non-fiction

Thugs and Cuz Der unorthodoxe Soziologe Sudhir Venkatesh erkundet Untergrund-Ökonomien und schreibt die Geschichte des Public Housing in Chicago. Seine Forschungsmethode: «to hang out»

Von Simon Rothöhler

Als am 6. Januar 2008 die erste Folge der letzten Staffel von The Wire auf HBO ausgestrahlt wurde, versammelte sich eine ­Runde arrivierter Gangmitglieder aus der New York Metro Region in einem Apartment in Harlem. Shine, Kool-J, Tony-T, Flavor und die anderen waren aber nicht wirklich unter sich. Die thugs hatten jemanden eingeladen, den sie cuz nannten. Dass der «Cousin» kein Verwandter im engeren Sinn war, ließ sich unter anderem daran erkennen, dass er die zur Serie geäußerten Kommentare der Gruppe protokollierte und zwei Tage später in einem Blog der New York Times veröffentlichte.

Bei dem geduldeten Spion handelte es sich um einen professionellen Beobachter mit profunder Milieukenntnis: den Sozio­logen Sudhir Venkatesh, Professor an der Columbia University, ein Star seiner Zunft. Die Feldforschung lieferte Material für insgesamt neun Blogeinträge, die man immer noch online nachlesen kann. Die Gangmitglieder attestierten der Serie ohne viel Aufhebens ein hohes Maß an street credibility, konzentrierten sich dann aber umgehend auf vermutlich eher milieu­spezifische Rezeptionspraktiken. Ein spontan etablierter Wett-Pool füllte sich rasch auf eine ­Gesamtsumme von 8 000 Dollar. Am höchsten notierte die Frage, wer sich im Finale durchsetzen wird: Prop Joe, Marlo oder der heimliche Favorit Omar.

Die Kooperation musste jedoch vorzeitig abgebrochen werden, weil Flavor von einem Rivalen in eine amourös angebahnte Falle gelockt worden war, worum man sich en groupe zu kümmern hatte – eine zeitintensive Sache. Interessanter ist, dass die Studienobjekte irgendwann erkennbar keine Lust mehr verspürten, dem Authentizitätsversprechen der Serie durch die Performanz ihrer eigenen Lebenswirklichkeit ein zusätzliches Echtheitszertifikat auszustellen. Aus Venkateshs Beschreibungen geht eine recht klassische subkulturspezifische Ausverkaufsskepsis auf Seiten der Gang hervor.

Aufmerksam lasen die Protagonisten die Blog-Kommentare im Netz und entwickelten ein intuitives Verständnis der auf sie gerichteten Perspektive. Die thugs ahnten, dass die weiße, bildungsbürgerliche Leserschaft der New York Times sie hier ungefragt zum Objekt ästhetischen Genießens zweiter Ordnung macht – und tauchten ab. Venkateshs kleine Reihe zu diesen The Wire-Sichtungen handelt insofern auch von einer Transferlogik, die eine kriminelle Subkultur in ein attraktives Kulturprodukt überführt.

Die ethnographischen Blog-Texte sind dennoch keinem professoralen Medien­coup geschuldet, sondern in erster Linie Fußnote einer eindrucksvollen Forschungsarbeit, die bis ins Jahr 1989 zurückreicht. Damals war der Sohn indischer Einwanderer ein junger Student an der University of Chicago, belegte Kurse bei den Anthropologen Jean und John Comaroff und arbeitete dem berühmten Armutsforscher William Julius Wilson zu. Ausgerüstet mit einem standardisierten Fragebogen wurde Venkatesh in die Lake Park Projects auf der Southside geschickt, ein weitestgehend von Gangs kontrolliertes afro-amerikanisches Viertel, das zu den ärmsten von Chicago gehört.

Zunächst erwies es sich als einigermaßen schwierig, mit den Mietern der heruntergewirtschafteten Hochhaussiedlung in Kontakt zu treten. Als es Venkatesh schließlich doch gelang, einen Fuß in die Tür zu bekommen, wurde ihm schnell bewusst, wie unproduktiv empirische Sozialforschung sein kann. Auf eine der ersten Fragen des Bogens – «How is it to be black and poor?» – antwortete ihm erst verständlicherweise niemand, dann aber schließlich sehr ausführlich ein Anführer der lokalen Drogen-Gang Black Kings, der J. T. gerufen wurde.

Aus dieser ungemütlichen Erstbegegnung, die Venkatesh eine ganze Nacht kostete, in der er von den Black Kings unter unmissverständlichen Drohungen in ­einem Treppenaufgang festgehalten wurde, entstand eine nicht nur wissenschafts­geschichtlich gesehen einmalige Beziehung zwischen einem unkonventionellen Nachwuchssoziologen und einem aufstrebenden Gangleader, der zu diesem Zeitpunkt bereits über zweihundert Kleindealer befehligte. Die Strukturen und die ­spezifische Ratio­nalität der dazugehörigen Untergrund-­Ökonomie und die Geschichte des Public Housing in Chicago entwickelten sich zu Venkateshs Forschungsschwerpunkten. J. T., der sich selbst bevorzugt als community organizer vorstellte und dem das Interesse des Intellektuellen schmeichelte, fungierte anfänglich als Türöffner. Er ermöglichte Venkatesh den Zutritt zu einer Welt, die sich mit qualitativen Interviewtechniken kaum aufschließen lässt.

