serien 2009

Baltimore: fait social total Was The Wire war

Von Daniel Eschkötter

The Wire

© HBO

 

Eine halbe Stunde vor dem Ende der Fernsehserie The Wire, in der zehnten Folge der fünften Staffel, genau nach 60 Minuten, genau eine Minute lang sieht man nur die Stadt – Baltimore, Maryland – in zwölf kurzen, leicht bewegten Totalen: Downtown, die Skyline, das Polizeihauptquartier, das Gebäude der Baltimore Sun, City Hall, den Inner Harbour, die Ostküstenautobahn I-95, den Hafen; Bilder des Vergehens von Zeit, der kurzen Schauwerte, nachgeholte Establishing Shots gleichsam; hier ist die Serie zugleich bei sich, bei ihrem Ort, ihrer Stadt, und doch fern von dem spezifischen Aufriss und Entwurf von ihr, den sie in 60 Folgen entfaltet hat.

Diese Bilder sind ein letztes Atem­holen für das Ende der Serie, ihr Eingehen in die Geschichte. Die letzte halbe Stunde von The Wire, die letzten vier Minuten zumal – in ihnen läuft noch einmal die Version des Tom Waits-Titelsongs Way Down in the Hole, die die erste Staffel eröffnet hatte – runden ab und breiten dennoch aus: sie aktualisieren den strukturellen Defätismus der Serie, zeigen, wie das Leben weitergeht, wie es sich wiederholt, wie Figuren Plätze einnehmen, die in der institutionellen und narrativen Struktur vakant geworden sind – und schließlich nur noch Leute, Menschen, faces of Baltimore, jeder narrativen Hegung entkommen. Diese Schließung wiederholt die Schließungen einer jeden Staffel und zieht ihre Summe, sie realisiert emphatisch und auch plakativ etwas, was The Wire vielleicht von allen anderen Serien unterscheidet: ihr narrativiertes Konzept von instituiertem Leben, einen narrativ verfassten Determinismus des Sozialen. Das Allgemeine und das Be­sondere, ein anderes Amerika bzw. die postindustrielle amerikanische Stadt und West Baltimore, East Baltimore, Locust Point usw., der systemische Blick auf die Institution und dessen Empathisierung, die Typisierungen und die Anhängigkeiten an Figuren bilden das gespannte Arrangement von The Wire. In ihm hat das institutionell determinierte, beinahe entleerte Subjekt seinen Platz genauso wie das große Individuum, das in einem gewollten Augenblick die Souveränität über das Erzählt-Werden von der Institution erlangt, sich widersetzt, das sich – wie der drogensüchtige Bubbles in der letzten Staffel buchstäblich – selbst zu erzählen beginnt und das doch immer und unausweichlich Objekt bleibt der großen, der epischen Autorenerzählung, die The Wire war.

Die letzte Staffel rechnet ab mit den Austreibungen der Qualität aus dem Printjournalismus, mit dem Wertverlust journalistischer Tugenden – Expertise, Langmut, Erfahrung, Neugier. «Fuck it. I might as well get to work on the Great American Novel», sagt Roger Twigg, ein Polizei­reporter der Baltimore Sun, als er mit einer Abfindung «freigestellt» wird (Staffel 5, Folge 3). So auch der Großerzähler / Creator von The Wire, der ehemalige Sun-Polizeireporter David Simon; und mit seinem Co-Creator Ed Burns – 27 Jahre in Baltimores Institutionen, 20 als Mordermittler, sieben als Lehrer – und einigen Great American Novelists: George Pelecanos, Richard Price, Dennis Lehane, hat er diesen Roman geschrieben, in Form von Teleplays, gesättigt mit Realien, Soziologie, Stadtgeschichte, Berufs-, Lebens-, Baltimore­-Erfahrungen, einem präzise konstruierten Sprechen der Straße. Gespielt wurde dies von weitest­gehend unbekannten, weitestgehend großartigen Schauspielern, auch von Laien, die selbst aus Baltimores Institutionen stammen; inszeniert in zumeist diskret realistisch markierten Bildern irgendwo zwischen Super 16 und 35 mm und dynamischen Einstellungen, mit Bodenhaftung, nahe an den Figuren, ohne ostentativ subjektiv zu sein, nur selten durch größere Raum­greifungen, Schärfeverlagerungen oder aufwendige Bewegungen ausge­zeichnet.

