dokumentarfilm

Nord-Süd-Passage Das Gesamtwerk des großen Dokumentaristen Johan van der Keuken

Von Bert Rebhandl

Complete Johan van der Keuken

© Idéale Audience International

 

Ein Mann verlässt das Haus. Er prüft die Wetter­lage, denkt an seinen Sohn, dann geht er in die Stadt. In Amsterdam ist ein Haus besetzt worden. An jeder Ecke der Stadt, an jedem Tag bietet sich eine Gelegen­heit, einen Film zu beginnen. Und so mischt Johan van der Keuken sich unter die «Kraker», die Hausbesetzer, sieht ihnen eine Weile dabei zu, wie sie das Bürogebäude in zentraler Lage wohnlich machen. Er hört sich ihre Geschichten an, filmt die Polizisten, die unten aufmarschieren, und sucht nach anderen Orten in der Stadt, an denen Menschen Zuflucht suchen, die keinen Ort zum Wohnen haben. Eine Gruppe Marokkaner hat in einer Kirche eine Bleibe gefunden, nun müssen sie wieder hinaus. Die Aufenthaltsgenehmigung in den Niederlanden ist an eine dauerhafte Beschäftigung gebunden, die Männer aber sind billige Arbeitskräfte, die nirgends lange bleiben können. Sie sollen das Land verlassen.

Johan van der Keuken nimmt dies zum Anlass, sich selbst auf den Weg nach Süden zu machen. De Weg naar het zuiden, so heißt sein Film aus dem Jahr 1981 mit dem niederländischen Originaltitel. Die Sprache ist wichtig, denn so international, ja global das Gesamt­werk von van der Keuken ist, so sehr ist es doch an diese kleine Sprache und an dieses Land in Nordwesteuropa zurückgebunden. Es ist vielleicht auch der Marginalität des Niederländischen zu verdanken, dass nun ausgerechnet dieses Werk in einer einmaligen Weise auf DVD erschlossen wurde: Eine Ausgabe in fünf Boxen, untertitelt in Englisch, Französisch und manchmal sogar Spanisch, ergänzt durch Dokumentationen über den 2001 verstorbenen Filmemacher.

Das Werk von van der Keuken ist enorm, es gibt viele Möglichkeiten, es zu betreten. De Weg naar het Zuiden (Der Weg nach Süden) ist nicht der schlechteste Zugang. Man würde meinen, dass dieser Weg nach Marokko führt, wie es sich aus Amsterdam und ­dieser anfänglichen Begegnung mit den Arbeitsmigranten nahelegt. Doch die Devise dieses Films (und dieses Werks) ist eine andere: «Ich fahre von Gesicht zu Gesicht.» So wird die erste Station schon in Paris gemacht, wo in dem Viertel Goutte d’Or ein Mann namens Ali von seinem Motorradunfall erzählt, der ihn dazu zwingt, seither schwere Psychopharmaka zu nehmen. Er sitzt in einem kleinen Zimmer und versucht, sich mit einem Fernkurs die Verwendung einer Schreibmaschine beizubringen.

Von dieser Art sind die kleinen Schritte im Leben, die van der Keuken in einer globalen Situation interessieren, die von «waanzin en winst» bestimmt ist, von Wahnsinn und Profitstreben. Auf dem Weg von Frankreich nach Italien macht er kurz bei einem alten Paar in den Bergen halt, das einen Lavendellikör herstellt, in einem Verfahren, das sich bald nicht mehr lohnen wird. In Rom trifft er eine Frau, die ihre außerordentliche Lebensgeschichte als Tochter eines italienischen Kolonialbeamten in Eritrea und einer einheimischen Frau erzählt. 1923 kam sie nach Italien, eine «indesiderata», eine unerwünschte Person «di colore». «Una negra.» Sie ging in ihre afrikanische Heimat zurück, mit den Kindern. 1972 kam sie ein zweites Mal zurück, seither lebt sie in Rom, immer noch eine Außenseiterin, eine Zeugin der europäischen Expansionsgeschichte.

