labelportrait

Carlotta Films

Von Volker Pantenburg

Für die 627 Meter vom Grand Café, in dem die Lumières im Dezember 1895 zum ersten Mal Geld für eine Vorführung des ­Kinematographen verlangten, bis zu den Büroräumen von ­Carlotta braucht man laut Routenplaner eine Minute; das ist in etwa die Dauer eines Lumièrefilms.

Durch ein paar Flure, an Filmplakaten und Stapeln von Material vorbei, liegt Vincent Paul-Boncours geräumiges Büro; in der Ecke ein Flipper. Boncour war 24, als er die Firma 1998 gründete. An DVDs dachte er seinerzeit nicht, vier Jahre lang war Carlotta ein Filmverleih mit dem erklärten Ziel, Klassiker mit neuen Kopien ins Kino zurückzubringen. NORTH BY NORTHWEST war der erste Film, der startete, nicht nur in Paris, sondern auch in den Gegenden, die von Parisern liebevoll «die Provinz» genannt werden. Die DVD-Produktion trat im Jahr 2002 zur Verleihtätigkeit hinzu, hier legte Pasolinis Salò den Grundstein. Seitdem ist es so geblieben, dass Kino und DVD als zwei distinkte, aber komplementäre cinephile Zugriffsweisen auf die Filmgeschichte und nicht als potentielle Konkurrenten gedacht werden. Um die Möglichkeiten des Mediums zu nutzen, stand bei den DVDs von Beginn an der verlegerische Ansatz im Vordergrund, auf die Qualität von Kopie und Transfer ebenso sehr zu setzen wie auf die editorische Rahmung des jeweiligen Films mit Bonusmaterial: Kinodenker wie Jean Douchet oder Bernard Eisenschitz werden regelmäßig mit der Produktion von analytischen Filmen beauftragt oder für historisch-kommentierende Gespräche engagiert; dazu wird historisches Kontextmaterial versammelt.

Anders als in Deutschland ist ein seriöser und damit kostspieliger verlegerischer Ansatz in Frankreich aufgrund der Förderung durch das Centre National de la Cinématographie (CNC) möglich, das die publizistische Arbeit am filmischen Kulturerbe subventioniert. Was unter Kulturerbe ver­standen wird, lässt sich an der aufwändig gestalteten Box beschreiben, die zum Firmenjubiläum zehn filmhistorische Positionen aus dem Carlotta-Programm kompilierte: F.W. Murnau, Carlos Saura, Billy Wilder, Pier Paolo Pasolini, R.W. Fassbinder, Douglas Sirk, Yasujiro Ozu, Kijû Yoshida, Emir Kusturica, Stanley Donen: ein Schwenk durch die klassische Filmgeschichte seit den 20ern mit Schwerpunkt auf dem amerikanischen Kino der 50er Jahre, ausgewählten europäischen Autorenpositionen und Beispielen des japanischen Modernismus. Die Abwesenheit von zeitgenössischem französischem Kino hat dabei den simplen Grund, dass Filmproduktionsfirmen wie MK2 ihren eigenen DVD-Output haben.

Der Carlotta-Kosmos, zu dem seit einiger Zeit auch Bodega Films als Kino/DVD-Abteilung für Zeitgenössisches (etwa Grisebachs Sehnsucht) und Bollywood gehört, ist ein kleines, wirtschaftlich rentables Verbundsystem der Cinephilie. Kürzlich war die Zahl von 30 000 verkauften Pasolini-DVDs zu lesen; die erste Sirk-Box wurde allein im ersten Jahr knapp 10 000 Mal gekauft – Zahlen, die in Deutschland ungläubiges Staunen hervorrufen. 

 

4 x CARLOTTA 

Andy Warhol / Paul Morrissey: Trash / Flesh / Heat (1968 / 1970 / 1972)

Als Warhols / Morrisseys Trash / Flesh / Heat-Box in Cannes 2003 die Goldene Palme für die beste DVD-Produktion gewann, gründete Boncour mit Allerton-Films eine eigene Produktionsfirma für Bonusmaterialien.

Douglas Sirk: All that Heaven allows (1955)

Carlotta hat inzwischen zwei Boxen mit insgesamt acht Sirk-Filmen in exzellenter Qualität herausgegeben. Als Extra für All that heaven allows hat François Ozon einen «Film-Remix» gemacht, der – ausdrücklich inspiriert von den Umwidmungsmontagen und Mash-Ups auf Youtube – Sirks Film und Fassbinders Angst essen Seele auf ineinandermontiert.

Marcel L’Herbier: L’Argent (1928)

L’Herbiers Zola-Adaption mit Brigitte Helm und Antonin Artaud war seinerzeit einer der teuersten Filme Frankreichs. Neben der restaurierten und nach L’Herbiers ursprünglichen Plänen rekonstruierten Fassung ist auf der Doppel-DVD auch ein Dokumentarfilm enthalten, den Jean Dréville 1928 über die Dreharbeiten gemacht hat und bei dem man sich fragen kann, ob es das historisch früheste Beispiel eines «Making Of» ist.

Morris Engel / Ray Ashley / Ruth Orkin: Little Fugitive (1953)

Ohne Little Fugitive von 1953 hätte es die Nouvelle Vague nicht gegeben, hat Truffaut 1962 in einem Interview gesagt. Wie es der Zufall will, ist der Film auch auf dem Cover der legendären Cahiers-Ausgabe vom Januar 1954 zu sehen, in der Truffauts Gründungstext der Nouvelle Vague zu lesen ist: «Une certaine tendance du cinéma français». Ein kleiner Junge (wie Léaud in Les 400 coups) flieht aus Manhattan und irrt (wie Belmondo in À bout de souffle durch Paris) zwei Tage lang durch Coney Island. Das durch die filmhistoriographischen Maschen gefallene Schlüsselwerk des amerikanischen unabhängigen Kinos bringt Boncour im Februar landesweit in die französischen Kinos. Die DVD, die parallel zum Kino­start in der von Alain Bergala betreuten DVD-Reihe für Schulen L’Eden Cinéma erscheint, wird im Herbst 2009 von Carlotta veröffentlicht.