The Wire findet im Seriellen das Systemische auf, serialisiert das Systemische, in Ausdifferenzierungen und Ereignis­ketten, bei denen mitunter deutlich markiert wird, dass sie nicht selbstverständlich, nicht kausal zu verstehen seien. Der Name der Serie verweist entsprechend nicht nur auf die leitmotivische Abhörtechnik, die Fälle in Gang bringt und eine Evolution von Kommunikationstechniken ins Werk setzt: über Pagercodes und öffentliche Telefone (Staffel 1), konventionelle Mobiltelefone (2), Burners, d. h. Einwegmobiltelefone, die in unterschiedlichen Läden gekauft, mit Nummern programmiert und nach kurzer Zeit wieder kollektiv entsorgt werden (3), den Rückzug auf direkte Kommunikation an ständig wechselnden freien Plätzen und auf Botensysteme (4), schließlich per MMS verschickte Bilder mit verschlüsselten Koordinaten für Treffen (5). Der Titel bezeichnet auch das soziale Band, das Drahtseil, auf dem alle tanzen müssen. It’s all in the game. The Game, das ist Drogenhandel als fait social total.

Beim militärisch hierarchisierten Streetlevel-­Drogengeschäft des Clans Avon Barksdales an der Straßenecke, auf den Innenhöfen, in und vor den ­Towers, den Hochhäusern in den schwarzen Sozial­siedlungen West Baltimores, mit seiner Organisation und Kommunikation, den Wiederversorgungen, den re-ups aus den ständig umziehenden Lagern, den stash houses; beim Polizeiapparat der Stadt, bei den Makro- und Mikrophysiken der Macht, den Mechanismen, den Überwachungsstrategien, ganz buchstäblich den Gängen und (Um-)Wegen der Ermittlungen und Prozessierungen beginnt The Wire in der ersten Staffel. Der logistische Blick wird in der zweiten Staffel erweitert und auf den Hafen Baltimores, die Hafenarbeiter als aussterbende Klasse gerichtet, den Kampf ihrer Gewerkschaft um eine Lobby und ihre Verstrickung in den Schmuggel, der unter anderem den Osten Baltimores mit Drogen versorgt. In West Baltimore, bei der Barksdale-Organisation hingegen gibt es Probleme mit dem re-supply, der Wiederversorgung, und der Qualität des Stoffs. Barksdales Nummer zwei Russell «Stringer» Bell, der versucht, die Geschäfte nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten straffer zu führen, bei dem der Stoff nur noch product heißt, tritt daraufhin Territorium, «Grundbesitz», gegen Ware ab und gründet schließlich die New Day Co-Op, eine Kooperation mit den anderen Drogenbossen der Stadt.

Zu Beginn der dritten Staffel fallen die Türme, die Towers. Die Umstrukturierung der Viertel setzt auch das Drogengeschäft unter Reaktionsdruck: Während Avon Barksdale, seinem konservativ-tautologischen Diktum «the game is the game» folgend, noch in gleichsam geopolitischen Registern denkt und den Kampf um ­Territorium, um Straßenecken, Verkaufs­gebiet wieder aufnehmen will, plädiert der Betriebswirtschaftsstudent am Community College «Stringer» Bell für Flexibilität und gibt als Devise aus: «We done worryin’ about territory. […] It’s about product» (3.1). Lokalpolitische Verstrickungen und Ambitionen, Bauvorhaben, Immobiliengeschäfte und Korruption – und «Stringer» Bells Versuch, darüber legit, zum sauberen Geschäftsmann zu werden, geraten in den Blick. Die Ermittlungen können dem Imperativ follow the money! zwar nicht gleichfalls immer folgen, die Serie muss, darf hingegen nicht Halt machen vor den Türen des Rathauses, des Polizeipräsidenten, des Senators. Sie sucht sich neue Akteure in der Stadtverwaltung, zeigt die Zahlen­spiele der Polizei, die Einflussnahme der Politik, die in Wahlkampfzeiten – also immer – gute Statistiken braucht. Mit ­Sympathie und doch in aller Ambivalenz wird dagegen das «Hamsterdam»-Experiment des Bezirkspolizeichefs «Bunny» Colvin vorgeführt, der in einem verlassenen Teil des Viertels den Drogenhandel toleriert und konzentriert, um den Rest seines Bezirks wieder bewohnbar und gewaltärmer zu machen und die sinnlosen Routinen der Drogenhändler-und-Gendarm-Spiele aufzubrechen. The Wire wendet sich schon darüber noch stärker den Subalternen im Straßengeschäft zu, dem drogensüchtigen ­Bubbles, den Kindern und Jugendlichen, die an der Straßenecke sozialisiert und gleichsam ausgebildet werden.

