comic

Hawaiian Getaway Adrian Tomine

Von Christian Petzold

© Drawn & Quarterly / Adrian Tomine

 

Page one. Die erste Seite. Eine junge Frau. Ein leerer Raum, Holzboden, Paneele. Eine Aufsicht, wir sehen sie von oben. Die junge Frau sitzt im Sonnenlicht. Sie trägt schwarz, ein Kleid, die Arme gekreuzt über der kleinen Handtasche auf dem Schoß, die Armbanduhr ist zu sehen. Neben ihr schwarz der Titel: Hawaiian Getaway. Und ein Pfeil: «starring Hillary Chan». Das Panel nimmt zwei Drittel der Seite ein. Im unteren Drittel noch zwei Panels. Ein schwarzes, in dem drei Worte wie ausgeschnitten und ein wenig ungeordnet liegen: BRUSH. WITH. FAME.

Und ein Panel, in dem ein Ausschnitt zu sehen ist. Die angeschnittenen Tastaturen eines Telefons und eines Computerkeyboards, über die Schulter, die linke Hand beim Tippen. Eine Sprechblase: Okay, you wanted the ribbed cardigan sweater, size medium …

Über dem Panel ein Text, ein Voice-over: For two and a half years, my life had been blissfully stable, free of surprises or disturbances to my routine. I was working as a phone operator for a popular mail-order clothing catalog …

Die folgende Geschichte erzählt ein paar Tage im Leben von Hillary Chan. Ein Leben, das irritiert wird und das zerfällt. Die Geschichte spielt in San Francisco.

Hillary wird entlassen weil sie am Telefon William Shatner, den Darsteller des Cpt. Kirk aus Raumschiff Enterprise, erkennt und einen harmlosen Scherz wagt (den Sweater beamen wir Ihnen rüber) und er, darüber not amused, sich bei Hillarys Vorgesetzter beschwert. Brush with fame.

Die Welt tritt zurück. Es wird einsam um Hillary. Das Telefon spielt eine große Rolle. Anrufe setzen sie unter Druck. Die Mutter, die Schwester. Kein Satz, der nicht einen Schuldvorwurf enthält. Du musst, du sollst, warum hast Du nicht. Die Großmutter ist sehr krank. Die Eltern, aus Taiwan kommend, nach New Jersey gezogen, die Ausbildung der Töchter vom Munde abgespart, verlangen Karrieren. Die jüngere Schwester ist kurz davor, den Doktor in Medizin zu machen. Hillary, drei Jahre älter und hochbegabt, ist kurz davor, abzustürzen.

Eine Geschichte fast ausschließlich in Augenhöhe. Keine verkanteten Perspektiven. Einige wenige Aufsichten. Aber die haben es in sich.

 

Nach dem ersten Schuldtelefonat mit der Mutter sieht man Hillary liegen, auf dem Bett, bäuchlings, den Kopf im Kissen vergraben. Der Holzboden, das Futonbett, das Radio, das Telefon, das angeschnittene Fenster, das Sonnenlicht. Wie im ersten Panel schaut die Geschichte für diesen Moment von oben auf Hillary. Keine Verzerrungen, kein nachgemachtes Weitwinkel einer imaginären Überwachungskamera. (Wieviele Comics damit arbeiten, mit der imaginären Kamera und ihren optischen Beschränkungen: Unschärfen, Verzerrungen. Bei Tomine sind alle Linien gerade.) Und doch ist diese Perspektive einer Überwachungskamera nicht unähnlich. Doch wer schaut? In Michael Kliers Film Der Riese sieht man die Welt von oben. Der Film besteht ausschließlich aus Material aus Überwachungskameras. Ein Mädchen mit einem Hund an einem Meeting Point einer westdeutschen Fußgängerzone. Ein Mann raucht eine nächtliche Zigarette im Garten seiner überwachten Elbchaussee-Villa. Der Schalter einer Bank. Ein Flugzeug auf dem Rollfeld. Ganz merkwürdig laden sich diese Bilder wieder mit Fiktion auf. Reste von Erzählungen. Ein trauriger, einsamer Riese, der da von oben auf die Menschen schaut. Der sie betrachtet. Der sie ahnt, der sie versteht, der sie aber nicht mehr zusammenbekommt in einer Geschichte. Der nicht mehr in Augenhöhe gelangt.

Von dieser Traurigkeit sind auch die Aufsichten in Hawaiian Getaway.

