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Anatomie einer Ära Über Chris Fujiwaras The World and Its Double. The Life and Work of Otto Preminger

Von Stefan Ripplinger

Die Filme sprechen eine völlig andere Sprache. Sie suchen den Effekt nicht, sie meiden ihn sogar. Glamouröse Großauf­nahmen von Diven sind eine Seltenheit, markige Auftritte und große Gesten, ­spektakuläre Einstellungen noch seltener. Preminger zeigte nicht nur gern neue Gesichter, er präsentierte selbst die Stars ungewöhnlich ­nüchtern. Sein Stil ist ein Muster an Eleganz und distinguierter Zurück­haltung. Das ist auch der Grund dafür, weshalb seine Filme so oft unterschätzt werden: Ihre Kunst fällt erst beim zweiten Anschauen auf.

Massiv und muskulös war der Mann, fein und leicht ist das Werk. Umso erfreulicher, dass Chris Fujiwara, obwohl er Life and Work Premingers vorzustellen verspricht, sich vor allem das Werk anschaut und das Leben so gut es geht beiseite lässt. Mäßig interessant ist es, dass Preminger mit einer Stripperin ein Kind zeugte. Schon interessanter, dass er als Regisseur und Schauspieler im Theater, unter Max Reinhardt, begann hat und in den 20ern das Kino nicht einmal als Zuschauer kannte, ja, dass er immer wieder ins Theater zurückkehrte ist. Denn obwohl die Dialoglastigkeit mancher seiner Filme noch an das Theater erinnert, überrascht doch, wie früh er zu einer genuin filmischen Ausdrucksweise fand.

Eine Ausnahme allerdings fällt auf. Ausgerechnet der Film, den Fujiwara die «Unabhängigkeitserklärung» Premingers nennt, der erste unabhängig von den Studios produzierte, der erste, der ohne Zulassung der PCA (freiwillige Selbstkontrolle) in den Verleih ging, der erste also, den Preminger ganz nach eigenen Vorstellungen, mit dem Recht zum final cut, verwirklichen konnte, fällt zurück aufs Theater. The Moon Is Blue (1952 /53) ist ein geistreiches Boulevardstück und war unter Premingers Regie ein enormer Erfolg auf der Bühne. Auf der Leinwand bleibt er scharfzüngiges, schnelles, urbanes Theater. Und so drängt sich die Frage auf, ob der überaus harte Kampf um die Autorenfreiheit einiger frivoler Dialogwechsel wegen geführt werden musste.

Die freiwilligen Selbstzensoren regten sich pflichtgemäß auf, und Fujiwara scheint ihnen sogar Recht zu geben. Er schreibt, der Film lege eine Welt nahe, in der Menschen nicht nur die Freiheit besitzen, miteinander Sex zu haben, sondern auch die, einander auszubeuten und zu verletzen. Sehr streng betrachtet, trifft das zu. Der ­Libertin (David Niven) schenkt der jungen Schauspielerin (Maggie McNamara) 600 Dollar, und niemandem, weder den Prota­gonisten noch den Zuschauern, entgeht, dass hier eine Geschäftsbeziehung angebahnt wird.

Doch verglichen mit anderen Werken Premingers erscheint dieser Handel harmlos. Man nehme nur die beiden unmittelbar vor und nach The Moon Is Blue entstandenen Filme. Im ersten Song von River of No Return (1953) erklärt Marilyn Monroe, Liebe sei nur ein «worn silver dollar». In Angel Face (1952/53) mit Jean Simmons und Robert Mitchum versucht eine Frau, sich einen Mann zu kaufen. Aber das ist längst nicht alles. Was für eine Verhöhnung nicht nur der Ehe, der Justiz und der Bourgeoisie dieser Film ist, was für eine Verhöhnung auch jeder guten und schönen Regung! Während ihre Opfer in den Abgrund rasen, improvisiert die Mörderin am Klavier. Verglichen mit dem Zynismus von Angel Face ist The Moon Is Blue eine Bibelstunde.