In der vierten Staffel sucht die Serie sie in der Schule, mit ihnen den Schulbetrieb an einer Public Middle School auf, an der der ehemalige Polizist Roland ­Pryzbylewski als Lehrer und der inzwischen entlassene Major Colvin als Projektleiter arbeiten. Sie bleibt weiterhin bei den Karriere- und Reformplänen des weißen Stadtratsabgeordneten Thomas Carcetti, verfolgt die demokratische Vorwahl (und d.  h. in der traditionell demokratischen Stadt Baltimore faktisch die Wahl) zum Bürgermeister, Carcettis Weg ins Rathaus und in der fünften und letzten Staffel seine Ambitionen auf das Gouverneursamt und die schlechten Statistiken und Budgetdefizite, die seine Politik steuern. Diese Politik und ihre Effekte treten ein in eine Konfiguration, bei der die Plotkonstruktion und der Furor gegen die Neoliberalisierung des Journalismus sehr schwer auf der Serie lasten, mit fabrizierten Obdachlosenmorden bei der Polizei und korrespondierenden erfundenen Geschichten bei der Baltimore Sun, die als Institution und Schauplatz eingeführt wird, in der typisierten Konfrontation eines journalistischen Ethos mit einem keiner Wahrheit verpflichteten ­Karrierismus.

In der politischen, polizeilichen und journalistischen Instrumentalisierung der Obdachlosen manifestiert sich auch ein die Serie prägender motivischer und struktureller Zug in plakativer Weise. The Wire führt die gesellschaftlichen (Un-) Sichtbarkeitsverhältnisse und ihre Paradoxien immer wieder exemplarisch vor: bei den Bossen und Gangstern, die der Polizeiführung und der Presse nicht einmal namentlich bekannt sind; bei dem schwulen Gesetzlosen Omar Little, der die Dealer beraubt, auf den Straßen Baltimores sein Thema Farmer in the Dell pfeift, zur Legende wird – nicht genug, um nach seinem Tod der Zeitung eine Notiz wert zu sein, nicht ausreichend, um nicht noch im Leichenschauhaus verwechselt zu werden; bei einem ­Security Guard, der den aufsteigenden Drogenboss Marlo Stanfield bei einem Ladendiebstahl sieht und zur Rede stellt – «act like you don’t even know I’m there» «I don’t» (4.4) – und der deshalb zu einem unsichtbaren, namenlosen Toten wird. The Wire ist ganz fundamental im Dissens: mit den Unsichtbarkeits- und Ungleichheitsverhältnissen, mit den Markt­logiken, den Entsolidarisierun­gen. Der Dissens wird aktualisiert in einer Polyphonie, in einer Gerechtigkeit der Stimmenverteilung – so selten das Leben in The Wire auch «gerecht» sein mag, «life just be that way». Während zumindest auf der Seite des Gesetzes und der Politik viele Machtspieler und Einflussnehmer kaum mehr sind als Typen und Karikaturen, erhalten zahlreiche Figuren eine Integrität, wer­den Materialitäten und Entwürfe des urbanen, des minoritären Lebens versammelt.

Gegen die Karrierismen, die bürokratischen Hürden, die Korsette der statistischen Stadtmanagementsysteme (CompStat), die normierten Tests setzt The Wire eine den Institutionen vorgängige Naturgesetzlich­keit und -gesetztheit der Professionen (­natural po-lice) und kleine Bildungs- und Bürgergemeinschaftsutopien, Pädagogiken, die weniger an book smart denn an street smart glauben und appellieren (darin ist The Wire auch der Gegenentwurf einmal nicht zu dem Narrativ der permanenten Subjektivierung des großen Individuums Tony Soprano, sondern zu einer anderen großen systemischen Erzählung Amerikas, die nur eine Autostunde entfernt spielt: The West Wing). Mit the game, seinen ­Regeln und Anforderungen werden Schach (D’Angelo Barksdale), Mathematik (der Kleinstdealer Wallace, Pryzbylewski), gesellschaftliche Codes («Bunny» Colvin) erläutert und unterrichtet, wird Literatur verstanden (D’Angelo) und griechische Mythologie zitiert (Omar). Die Figuren rettet dies kaum jemals, denn die Rückseite des Dissenses ist Defätismus, die Überzeugung, dass man aus dem Ringen mit den Institutionen, ihren Logiken und Logistiken, auf nationaler, bundesstaatlicher, städtischer Ebene, in den Projects, den Schulen, bei der Polizei, selbst im Rathaus genauso wenig siegreich hervorgehen kann wie aus dem War on Drugs, mit dem sich seit dem War on Terror, «since those towers fell» (1.1), schon längst keine große Politik mehr machen lässt.