 

Hillary, allein in der Wohnung. Die Wohnung leer, ausgeräumt. Das Sonnenlicht. Ein Stuhl. Die klaren Linien der Holzpaneele. Der Ort des ersten Panels. In Augenhöhe. In einer Totalen. Noch ist Hillary nicht so weit für dieses Bild. Dann ist die Großmutter gestorben. Unerbittliche Schuldvorwürfe der Mutter. Hillary weint auf dem Futon. Fast das gleiche Bild wie schon zuvor. Die Aufsicht ein wenig weiter, ein wenig höher.

You’re. My. Type.

 

Das vorletzte Kapitel. Hillary will hinaus, in die Augenhöhe. Will hinaus aus dem «von oben betrachtet werden». Will selbst betrachten. Sie schaut hinunter auf die Straße. Ein öffentlicher Telefonapparat. Sie beginnt, den Apparat anzurufen, wenn Passanten in der Nähe sind. Entsetzlich dumme Telefonstreiche. Aber SIE ruft an und SIE ist es, die hinunter schaut, auf die Welt, auf die hassenswerten Menschen. Einer durchschaut das Spiel. Ein smarter Junge, ihr Typ. Er schaut zurück, bittet sie in Augenhöhe. Ein Rendezvous. Eine Nacht. Kein Dialog, vier Panels lang. Aber der Sex sieht aus wie der, den sie gehört und aufgenommen hat. So, als liefere sie die Bilder zu den Nightsounds. Eine Aufsicht. Die beiden, schlafend, aneinandergeschmiegt. Der Morgen danach. Hillary bittet den jungen Mann, sie zu der Beerdigung der Großmutter zu begleiten. Er ist irritiert, sagt dann aber zu.

Waiting.

 

Das letzte Kapitel. Neun Panels lang.

It’s sunday morning now. I’ve been up for hours now, obsessing over the funeral and trying to sort through everything that’s happend. I’d probably be better off if I could just stop thinking so much.

Hillary zieht sich das schwarze Kleid an.

Hillary schminkt sich.

Das Radio neben ihrem Bett. Die Sendung von Johnny Angel. Ein anderer hat die Reise nach Hawai gewonnen. Während der Verkündigung erinnert sich Hillary. An eine Reise mit ihrer Familie, nach Hawai. Sie war gerade 13 geworden.

Das Bild eines Strandes. Das ruhige Meer. Zwei Palmen.

Die 13-jährige Hillary, im Wasser. Die Augen geschlossen.

Darüber ihre Erzählung, ihre Erinnerung. Die Eltern, der Badeanzug, das Eincremen mit Sonnencreme. All das war ihr peinlich. Sie verweigert sich.

In diesem Urlaub, an diesem ersten Tag, verbrennt ihre Haut und sie muss den restlichen Urlaub im Hotelzimmer verbringen. «Wir sollten dich in einen Koffer stecken und nach Hause schicken!», hört man die Mutter sagen. Dann ist sie allein. Die letzten drei Panels. Sie steht neben dem Bett am Fenster. Draußen die anderen, ihre Geräusche.

Dann nimmt sie den größten Koffer. Sie legt sich hinein, in Embryonalstellung. «I was surprised how easily I fit.» Man sieht sie von oben, in ihrem Koffer liegend.

Dann das letzte Bild, das wie ein Ausschnitt des ersten Panels von Hawaiian Getaway ist. Nur, dass Hillary die Augen geschlossen hat.

«I remember lying there and eventually falling asleep like that in the cool, dark hotel room while the skin all across my body blistered and peeled. I can still feel it now.»

Es sind zwei Geschichten. Eine Storyboardgeschichte über das Herausfallen einer jungen Frau aus der Welt. Und wie sie sich wehrt dagegen. Es gibt einen Autor. Er ist neben ihr, in Augenhöhe. Und er ist über ihr, wie der Riese, wenn sie für sich ist und sich unbeobachtet fühlt.

 

Großartig an Tomine ist, dass er diese Storyboardkonstruktion von seiner Figur angreifen lässt. Hillary erinnert, sie träumt und ist am Ende selbst Autorin. Sie schaut hinunter auf sich, auf das 13-jährige Mädchen im Koffer, das sie war und ist. I can still feel it now. Ihre Voice-over ist klug, überlegt und ruhig. Wie therapiert. Am Ende eines Bildungsromans eine Regression. Ein Embryo im Koffer der Eltern. Es ist ihr Comic und ihre Geschichte geworden.

Vielleicht ist daraus etwas zu lernen.

Auch für das Kino.

Manchmal muss man ein Jahr warten auf einen neuen Comic von Adrian Tomine.