video/installation

Eau d'artifice. Tauchgänge mit Bill Viola

Von Jochen Bordwehr

Unter Wasser schlafen – geht das? In Bill Violas Videoarbeit The Passing (1991) ist es der Künstler selbst, der am Ende der 54 Minuten langen Passage durch Dämmerbilder und Bewusstseinsdämmerung im Wasser liegt, auf dem Bauch, die Augen geschlossen, vielleicht nur träumend, dass er unter Wasser schläft, und doch ganz eindeutig in dieser Position dem Bild zugleich zu – wie abgewandt. Zugewandt, weil er nun einmal so sichtbar ist. Abgewandt, weil wir nicht wissen können, was in seinem Kopf vorgeht. Schläft er wirklich? Dann wäre dieses Bild von ihm vielleicht zugleich sein Traumbild von sich. Oder ist er tot? Dann ist das ein unmögliches Bild, eine Grenzphantasie, ein Schwebezustand zwischen den Sphären. Vielleicht aber vollzieht er (körperlich und filmisch) einen Tod nach, der nicht der seine ist. Ein «passing away», das ihn ins Leben zurückführt wie das Baby, das an einer anderen Stelle des Videos aus dem Wasser an den Strand tritt und damit in das gleißende Licht von kontrastreichen Schwarzweißbildern.

Dieser Übergang ist der markanteste in einer Arbeit, die von Übergängen jeder Art handelt: leiblichen, natürlichen, mentalen. Immer ist es das Licht, das den Übergang markiert. Die Parameter, denen The ­Passing, das eben zusammen mit Hatsu-Yume (First Dream, 1981) für eine DVD-Edition in der französischen éditions à voir restauriert wurde und nun auch im Programm des Forum Expanded auf der Berlinale auftaucht, gehorcht, sind in erster Linie technische: Was sieht das Kamera­auge in der Nacht? In zweiter Linie sind es aber, durch den beziehungsreichen Titel ausgelöst, metaphorische: Was weiß das Bewusstsein vom Tod? Enthält die Nacht ein Überschreiten einer Schwelle? Was sieht das Bewusstsein vom eigenen Sehen?

Wer die Arbeiten von Bill Viola aus den letzten Jahren wie zum Beispiel das Videofresko Going Forth By Day für die Deutsche Guggenheim Berlin ein wenig verfolgt hat und dabei eine zunehmende Neigung zu ausdrücklich erzählerischen Formen festgestellt hat, wird The Passing mit Interesse sehen. Denn hier sind diese narrativen Elemente schon angelegt, sie sind aber noch deutlich stärker auf das Medium Video selbst bezogen. Viola macht dies an mehreren Stellen deutlich, an denen er mit einer Art Stirnbandkamera durch die Salzlandschaften Utahs wandert. Er wirft einen dramatischen Schatten, und fällt schließlich sogar einmal hin. Diesen paradoxen Subjektiven (man sucht am Schattenbild unwillkürlich nach der ­Kamera, sieht aber dort nichts so richtig, wo sie sein muss) entsprechen später Szenen, in denen der Künstler nachts in einem Bett liegt und das Licht ausmacht. Hier befindet sich die Kamera offensichtlich nahe an, aber nicht unmittelbar auf seinem Kopf.

Diese minimale, allerdings entscheidende Verschiebung wird in The Passing offensichtlich mit dem Medium Video so in Verbindung gebracht, dass dieses dadurch eine spezifische Verwendung zugewiesen bekommt. Es wäre damit das Medium für Bilder, die an der Grenze zwischen menta­lem Bild und registrierendem Bild, zwischen Abtastung (der Gehirntätigkeit) und Aufzeichnung (des Außenwelteindrucks) ihren Ort haben. Wenn man so will, definiert Viola das Video in The Passing synaptisch – elektrische Entladungen in der Dunkelheit lassen Welt entstehen.

Diese zentrale formale Idee verschwindet allerdings fast zwischen einer Menge anderer Motive, die stärker lebensweltlich angebunden sind. Das schon erwähnte Bild von einem Baby findet eine Entsprechung in den Aufnahmen einer alten Frau, die intubiert und künstlich beatmet in einem Krankenbett liegt. Später ist sie in einem Sarg aufgebahrt. Dass es sich dabei um die Mutter und um das Kind des Künstlers handelt, deren Tod und dessen Geburt zeitlich nahe zusammenfielen, ist von Belang für die stärker erzählerischen Dimensionen der Arbeit. Die Ereignisse sind aber eben nur der Anlass für eine Erforschung der Bewusstseinsbilder von Tod und Geburt, die das Video natürlich nicht rekonstruieren, sondern nur in Metaphern übersetzen kann.