In Kalabrien trifft er einen Priester, der gegen die Mafia aufsteht. In Kairo erhält er Zugang zu einer Familie, die zum Opferfest auf dem Flur ihrer Wohnung ein Schaf schlachtet. Der Sohn taucht seine Hände in das Blut und hinterlässt auf der Wand einen blutigen Abdruck – das soll Glück bringen für das neue Jahr. Als der Film beinahe zu Ende ist, tritt der Nachtwächter Fawzi mit seiner Familie vor die Kamera. Ein Armer. Wird er für diese Szene bezahlt? Die Diskussion darüber ist schon die Szene. Johan van der Keuken beschließt De Weg naar het zuiden mit dem Satz: «Es ist schwer, die Wirklichkeit zu berühren.» Nach Marokko ist er nicht gekommen. Der Süden ist größer als ein Nationalstaat im Maghreb.

Die Welt ist nach seinem Verständnis eine «Tretmühle», angetrieben von einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung von Ressourcen beruht. Die Menschen sind die wichtigste dieser Ressourcen, aber ihnen fällt auch immer wieder etwas ein, womit sie die Tretmühle ins Stocken bringen können. Van der Keuken zeigt das eine wie das andere, die technokratische Rationalität und die menschliche Widerspenstigkeit. Er hat Entfremdung und Lebenskunst gefilmt, (verwaltete) ­Utopien und das nackte Leben, Eigensinn und immer wieder den Jazz als seine persönlich bevorzugte Form der Freiheit. 1960 hat er seinen ersten Film gedreht, ­Paris à l’aube, eine zehnminütige, zur Musik montierte Stadtimpression von Paris, noch ganz unter dem Eindruck von Joris Ivens. 2000 brachte er seinen filmischen Abschied heraus, De Grote Vakantie, eine Weltreise, die schon im Zeichen seiner Krebserkrankung stand. Dazwischen liegt dieses weitverzweigte Werk, das nun ohne Probleme in ein Regal passt. Fünf Boxen. Fünf Booklets.

 

De Grote Vakantie (1999)

© Johan van der Keuken / Total Film Home Entertainment

 

Fünf Fotografien, die einen Mann zeigen, der ganz jung beginnt und irgendwann plötzlich alt ist, 30 Jahre verheiratet, und erst wieder jugendlich wirkt, als er dem Arzt gegenüber sitzt, der ihm die Bedeutung seines gestiegenen PSA-Werts, eines Tumorindikators, erklärt. Eine der möglichen Therapien schließt er aus, sie würde ihn seiner Sexualität berauben. Die Orte, die van der Keuken in De Grote Vakantie aufsucht, sind solche, die er auf seinen vielen Reisen noch nicht gesehen hat, und solche, von denen er noch etwas wissen will. In den Klöstern des Himalaya fragt er die Mönche nach ihrer Meinung zu seiner Krankheit. In Bhutan findet er ein Land, das sich dem «waanzin en winst» noch weitgehend verschlossen hat. In Burkina Faso findet er die Ausgebeuteten des Weltsystems.

Er hat verschiedene Versuche gemacht, sich der Totalität dieses Systems zu nähern. In I love $ (1986) versuchte er, die Finanzwelt vor die Kamera zu bekommen. Er sprach mit Händlern in Genf, einem Manager der HSBC in China, einem Broker in New York. Wie auch De Weg naar het Zuiden ist dies ein Film, der sich ablenken lässt, der in Manhattan eine Hausbesetzer-Community trifft und in einem puertoricanischen Lokal den amerikanischen Traum sucht, in Hongkong einer Familie beim Essen zusieht (dazu läuft der Fernseher mit einer chinesischen Seifenoper) und zwischendurch in Amsterdam den Winter auf sich wirken lässt. Seine Begeisterung für Musik und Kunst ließ van der Keuken regelmäßig von orthodoxeren Formen des dokumentarischen Erzählens abschweifen. Es geht ihm selten um eine Recherche, die von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel führt, häufiger werden seine Filme fast unmerklich zu Collagen oder zu Kontemplationen der conditio humana in einem globalen Zusammenhang.