In den Jahren darauf zeigt Preminger schließlich doch, was er mit seiner gerade errungenen Freiheit anzufangen gedenkt. Themen, bei denen jeder Studioboss nur mitleidig den Kopf geschüttelt hätte, greift er beherzt auf, Drogen (The Man With the Golden Arm), Promiskuität (­Bonjour Tristesse), den Kampf um den Staat ­Israel (Exodus). Nacheinander nimmt er sich staatstragende Institutionen vor, Gericht (Anatomy of a Murder), Parlament (­Advise & Consent), Kirche (The Cardinal) und Armee (In Harm’s Way). Er bewahrt sich die Bitterkeit seiner Noirs, aber greift viel weiter aus. Fujiwara, der die Institutionenfilme den Noirs und den Melodramen vorzieht, meint, hier würden ganze Welten erschaffen. Den Blick hinter die Kulissen von Institutionen nennt er den «Preminger-­Moment». Nun ja, es ist einer von vielen Preminger-Momenten, aber der am meisten politische.

Wenn es einen Film gibt, der Premingers Institutionenkritik gültig zusammenfasst, dann ist es sein größter Flop in der zweiten, unabhängigen Hälfte seiner Karriere, Saint Joan (1957). Auch dieser Film beruht auf einem Theaterstück, auch er exzelliert in den Dialogen. Und doch ist er mehr als bloß Theater. Fujiwara lobt zu Recht das schwelgerische Licht, die unaufhörlich sich bewegende, fast fließende und doch zugleich fragende Kamera.

Aber für einmal hatte Preminger zu viel des Guten getan und ein wenig zu früh und zu heftig auf die Pauke gehauen. In einer gigantischen Casting-Aktion nach Art von American Idol sichtete er Tausende von Kandidatinnen für die Hauptrolle und wählte schließlich Jean Seberg aus. Heute würde solch eine Aktion kein Aufsehen mehr erregen, damals nahm sie die Kritik gegen den Film ein. Kann eine blutige Anfängerin in einer Charakterrolle bestehen? Preminger hatte verloren, bevor der Film angelaufen war. Dabei macht Seberg ihre Sache erstaunlich gut (besser jedenfalls als in dem viel gelobten Bonjour Tristesse).

In den Filmen Premingers, der als sein eigener Produzent auch stets PR-Agent in eigener Sache war, spielt Werbung eine auffällig große Rolle. Mal erscheint sie als großer Witz, mal als Fluch. Man erinnere sich daran, dass die aufstrebende Schauspielerin aus The Moon Is Blue in einer Bierwerbung auftritt und vorerst foam statt fame abschöpft. Laura aus dem gleichnamigen Klassiker (1944) hält den Dandy und Kolumnisten Waldo Lydecker vom Abendessen ab, um ihn für eine Füllfederhalter-Kampagne zu gewinnen; nach einer Weile entschließt er sich, ihr Werben mit einem Liebeswerben zu verwechseln.

Nicht mehr komisch, sondern höchst unheimlich kehrt das Werbe-Motiv zu Beginn von Fallen Angel (1945) wieder. Dana Andrews – ein von Preminger bevorzugter Schauspieler – gibt einen verkrachten Werbeagenten, den es in ein Kaff verschlägt. Er hat keinen Cent mehr, also beginnt er eine Kampagne auf eigene Faust. Finster entschlossen bewirbt er ausgerechnet den Auftritt eines Wahrsagers.

Wahrsager, Hellseher, Hypnotiseure sind ebenfalls häufig bei Preminger. Vielleicht stehen sie, wie Fujiwara meint, für den Regisseur. Jedenfalls verfügen sie keineswegs über spirituelle Kräfte. Sie sind allesamt Betrüger. Sie sind Werbeleute, die es ein wenig übertreiben, Auswüchse eines Systems, das auf Persuasion und Prostitution, Betrug und Ausbeutung beruht.

Liebe, Empathie gibt es bei Preminger nicht oder fast nicht. Gier und Obsession treibt die Menschen zueinander. Die Haltung des Regisseurs zu seinen Figuren bleibt meist distanziert. Für Chris Fujiwara liegt das Grundprinzip von Preminger in einem Wechsel von Zu- und Abwendung, der sich nicht selten in Zu- und Abwendung der Kamera ausdrückt. Niemals nimmt sie den Blick eines andern ein, sie betrachtet und bestaunt die Personen. Aber in keiner Einstellung wird sie so psychologisch wie bei Hitchcock. Premingers gleitende Kamera bleibt eine dritte Person, sie ist keine Besserwisserin, sie ist keine Beteiligte, aber doch immer diskret anwesend. Sie ist die Frage eines Skeptikers. 

Chris Fujiwara: The World and Its Double. The Life and Work of Otto Preminger. Faber and Faber 2008