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Realist des Filmemachens 20 Jahre war er verschwunden: Über Monte Hellman und seinen neuen Film Road to Nowhere

Von Matthias Wittmann

Monte Hellman mit Shannyn Sossamon, Setfoto Road to Nowhere (2010)

© E1 Films

 

«Almost every movie I like is a road movie, even if you don’t call it a road movie … you don’t call La Strada a road movie, but La Strada is a road movie … Lawrence of Arabia is a road movie … Easy Rider was a cheat!», hat Monte Hellman einmal gesagt, on the road, in einem fahrenden Auto, wo sonst, als er von Romuald Karmakar und Ulrich von Berg interviewt wurde. Hellman drehte und dreht: nichts als Roadmovies, auch und gerade: wenn sie Western sind, wie The Shooting (1967), ein Paranoia-Western, der auch als Beckett-Western bezeichnet wurde. (Es war übrigens Hellman, der 1958 die Westküsten-Uraufführung von Samuel Becketts Waiting for Godot als Western, das heißt: als Roadmovie, inszenierte.)

Das Warten bei Hellman allerdings scheint keinen Godot – kein Worauf? – mehr zu kennen, insbesondere in Two-Lane Blacktop (1971), seinem Opus Magnum und Anti-Easy Rider, über die Dragster- und Public-Racer-Szene. Die Figuren des Films, unter ihnen: Beach Boy Dennis Wilson, kennen irgendwann kein off the road mehr. Der Zauberberg wird zur Zauberroad, die Zeit kreist, dreht durch, läuft leer. Am Ende frisst sich sogar der Film fest, zumindest scheint das so, und das Bild verschmort, wie ein Autoreifen. Love is a burning thing. Dieses Schmor-Bild wird wiederkehren, in ganz anderer Form, am Ende von Road to Nowhere, als grandioser Zoom, der sich obsessiv in ein Porträtfoto einbrennt, bis Frauenlippen Risse tragen.

Zwanzig Jahre war Hellmann verschwunden, seit Iguana und Silent Night, Deadly Night III, das war 1988. Und plötzlich bekam Quentin Tarantino im vergangenen Jahr die Chance, als Jurypräsident in Venedig Mentor Hellman anlässlich der Präsentation seines Comebacks, Road to Nowhere, einen Spezialpreis zu überreichen. Ein Filmbesessener huldigte seinem haunting ghost: einem Desperado der Filmgeschichte, der sich selbst einmal, in einem Interview, irgendwo «zwischen George Lucas und Ingmar Bergman» verortete. Alt wirkte der heute 78 Jahre alte Mann, Hellman, geboren als Monte Jay Himmelman in New York, keineswegs, als er neben Tarantino stand, und mit dem Begriff Mentor hätte er ohnehin seine Probleme. Der Schalk sitzt ihm immer noch im Nacken, der Schelm schaut ihm immer noch aus den Augen, auch aus seinen Facebook-Augen. Dort ist Hellman ein offenes Buch, wie ich feststellen konnte, dort sucht er regen Austausch mit seinen Fans oder postet schelmische Sätze, um andere Sätze zu provozieren: «If you haven’t seen Road to Nowhere, what do you talk about?», ist dort zu lesen. Oder: «My wife and I were happy for 20 years. Then we met.» (Rodney Dangerfield) Hellman ist kein Weiser, er ist nicht einmal ein wütender Weiser. Hierfür war er immer schon: zu post-idealistisch erschöpft, ein Dandy des New Hollywood, dem viele Gesten, auch die anti-heroischen, viel zu triumphal inszeniert waren.

In Sachen Präzision, Akribie und Medienreflexion könnten es Hellmans niedrig budgetierte Filme problemlos mit den Großen aufnehmen. Bloß wollten sie das nie. Vielleicht hat Hellman auch das bei seinem Förderer, Roger Corman, gelernt. Hellman hatte nie seinen Durchbruch, nie sein Blow Up, sein L’année dernière à Marienbad oder Caché, und seine Sabbaticals so zu vermarkten wie Terrence Malick versteht Hellman schon gar nicht. Er hatte jedoch seinen Cockfighter (1974), in dem er mit ethnographischer Akribie in die Welt des Hahnenkampfes eintauchte und Claire Denis einen wichtigen Referenzfilm lieferte. Auch Kelly Reichardt und Romuald Karmakar zählen ihn zu ihren Einflussgrößen.