Anders lässt sich kaum benennen, was zum Beispiel in Het Witte Kasteel geschieht, dem Mittelteil seiner sogenannten Nord-Süd-Trilogie (zusammen mit Dagboek, 1972, und De Nieuwe Ijstijd, 1974). Auf der spanischen Insel Formentera entwickelt sich in diesen Jahren gerade der Tourismus. Busladungen deutscher Ferien­gäste werden an einen Swimming Pool gebracht, der mit wenig Rücksicht auf die natürliche Umgebung in die Landschaft gebaut wurde. Es wirkt einigermaßen ­willkürlich, dass van der Keuken diese Aufnahmen mit Bildern in Beziehung setzt, die er in Columbus, Ohio, gedreht hat, vor allem mit Jugendlichen in einem Sommercamp. Die Touristen kommen kaum zu Wort, wenn, dann ist nur ihr Gerede am Rande zu hören. Stattdessen filmt van der Keuken lange das Brotbacken der Einheimischen, später ist aus dem Radio (nun in den USA) ein Werbejingle für eine neue Produktlinie einer industriellen Bäckerei zu hören.

Die Jugendlichen in Ohio dagegen kommen ausführlich zu Wort, sie erzählen vom alltäglichen Rassismus und von ihren Versuchen, ihre frühe Elternschaft (viele Mädchen haben mit 14 Jahren schon Kinder bekommen) zu bewältigen. Diese Fragmente werden gelegentlich durchaus didaktisch gegeneinander gehalten, aber die Stimmung des Films ist nicht die von Argumentation. Sie wird von den langen Fahrtaufnahmen geprägt, in denen van der Keuken das White Castle umkreist, ein Fast-Food-Restaurant in einer typischen amerikanischen Gewerbelandschaft, das mit seiner weiß getünchten Festungsarchitektur seltsam unwirklich dem nächtlichen Regen trotzt. Die Menschen, die drinnen sitzen und essen, wirken entrückt, als wären sie für das richtige Leben schon gestorben. Der einzige Begriff, der die Atmosphäre von Het Witte Kasteel trifft, ist Trauer. Trauer über «Schmerz und Dunkelheit», die Zustände, in denen die meisten Menschen ihr Leben erfahren, «glaube ich», sagt van der Keuken.

 

Beppie (1965)

© Johan van der Keuken / Total Film Home Entertainment

 

Er spricht häufig in seinen Filmen, meistens ein paar einleitende Worte, die das Projekt skizzieren, zwischendurch ab und zu Reflexionen, Aphorismen, Notate. Die sanfte Stimme und das niederländische Idiom sind ein Markenzeichen, und zunehmend werden seine Stellungnahmen persönlicher. Er gewinnt im Lauf seiner Karriere die jugendliche Energie zurück, die seine frühen Filme ausgezeichnet hatte: Beppie (1965), das Porträt eines Mädchens aus einer kinderreichen Familie in Amsterdam, ging von einer Fotografie von Ed van der Elsken aus, mit dem er in den 60er Jahren viel zu tun hatte. Das gemeinsame Interesse an der sozialen Vielfalt in der niederländischen Hauptstadt, das bei van der Keuken bis zu dem großen Panoramafilm Amsterdam Global Village (1996) führte, zeigt sich hier in einer Form, die sich von dem spielerischen Überschwang der Protagonistin mitreißen lässt. Sie läutet bei fremden Leuten an der Tür, und läuft dann weg – der Filmemacher muss hinterher (van der Keuken war in der Regel selbst der Kameramann). Beppie oder der ein Jahr später entstandene Film über den blinden Jungen Hermann Slobbe sind dokumentarische Blitzlichter, Erzählungen sind darin nur angedeutet und fordern den Möglichkeitssinn des Publikums heraus. Man könnte sich Beppie gut unter den Hausbesetzern des Jahres 1980 vorstellen, als ein Gesicht in der Menge, wie sie damals bei van der Elsken auftauchte.

1991 drehte van der Keuken mit Face Value einen ganzen Film nur über das menschliche Gesicht, also über die Großaufnahme, die er gerade gegen deren Prinzip der herausgehobenen Präsenz an die sozialen Umstände zurückgibt – dem Dokumentarfilmer geht es nicht um die inszenierte Intimität des unverwandten Blicks in ein Gesicht. Er sucht die Gesichter aus der Menge heraus. Auf diese Weise lässt Face Value so etwas wie ein Gesicht Europas entstehen, mosaikartig, mit Bausteinen aus der DDR, aus Frankreich, aus den ­Niederlanden.

