffen hatten, die «Postmoderne», die den Begriff der «Moderne» als normatives Konstrukt analysiert hat etc. In diesem Zusammenhang versucht «vernacular modernism» die Moderne in der Populärkultur und Massenkunst zu beschreiben. Der Begriff korrespondiert dabei sicherlich auch mit den Theorien der «multiple modernities» , die in Auseinandersetzung mit den postkolonialen Theorien und der Umschaltung von den nationalen Kinematographien auf ein globales Weltkino entstanden sind.

SR: Wie lässt sich mit Blick auf ein Buch wie Cinema and Experience, das Theoriegeschichte sortiert und konstelliert, aber auch zugänglich hält und für Gegenwart öffnet, die Frage beantworten, ob es im Feld der Ideen etwas gibt, das «Fortschritt» genannt werden könnte?

GK: Ich denke, es gibt sowohl Regressionen von Theorien, die Erstarrung in der Dogmatik z. B. im Marxismus, Teilen der Psychoanalyse oder auch der analytischen Philosophie, es gibt aber zugleich Progressionen im Sinne einer Weiterentwicklung, die in der Auseinandersetzung mit anderen Theorien, aber auch mit den veränderten Verhältnissen, auf die sie sich beziehen, zu tun haben.

 

Miriam Bratu Hansen: Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno, University of California Press 2012

Für eine englische Übersetzung des Gespräch siehe New German Critique, Vol. 41, No. 2, 2014