 

Warren Oates in Cockfighter (1974)

© Anchor Bay

James Taylor, Dennis Wilson & Laurie Bird in Two-Lane Blacktop (1971)

© Universal Pictures

 

Seit Baudelaire, spätestens seit The Usual Suspects ist bekannt, dass die größte List des Teufels darin besteht, uns glauben zu machen, dass es ihn nicht mehr gäbe. Hellman, the man who wasn’t there, war bei genauerem Hinsehen: almost everywhere: Second-Unit-Regisseur bei Sam Fullers The Big Red One und Paul Verhoevens RoboCop; er schrieb das ursprüngliche Drehbuch für Peckinpahs Pat Garrett and Billy the Kid (1973), fungierte als Cutter für Peckinpah und war derjenige, der als Produzent Tarantino zu seinem Erstling, Reservoir Dogs, verhalf.

Hellman ist on the road (to nowhere) again. Die Selbstironie, mit der dies geschieht, sucht ihresgleichen. Im Titelvorspann zu Road to Nowhere taucht nicht einmal Hellmans Name auf, sondern der Name: Mitchell Haven. Davor schon passiert Erstaunliches: Wir sehen einen Laptop und eine gebrannte DVD mit der Aufschrift «Road to Nowhere». Dann taucht eine Hand auf, die DVD wird in den Laptop geschoben: ein Film-im-Film beginnt. Die Kamera beginnt zu zoomen, auf den Bildschirm zu, immerzu, in ihn hinein, bis der Film-im-Film bildfüllend wird und sich von seiner Notebook-Rahmung (und somit: seiner Markierung als Pixel-Bild) emanzipiert. Trotz der vorgetäuschten Ent-Digitalisierung des Bildes – die vor allem dann täuschend wirkt, wenn der Film eine Leinwand erhält – bleibt das Bild bis in jede Pore: ein digitales Bild, aufnahme- wie abspieltechnisch. Ganz nebenbei, ganz unprätentiös liefert uns Hellman eine kleine technologische Revolution: Road to Nowhere ist der erste Film, der zur Gänze mit einer digitalen Spiegelreflex, einer Canon 5D MARK II gedreht wurde. Zumindest behauptet das Hellman (wohingegen andere diese Volte Dupieuxs Rubber zuschreiben). «The great thing about this camera is you don’t need permits because no one knows you’re shooting […] They thought we were tourists. […] You can shoot 12 minutes at a time. […] It’s fantastic. And it looks like a still camera.» (Hellman)

Wenn sich Roadmovies über den Blick aus dem Fenster, die Rahmung, definieren, dann haben wir es auch hier, gleich zu Beginn, mit einem Roadmovie zu tun. Gleichzeitig sehen wir The Searchers à la Hellman: keine Tür, die sich auf das Monument Valley öffnet und den dunklen Raum, den Kinoraum, hinter sich lässt, nein: ein Laptop in einem Zimmer, der zum Fenster wird und unseren Blick eintauchen lässt: in ein anderes Zimmer, ein Schlafzimmer. Dann erst setzt der Titelvorspann des Films ein. Wie gesagt: ohne Hellman. Und für einen kurzen Moment ist es so, als grinse er wie Lewis Carrolls Cheshire Cat über dem Film, im Verschwinden sich zeigend, im Sich-Zeigen verschwindend. Road to Nowhere, der Titel von Hellmans Film, gehört dem Film-im-Film: Mitchell Havens Film. Das Drumherum – die Dreharbeiten, das Casting, der Festivalbetrieb, die Erzählungen des Regisseurs Haven (Tygh Runyan) über das, was allmählich schief lief, bei diesen Dreharbeiten, weil sich die Vorgeschichte seines Films und der Versicherungsagent Bruno einzumischen begannen … all das bleibt erstmal titelloser Überschuss: ein Making of. Wir sehen einen Film, dessen Entstehung wir sehen. Ein System aus zerbrochenen Spiegeln und vielfach gebrochenen Echos baut sich auf, aus Elementen von Spuren und Spuren von Elementen, vor allem: des Film Noir. Es geht um (Genre-)Wiederholungen, Variationen im Seriellen und im Zyklischen. Momente der Ununterscheidbarkeit schleichen sich ein, ontologische Differenzen werden eingerissen und neu verschoben.

Es gibt viele andere Filme in diesem Film. Im Internet will jemand 60 Referenzen gezählt haben, von Double Indemnity über Vertigo bis 8 ½. Manche Filme werden direkt zitiert, als Filmausschnitte: Mit seiner Hauptdarstellerin und Geliebten, Laurel (Shannyn Sossamon), einer Femme Fatale in seinem Leben wie in seinem Film, schaut sich Regisseur Haven immer wieder Klassiker an, Bergmans Siebentes Siegel, Sturges Lady Eve, Víctor ­Erices Der Geist des Bienenkorbs. Beide liegen sie nach Drehschluss da, in ihrem Hotelzimmer, und träumen mit offenen Augen, mit Augen, die sich den Traum eines Anderen teilen, weil sie gemeinsam auf einen Bildschirm schauen. Nie scheinen sich die Figuren näher als in diesen Momenten (des Schauens).