Das Moment der Collage erhält bei van der Keuken nur selten eine so ausdrückliche erzählerische Grundlage wie in seinem Film über Kerala in Indien, Het Oog boven de Put (The Eye above the Well, 1988). Dort hängen die Szenen zwar auch nur lose zusammen, und häufig stellt van der Keuken die Kamera einfach an einer notdürftigen Brücke auf und sieht dabei zu, wie die Leute mit ihren Fahrrädern darüber hinwegturnen. Er macht in der Landschaft aber einen Protagonisten aus, einen Mann, der private Schulden eintreibt, von Menschen, die durch ihre schwierige wirtschaftliche Lage dazu gezwungen waren, einen Kredit aufzunehmen. So taucht der Mann bei einem Zigarettendreher und bei einem Kinobetreiber auf, die Abwicklung der finanziellen Angelegenheit verläuft meist zwanglos, man spricht ein wenig über die Lage und trennt sich dann nach Übergabe einer Summe, die nicht immer die ganze vereinbarte Rate ausmacht. Das Leitmotiv von «waanzin und winst» findet sich hier, auf der Ebene der Subsistenz, gewissermaßen in geläuterter Form: Bei den Kleinunternehmern in Kerala sind der ursprüngliche Zusammenhang von Schuldendienst und Investititionssumme noch erkennbar, zudem weiß der Gläubiger persönlich um die konkreten Umstände der Schuldner.

Das Werk von van der Keuken lässt sich als ein Versuch sehen, diese Konstellation auf die globale Ebene zu übertragen. Der Dokumentarfilmer bildet das Bindeglied, durchaus auch in einem erkenntnistheoretischen Sinn, denn diese in Filmen objektivierte Lebensreise führt niemals in die Position einer Überblicksperspektive. Im Gegenteil laufen hier ein sich stetig erweiternder Horizont und die abnehmende Lebenszeit aufeinander zu und lassen das «Fahren von Gesicht zu Gesicht» immer persönlicher werden. Auf Abstraktionen lässt van der Keuken sich nur dort ein, wo er sich von der Musik leiten lässt. Die häufige Zusammenarbeit mit Willem Breuker bestimmt einen eigenen Strang seines Werks, einmal hat er sogar ein ganzes Werk über De Tijd (Die Zeit, 1983) gänzlich zu einer Komposition von Louis Andriessen gedreht und montiert. Die Kunst vertritt hier in jenem emphatischen Sinn eine autonome Zone, in dem die sozialen Bewegungen der 70er und 80er darauf bauten, sich innerhalb der kapitalistischen Ordnung Freiräume schaffen zu können. Van der Keuken war von dieser Politik zutiefst geprägt. De Beeldenstorm (1982), dessen englischer Titel Iconoclasm in die falsche Richtung führt, ist dazu das wichtigste Dokument: Der Bildersturm ist nichts anderes als der tägliche Betrieb in einem alternativen Kulturzentrum in Amsterdam, in dem Bands wie Tuxedomoon und Dichter wie Allen Ginsberg auftreten, in dem Menschen aus aller Welt selbstverwaltet leben und arbeiten, und in dem Kunst wesentlich zu einer sozialen Funktion geworden ist. Diese Haltung hat nicht zuletzt auch die Produktion seiner Filme mitbestimmt, die häufig von öffentlich-rechtlichen (auch deutschen) Sendern getragen wurde. Er hat sie aber an entscheidenden Punkten hinter sich gelassen, nämlich immer dann, wenn seine Filme zu einer offenen Form gelangten, die sich mit einer pragmatischen Rationalität und einer bloßen Sammlung des «bunten Lebens draußen» (so formuliert van der Keuken eine seiner ästhetischen Ideen im Anschluss an Paul Klee) nicht begnügten. Die neue Eiszeit, die er kommen sah, bestimmt das Leben der Menschen inzwischen mit Macht. Seine Filme können als Eisbrecher eine Bresche in diesen totalen Zusammenhang schlagen.