Drei Bücher sind das mehr oder weniger direkte Produkt dieser Begegnung. Zwei davon – American Project. The Rise and Fall of a Modern Ghetto (2000) und Off the Books. The Underground Economy of the Urban Poor (2006) – sind vom Genre her akademisch, eines – Gangleader for a Day (2008) – autobiographisch angelegt. Zu den Besonderheiten von Venkateshs Arbeiten gehört jedoch, dass diese Einteilung weniger stabil ist als gemeinhin üblich. Seine akademische Prosa zeichnet sich durch eine beachtliche Anschaulichkeit und erzählerische Qualität aus, während Gangleader for a Day im Subtext eine diskrete Methodendiskussion führt.

Venkateshs Aktivitäten sind damit aber immer noch nicht erschöpfend beschrieben. Als im Februar 2002 die Bewohner der Robert Taylor Homes die Nachricht erhielten, sie hätten sechs Monate Zeit, die Gebäude zu verlassen, entschloss er sich, die bevorstehende Demolierung und die schwierigen Umsiedlungsprozesse mit ­einer Kamera zu dokumentieren. ­Dislocation (2005) heißt der knapp einstündige Film, den man als Epilog zu ­Frederick Wisemans Public Housing (1997) verstehen kann, welcher in einer anderen Chicagoer Einrichtung spielt, dem Ida B. Wells Housing Development.

Die 1962 im afro-amerikanischen Stadtteil Bronzeville errichteten Taylor Homes waren zeitweilig das größte Housing Project der USA. Bis zu 27 000 Bewohner verteilten sich auf die 28 Hochhäuser – ein vertikales Ghetto, das in der rassistischen Yellow Press bald abfällig «Congo Hilton» genannt wurde. Bereits Mitte der 60er Jahre begann der Niedergang der Einrichtung in Folge dramatischer Budgetkürzungen auf Bundesebene. Die Gebäude verwahrlosten zunehmend, die kleine afro-amerikanische Mittelschicht folgte dem allgemeinen Suburbanisierungstrend und verließ die Projects Richtung Stadtgürtel.

In den 90er-Jahren waren 95 % der Bewohner Empfänger staatlicher Transferleistungen. Der Rückzug der Behörden auf allen Ebenen hinterließ ein Vakuum, das die Gangs strategisch zu füllen wussten. Venkatesh verfällt an dieser Stelle nicht in eine Sozialromantik des Gangwesens, hält aber dennoch fest, dass die Black Kings als De-facto-Verwaltung der Projects durchaus ein vergleichsweise zuverlässiger Bestandteil einer prekären Infrastruktur waren. Gleichwohl bleibt nicht unerwähnt, dass die Sozialarbeit der Gang im Wesentlichen zum Ziel hatte, den reibungslosen Ablauf der Drogengeschäfte zu gewährleisten.

Venkatesh beschreibt diese lokalen Zusammenhänge im Geist des englischen Sozialhistorikers E. P. Thompson: als «Geschichte von unten» und mit einem außergewöhnlichen Sinn für die Historizität von Alltagspraktiken. Insbesondere American Project, Venkateshs bestes Buch, verbindet die Kritik an dem institutionalisierten Rassismus des Public Housing Systems, der in Chicago zu einer unvergleichlichen Konzentration und Isolation von Armut in segregierten afro-amerikanischen Vierteln geführt hat, mit einem genauen Blick für den energischen Überlebenskampf der ­Betroffenen.

Das dabei entfaltete kollektive Gedächt­nis widerspricht vorschnellen und unproduktiven Viktimisierungen. Sichtbar werden die vielfältigen Anstrengungen der Bewohner, Selbstorganisation und soziale Integration in einem Raum zu stiften, den die staatlichen Institutionen eingestandenermaßen aufgegeben haben. Venkateshs von Empathie geleitete Arbeiten erfüllen darüber hinaus eine erinnerungspolitische Funktion. Diskriminierte Gruppen unterhalten meist kein offizielles Archiv, sie verfügen nicht über eine eigene Geschichtsschreibung. Die Beobachtungen des Soziologen sind auch in diesem Sinn teilnehmend: Sie bilden den Ausgangspunkt für künftige Überlieferungen. 

 

Sudhir Alladi Venkatesh: Gangleader for a Day: A Rogue Sociologist Takes to the Street, Penguin 2008 | Off the Books. The Underground Economy of the Urban Poor, Harvard University Press 2006 | American Project: The Rise and Fall of a Modern Ghetto, Harvard University Press 2000