«What a fucking masterpiece» wird Regisseur Haven am Ende jedes Films sagen und sie wird weinen. «Let’s sing those love songs with our movies in our heart», wird Countrylegende Tom Russell zum Nachspann des Films singen. Road to Nowhere atmet Filmgeschichte, doch atmet er sie nicht ein, auch nicht durch: sondern aus, einer écriture automatique des Unbewussten vergleichbar, die Filmgeschichte in schillernd-schelmische B-(Movie-)Seiten verwandelt. Immer wieder wurde Hellmans Neuer mit Lynch verglichen. Das Filmplakat scheint das nahezulegen. Auch scheint Hellman Lynchismen wie Duftnoten oder falsche Fährten auszustreuen, etwa in Gestalt seiner Figuren, die teilweise wie abgenutzt-schäbige Wiedergänger aus Mulholland Drive aussehen. Und die Idee, dass alle Bilder, wie auch Häuser und Menschen, eine Rückseite haben (wie Lukas Foerster schrieb), teilt Hellman mit Lynch, mit dem Film Noir sowieso. Nie jedoch ist es ein mystery man oder auch ein Zwerg hinter dem Vorhang, der bei Hellman die Rückseite der Bilder bewohnt. Eher schon sind es Laptops, die das Off bevölkern und dem Aufgenommenen drohen, es schon längst in andere Netzwerke und Plattformen eingespeist, ausgefranst haben. Wo sich bei Lynch jedoch ein panpsychisches Myzel entspinnt, bleibt Hellman glasklarer Strukturalist, Materialist und Minimalist, vor allem auch: ein Realist des Filmemachens, für den die Kamera das ist, was sie ist, nicht mehr: eine Apparatur, die Bildfelder festlegt und hierbei Nicht-Sichtbares produziert.

Wir sehen ein Filmteam, das einen Film dreht, mit einer Kamera desselben Typus, mit der uns auch Hellman dieses filmende Team zeigt: einer Canon 5D Digitalkamera. Etwas sehen wir jedoch nie: jene Kamera, die das aufnimmt, was wir gerade sehen, egal, ob wir eine weitere Kamera im Bild sehen oder nicht. Oder doch? Als Mitchell Haven für die Dauer von nur ein paar Sekunden seine Canon dorthin richtet, wo sich Hellmans Canon befindet, können wir das sehen, was Havens Canon sieht: die radikale Außenseite des Films, Hellmans Crew samt Kamera. Erst in diesem Moment erhält Hellmans Film den Titel von Mitchell Havens Film: Road to Nowhere. Eine Namensgebung. Das Größere wird vom Kleineren geschluckt, wie in einer Chinese Box. On the road, on the set gibt es kein Außerhalb des Sets mehr.

Road to Nowhere ist der vielleicht schönste und traurigste Film des vergangenen Jahres, nicht zuletzt, weil er getragen ist von einer eigentümlich berührenden Erschöpfung, die frei ist von Nostalgie oder selbstgerechtem Pathos, sondern erfüllt von einer Ahnung davon, dass die Utopie des Nowhere immer schon im Now-Here nistet und die schönsten und größten Momente sich dort herausgestellt haben werden, wo sie übersehen worden sind. Was die Bilder versprechen – und sie scheinen viel zu versprechen –, liegt im Hier und Jetzt der vorbeiziehenden Bilder (oder vorbeimutierenden Pixel) zum Greifen und Übersehen nahe. Auf einen finalen Plot Twist zu warten, würde bedeuten, alles zu übersehen. Beim ersten Mal erschien mir der Film rätselhaft wegen des Splitter-Plots. Beim zweiten Mal war mir dieser Splitter-Plot glasklar (wie auch: egal) und das Mysterium des Films schien woanders zu liegen. Nämlich darin, dass die Bilder tatsächlich auf nichts hinaus wollen, weil sie, einem Haiku vergleichbar, das Mehr-Wissen mit sich bringen, dass sich jenes masterpiece, auf das Mitchell Haven so obsessiv hinaus will, schon längst im unauffälligen Nebenbei jedes Bruchstücks, jedes pieces on the road, realisiert oder auch: erübrigt hat. Seit kurzem ist Road to Nowhere auf Blu Ray erhältlich. What a ­fucking master­piece! 

Monte Hellman: Road to Nowhere, Montery Video 2011