literatur

Lush Life

Von Ekkehard Knörer

David Simon macht kein Geheimnis daraus, dass Richard Price wichtig war für The Wire. Sein Roman Clockers, 1992 erschienen, ist so etwas wie ein Blueprint für die Serien-Ausgangssituation. Zwei Figuren stellt Price darin in den Mittelpunkt: den schwarzen Drogendealer Strike, junger Mann mit Mittelposition in der Projects-Ökonomie, aber mit Aufstiegsperspektive (vieles erinnert an D’Angelo Barksdale); den Polizisten Rocco Klein, idealistisch, aber desillusioniert, kurz vor der Pension­ierung (in manchen Zügen: McNulty.) Seit der dritten Staffel war dann Richard Price selbst mit im Boot, als Autor von insgesamt fünf The Wire-Episoden.

Price war schon zuvor im Filmgeschäft, ein gefragter Drehbuchautor nach The ­Color of Money und Sea of Love. Romane gibt es von ihm – deshalb, aber auch der Sorgfalt wegen, mit der Price recherchiert und schreibt – nur in größeren Abständen. Für den jüngsten, Lush Life (2008, erscheint auf Deutsch 2010), wurde er gefeiert wie selten zuvor; Michael Chabon veröffentlichte einen großen Price-Essay in der New York Review of Books («In Priceland», Vol. 55, No 7) und Produzent Scott Rudin (No Country for Old Men) hat die Rechte an der Verfilmung erworben, ­Price schreibt das Drehbuch voraussichtlich selbst.

Aus einem fiktionalisierten New Jersey, Schauplatz seiner letzten Romane, bewegt sich Price für Lush Life ins East Village, Manhattan. Ein Überfall auf offener Straße steht am Beginn, ein Schuss fällt, ein junger Mann stirbt. Zeuge wird, aus unmittelbarer Nähe, als Bekannter, der mit dem Getöteten unterwegs war, Eric Cash, 35 Jahre, Mann mit Ambitionen, aber ohne Erfolg. Das Buch folgt ihm, folgt dem Täter, folgt dem Ermittler Matty. Es geht um Väter und Söhne, ums Scheitern von Träumen, um eine Jungfrauenerscheinung in einem chinesischen Laden. Price ist ein Meister kristallklarer Sätze und vor allem Dialoge. Auch das gehört zu den Dingen, die The Wire mit seinen Romanen verbindet. Die Sprache geht direkt ins Ohr, eine Kunst des Sprechens, die so vollendet nach der Natur gearbeitet ist, dass man die Kunst kaum bemerkt.

Mühelos bewegt sich Price in Lush Life durch die Milieus, von den wenigen im gentrifizierten Süd-Manhattan übriggebliebenen Projects in die hippen Bars in die Polizei-Station in die ­Künstler- und Möchtegernkünstler-Szene der ­Gegend. Er denkt dabei anders als The Wire das Milieu, die Zwänge, die Karrieren, die sozialen Schicksale sehr viel stärker vom Individuum her als von der Institution. Und die Individuen weniger von ihren Handlungen, als von ihrer Unfähigkeit, sich zum als richtig eingesehenen Handeln zu entschließen. Oder von ihrem Fehlhandeln, das – wie zu Beginn – im schlimmsten Fall tödlich endet. Man könnte sagen: Wie individuelles Handeln immer Folgen für andere hat, ist der Gegenstand der sozialen Mikropoetik von Lush Life. Die zentrale, zum Defätismus von The Wire in Beziehung zu setzende Frage wäre dann, ob und wie individuelle Erlösung durch Sozialität möglich ist.  ek