Diese haben die unterschiedlichste Qualität. Die Autos, die mit ihrem Licht­kegel nachts das Dunkel der Wüste in ­Nevada zerreißen, und der Zug, der ebenfalls nachts (das ganze Video ist in Schwarzweiß und hat überwiegend nächtliche Szenerien) aus einem Tunnel gefahren kommt, sind potentielle Schockerlebnisse nahe am Geburtstrauma, zugleich nahe an der Erfahrung, durch die es überlagert wird. The Passing will all diese Erfahrungen von beiden Seiten zugleich sehen, von außen und von innen. Die Wasseroberfläche ist dabei die Grenze, die zwischen diesen beiden Zuständen verläuft – sie ist eine trügerische, leicht zu durchstoßende Grenze, die aber doch zwei Lebensbereiche verbindet, zwischen denen Menschen nicht wechseln können. Wer ins Wasser geht, geht aus dem Leben.

In mehreren neueren, in der Berliner ­Dependance der Galerie Haunch of Venison ausgestellten Arbeiten, hat Viola dieses Motiv weiter verfolgt. The Messenger, groß auf eine Wand in dem riesigen Raum im Wedding projiziert, zeigt einen Mann, der im Wasser treibt und dabei ständig zwischen der Wasseroberfläche und dem Dunkel darunter hin und her treibt. Hier hat Viola die radikale Abgründigkeit von The Passing in einen Schaueffekt verwandelt, in ein prächtiges Motiv, das auf eine recht triviale Weise allegorisiert und ursprünglich auch tatsächlich eine Auftragsarbeit für eine Kirche war.

Die auf sechs taschenbuchgroße OLED-Screens verteilten Small Saints sind näher an der Untersuchung der metaphorischen Qualität technischer Bildpotenzen. Die extrem hoch auflösenden Schirme zeigen jeweils eine Person in einer halbnahen Einstellung, die zuerst deutlich, ja fast unheimlich scharf, zu sehen ist, dann aber in einen Wasserguss gerät, der sie buchstäblich wegwischt – sie sinkt aus dem Farbbild in ein schwarzes Bildrauschen zurück, in dem sie noch eine Weile als Schemen erkennbar ist, bevor sie sich daraus wieder «materialisiert» und als begossene Figur langsam trocknet. Dann beginnt der Loop von vorn.

Die «kleinen Heiligen» sind dabei zugleich selbst die «Quelle» des Wassers, denn Viola lässt den Guss aus ihnen selbst «entspringen» und zugleich auf sie einströmen. Die raffinierte Konstruktion überzeugt gerade deswegen, weil sie mit dem Format der OLED-Screens eher auf private Andacht als auf öffentliche Glaubensinstruktion zielen. In dem frühen Video Hatsu-Yume, das Viola 1981 in Japan fertigstellte, finden sich die ersten Ansätze zu dem Leit­motiv des Subaquatischen in seinem Werk. Die Scheinwerfer auf einem Fischtrawler in tiefer Nacht auf dem Meer ziehen hier lange Schlieren, der Ton scheint von unter Wasser zu kommen. Mit seinen Aufnahmen japanischer Rituale der Ahnenbegegnung neben Szenen profaner Urbanität und der praktischen Verrichtungen des Fischfangs ist Hatsu-Yume noch ganz nahe an einer Form von Dokumentarfilm, wie sie zum Beispiel Chris Marker perfektioniert hat. Aber auch hier schon deutet alles auf eine Subjektivität, die sich nicht im Bild für dessen Dauer eine stabile Präsenz als Beobachter gibt, sondern die sich selbst zum Verschwinden bringen möchte.

In Hatsu-Yume verläuft diese Bewegung noch vielfach über Techniken, die zu den geläufigsten Klischees des Videobilds geworden sind: Verlangsamung, Verwischung, Verzerrung des Tons. Aber die Aufnahme von den Tintenfischen, die einfach auf den Boden des Fischerbootes geworfen werden und dort langsam ersticken, ist von unmittelbarer Konkretheit. Es ist das am stärksten objektive, und doch unweigerlich schon stark metaphorische Bild bei Bill ­Viola. Mit The Passing hat er diese Dialek­tik konsequent auf die Möglichkeiten des individuellen Denkens, Träumens, Bangens selbst bezogen. Nicht von ungefähr ist dieses «video­tape», wie er es im Abspann bezeichnet, vor allem ein Wüstenfilm. Man müsste ihn sich einmal gemeinsam mit Gus van Sants Gerry ansehen – das wäre ein Passing ganz nach dem Sinn von cargo.