The Wire organisiert den Defätismus und arrangiert den Dissens, das ästhetische Prinzip ist ein emphatisches Prinzip der Organisation, durchaus auch als Politik der Montage. In einer der so seltenen wie prägnanten Szenen, in denen die Bildtonmusik die Tonspur ergreift – hier Johnny Cashs Walk the Line –, wird diese Konfigu­ration doppelt ausgestellt – und genossen: «Fuckin’ a[wesome]», sagt Roland Pryzbylewski, als er auf das große Ganze schaut, nachdem er den Fall, die Akteure und Objekte der Ermittlung am Hafen an zwei Stellwänden angeordnet hat und nachdem all dies, die Ausdifferenzierung des Falls in einer ­Montage der Ermittlungs- und Überwachungspraktiken gezeigt wurde (2.10). «It’s beautiful.» «The discipline of it», sagen Cedric Daniels und Lester Freamon am selben Ort, als sich ihnen das Burner-Kommunikationssystem erschließt (3.8). Die Schönheit der Disziplin und des systemischen Kalküls – der Ermittlungen wie des Verbrechens, sei es auch so grausam wie die in verlassenen Häusern verübten Morde der Stanfield-Crew: Das ist natürlich auch die Schönheit der Serie selbst, die den großen Aufriss und den singulären, sich nicht fügenden Einsatz balanciert.

Der erste Dialog der Serie ist ein solcher Einsatz, singulär und doch exemplarisch; er zitiert eine Anekdote aus David Simons Buch Homicide: A Year on the Killing Streets von 1991. Es geht um einen Toten, dem nicht zu helfen war, der immer wieder beim Würfeln auf der Straße mit dem Geld davonrannte. «If Snot Boogie always took the money, why’d you let him play?», fragt der Mordermittler Jimmy ­McNulty. «Got to. This America, man.» Die freiheitliche Ordnung generiert ein absurd anmutendes Ritual und eine Ökonomie wider die ökonomische Vernunft. McNulty, «natural police» und «permanent pariah», reagiert anfangs nur verwundert auf diese kompromisslose Logik, das scheinbar unverstandene Freiheitsprinzip, dieses Motto, das irgendwie auch immer für ihn gegolten haben wird. The Body of an American, so heißt das Lied der Pogues, das die Polizisten Baltimores immer bei ihren Totenfeiern in der Bar anstimmen, während der Besungene tot und in Uniform auf dem Billardtisch liegt, und das auch McNulty, wenngleich lebendig, in der letzten Folge zu hören bekommt. «The man of wire || Who was often heard to say || I’m a free born man of the USA», endet es. The Wire scheint die Verse gleichzeitig zu verspotten und emphatisch zu deklamieren. Die absurde Freiheit zum Mit- und Gegenspielen, auch zum Tode, ist ihre grundlegende Existentialie. Trotz der Identität der institutionellen Rollen mit sich: The Body of an American, das ist Snot Boogie, das ist Jimmy McNulty, Bubbles und Thomas Carcetti, Shakima Greggs und der Polizeipräsident Burrell, das ist das singulär-kollektive «you», das in den Tom-Waits-Versen adressiert wird, die in unterschiedlichen Interpretationen zu unterschiedlichen Montagen die Titelsequenzen von The Wire begleiten: «When you walk through the garden || you gotta watch your back || well I beg your pardon || walk the straight and narrow track || if you walk with Jesus || he’s gonna save your soul || you gotta keep the devil || way down in the hole.» Der appellative Song wird hier zur Allegorie auf die Institutionen, ihre Verführungen und Abgründe, über die freilich keine einzelne leitende Hand hinwegzuhelfen vermag. Kein Heil, nur Vielstimmigkeit und Mannigfaltigkeit, die Analyse des body politic und der andere Gesellschaftskörper, der The Wire war. Ihm ist am Ende der siebten Folge der letzten Staffel ein vorgezogenes Schlusswort gewidmet. Die Ermittlerin Kima Greggs bringt den Sohn, den sie mit ihrer Lebensgefährtin hat, ins Bett. Sie sitzen am Fenster, sagen zunächst dem Mond und den Sternen «Gute Nacht» und schließen dann die Polizisten ein, die Abhängigen, die kleinen Dealer, Gangster und Betrüger: «Good night, po-pos. Good night, fiends. Good night, hoppers. Good night, hustlers. Good night, scammers. Good night to ­everybody. Good night to one and all.»