bühne & bild

Bühne & Bild

Von Helgard Haug

In unseren anfänglichen künstlerischen Selbstbeschreibungs -und vielleicht auch -erklärungsversuchen haben wir immer wieder die Differenz zwischen fiktionalem und dokumentarischem Film bemüht, um klar zu machen, wie sich unser Theateransatz von dem des Regietheaters unterscheidet. So wurde schnell das Label «dokumentarisches Theater» über unsere durchaus unterschiedlichen Versuche gehängt, Menschen als Darstellerinnen und Darsteller ihrer selbst auf die Bühne zu bringen. Dem Moment, in dem sich dann ein Mensch im Rahmen einer unserer Inszenierungen selbst spielt, vertritt, erfindet oder auflauert, geht ein langer Rechercheprozess voraus – Momentaufnahmen daraus finden oft via Film / Video (auch Toneinspielungen) Eingang in die Inszenierungen. Beim schnellen gedanklichen Ritt durch die Projekte ist mir kaum ein Stück eingefallen, das nicht für einen Moment den eigenen Atem angehalten hat und einen Menschen, einen Raum auf der Projektionsleinwand zeigt, der dadurch die Chance bekommt, in einem noch unvermittelteren, noch unbearbeiteteren Zustand «aufzutreten». Drei Szenen aber will ich als Beispiele beschreiben, in denen sich das Verhältnis von Video / Film-Projektion und Theater noch mal ganz deutlich veränderte, weil darin etwas passierte, wodurch Film nicht länger nur Beiwerk war zum Theater, sondern eine ganz eigene Intensivierung bedeutete:

I. GROSS — Die größte unserer Theater-Filmwände hing rund um die Netzleitstelle in Frankfurt / Main herum – einem Ort, an dem städtische Ingenieure rund um die Uhr daran arbeiten, dass der eingekaufte Strom an die Stadt und die privaten Haushalte umverteilt wird, so dass die Stadt leuchtet, wenn sie zu leuchten hat. Die Wände waren aus Glas, der Blick ging im Panorama in die Stadt und in das Industriegebiet. Das Gebäude war 1977 eingeweiht worden und in der Schaltzentrale befindet sich eine großzügig angelegte Besucherterrasse: dem Bürger sollten die Abläufe an den städtischen Verwaltungsknotenpunkten nachvollziehbar vor Augen geführt werden. Bis 1998 jedoch, bis ins Jahr, in dem die RAF offiziell ihre Selbstauflösung verkündete, betrat kein Bürger je diese Terrasse. So lange wirkte der Schreck nach über die RAF, dass der Staat alle Parolen zur Transparenz institutioneller Vollzüge schnell wieder vergaß.

Wir aber wollten diesen Ort bespielen, den Blick in die Zentrale und in die Stadt einem Publikum zugänglich machen und dabei genau den Moment zum Zentrum unseres Theaterstücks erklären, in dem einer der Dienst habenden Ingenieure allabendlich die Meldungen der über die Stadt verteilten Lux-Sensoren in eine Befehlskette knüpfen würde. Dazu erhob er sich von seinem gepolsterten Drehstuhl, vom digitalen Kontrolltisch, ging vielleicht zwölf Schritte zu einem sehr analogen Wandschalter und legte diesen einfach um. Diese eine Fingerbewegung illuminierte wenig später eine ganze Stadt: unsere Theater-Filmwand war das Panoramafenster, durch das hindurch sich nun eine ganze Stadt verwandelte und es sah aus, als sei auch die langsame Verdunklung des Himmels eine Folge des umgelegten Schalters.

* Bei wie viel Lux schalten Wurst und Schumacher das Licht ein? Von Helgard Haug / Marcus Dross / Daniel Wetzel. UA: Frankfurt / Main 15. Mai 1998.

 

II. KURZ — Die kürzeste Übertragungszeit – dafür hatten wir den längsten Anlauf – fand in einem Theaterstück statt, das sich jeweils zwischen genau zwei Menschen abspielt. In einem einstündigen Telefonat via Handy navigiert ein indischer Callcenter-Agent von Kalkutta aus «seinen» Theaterbesucher durch ein unwegsames Gebiet, eine Strecke vom Berliner Hebbeltheater zur Shopping Mall des Potsdamer Platzes. Die Stimme im Ohr des Theaterbesuchers stammt also von einer Person, deren Lebensumfeld ein gravierend anderes ist als das des Theatergängers. Trotzdem muss man sich genau diesem Menschen 60 Minuten lang anvertrauen und von ihm durch Hinterhöfe und über Schleichwege führen lassen, durch eine Gegend, die die Person am anderen Ende der Leitung selbst nie unmittelbar gesehen oder erlebt hat.

Erst im Moment des Abschieds kommt dann ein Bild zum Einsatz, und zwar als Webcam-Live-Übertragung. Aus der Tiefgarage des Einkaufszentrums lotst die Stimme dazu den «Läufer» zum Schaufenster eines super store. Dort steht ein Computermonitor, in dem im Moment des Abschieds das Live-Bild aus dem Callcenter die Echtheit der ganzen Kommunikations-Konstellation zwischen den Kontinenten dokumentiert. Der Callcenter-Mitarbeiter weist den «Läufer» an, mit dem Handy ein Bild von sich selbst zu machen. Dann sieht man: das ruckelige Abschiedsbild mit notorischem Winken und zack, tschüss, good-bye in allen Sprachen – und: weg – der Monitor fällt nach dem Moment der durch die Live-Übertragung visuell hergestellten größten Nähe wieder in den gnadenlosen Stand-By-Modus zurück.

* Call Cutta. Von Helgard Haug / Stefan Kaegi / Daniel Wetzel. UA: Kalkutta, 26. Februar 2005; Berlin, 2. April 2005.

 

III. KALT — Irgendwie war es immer kalt in der Arenabühne, die wir für dieses Stück gebaut hatten. Vier Leinwände hingen an der Wand, je eine über jeder der vier Zuschauertribünen. Zu sehen ist eine Operation. Wir haben eine Ärzte-und Mitarbeiterteam einer Klinik in Zürich überreden können, eine Herztransplantation durchzuführen – auf dem OP-Tisch liegt aber kein Mensch, sondern eine Tentakel-Kamera, genauer gesagt: eine Konstruktion aus vier Kameras, die die chirurgische Tätigkeit aus allen Richtungen in den Blick nehmen und auf die Leinwände übertragen. Das Ärzteteam spielt in seiner realen Umgebung die OP, sie imitieren sich selbst, werden detailverliebt, wie Kinder spielen sie, ernst und schnell gekränkt, eine Szene ihres normalen Lebens. In den OP-Sälen links und rechts von unserem sonderbaren Studio liegen aber wirkliche Körper auf den Tischen, keine Kameras, und für einen lebensrettenden Moment muss «unsere» Schwester nach nebenan, um einem realen Team, das um die Wiederbelebung eines realen Patienten kämpft, zu Hilfe zu eilen. Danach reicht sie dann, wieder zurück, unserem echten Arzt ein echtes Messer vor echter Kamera – im sterilen, völlig risikofreien Raum. Die Protagonistin, deren Herztransplantation wir mit dem OP-Team nachgespielt hatten, steht am Abend der Aufführung mit ihrem neuen Herz auf der Bühne und sieht sich die Filmeinspielung an. Jeden Abend wieder friert es sie, wenn der Arzt von der Leinwand herab fragt: «Ist Ihnen kalt, Frau Mettler?»

* Blaiberg und sweetheart19. Von Helgard Haug / Stefan Kaegi / Daniel Wetzel. UA: Zürich, 31.März 2006