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9. Juli 2021

Zwischenräume Wong Kar-Wai-Filme: restauriert und wieder im Kino

Von Anna Bitter

Happy Together (1997)

© Criterion

 

Anders als es viele 1997 erwartet hätten, spielt Wong Kar-Wais Happy Together nicht in Hongkong, sondern hauptsächlich in Buenos Aires. Für die beiden Hauptcharaktere der Geschichte, Ho Po-Wing (Leslie Cheung) und Lai Yiu-Fai (Tony Leung Chiu-wai), steht ihre Heimatstadt von diesem Punkt der Welt aus gesehen Kopf. Während die ehemalige britische Kolonie  an die Volksrepublik China zurückgeht, sind die beiden nach Argentinien gereist, um in der Ferne nicht nur ihre eigene Beziehung wieder geradezubiegen, sondern auch jene zu ihrer Heimatstadt.

Doch der Traum eines Neuanfangs erweist sich schon bald als Illusion: Nachdem Po-Wing und Fai in Argentinien gestrandet sind, beginnen sich ihre Wege auseinander zu bewegen. Fai endet als Promoter einer Tango Bar, Po-Wing arbeitet als Stricher. Getrennte Wege, getrennte Betten; eine gemeinsame Hauskasse, in der immer Ebbe herrscht. Erst als die größtmögliche Distanz zueinander erreicht zu sein scheint, beginnt eine neue Annäherung – und in Fai der Entschluss zu reifen, nach Hongkong zurückzukehren. Er fängt an in einem Schlachthof zu arbeiten, um auf Hongkonger Zeit zu sein und schreibt schließlich seiner Familie. Ein kurzer Brief, der zu einem langwierigen Annäherungsversuch wird.

Oft dreht sich Wong Kar-Wais Kino um vergleichsweise simple Ideen von Beziehungen, Verhältnissen, Annäherungen, verpassten Chancen. Komplexer sind die dabei entstehenden Zwischenräume zwischen Menschen und Orten. Dass der Regisseur dabei einen ganz eigenen Stil entwickelte, machte ihn im Hongkong der späten 80er- und 90er-Jahre – nicht zuletzt aus der Perspektive des europäischen Festivalkinos – zu einer Erscheinung mit Alleinstellungsmerkmal. Dabei lassen gerade die Nuancen, mit denen sich Wong Kar-Wai seit seinem Debüt von weiten Teilen der Genre-Produktion jener Jahre abhebt, sein besonderes Verständnis für die Geflechte vielschichtiger Beziehungen sichtbar werden. Auch in ästhetischer Hinsicht bewegte er sich, so scheint es im Rückblick, gewissermaßen von Hongkong weg, um sich der Stadt von neuem und aus ganz eigener Perspektive zu nähern.

 

As Tears Go By (1988)

© Criterion

 

Doch von vorn: Wong Kar-Wais Debüt fiel in eine Zeit, als John Woo mit A Better Tomorrow (1986) das Action-Kino renovierte und das Hongkong-Kino allgemein nach jungem Regienachwuchs suchte, um den hohen Produktivitätsvorgaben zu entsprechen. As Tears Go By (1988) ist gewissermaßen der skeptische Gegenentwurf zu einem «better tomorrow». Der Film erzählt die Geschichte eines selbstauserkorenen Bruderpaares im Hongkong der Spätachtziger, das von Triadenstrukturen durchsetzt ist und beherrscht wird. Wah (Andy Lau) und Fly (Jacky Cheung) sind Teil eines Zusammenschlusses mehrerer kleiner Jugendbanden, die sich allesamt um einen Gangsterboss scharen und vornehmlich darauf angesetzt sind, Schulden einzutreiben. Die Spannungen unter den jungen Burschen sind groß und geprägt von dem Wunsch nach Anerkennung. Jeder von ihnen träumt vom ganz großen Aufstieg, dem «next step». Kleinkriminelle, die große Gangster mit «street credit» werden wollen. Vor allem Fly hat gewaltige Ambitionen und eine entsprechend ambitionierte Großmäuligkeit, mit der er immer wieder auf die Fresse fällt. Für Wah wird es unterdessen immer unmöglicher, den Jüngeren vor den Gewaltexzessen auf den Straßen Hongkongs zu bewahren. Immer wieder rät er ihm, zurück aufs Land zu seinen Eltern zu gehen. Doch sein Wunsch, es einmal zu etwas zu bringen, treiben Fly in die entgegengesetzte Richtung.

Ästhetisch bewegt sich As Tears Go By noch relativ nah entlang des generischen Stils der in jenen Jahren so erfolgreich werdenden Gangsterfilme. Geschichten um Bruderschaft, Gewalt und Ehre, blau und rot leuchten die Straßen Hongkongs. Steigerten sich die Produktionen, die heute unter der Sub-Genrebezeichnung Heroic Bloodshed bekannt sind, teilweise zu regelrechten Blutexzessen (mit vollautomatischer Waffengewalt), erweist sich die Gewalt in As Tears Go By nicht als Hoch der Gefühle. Zwar gibt es in As Tears Go By Gefechte, die dem populären Gangsterfilm-Genre ihre Reverenz erweisen (für die Action-Choreografien in seiner wuxia-Annäherung Ashes of Time (1994) engagierte Wong Kar-Wai den renommierten Sammo Hung – und bewies damit seine Affinität zum florierenden Genrekino Hongkongs). Für Wong Kar-Wais Kino entscheidender ist allerdings nicht die Entladungen von Gewalt an sich, sondern das Kurz-davor und das Kurz-danach. Es geht um das Leben in Spannungsräumen: zwischen gewaltförmigen Ausbrüchen und der nicht weniger explosiven Mitteilung zwischenmenschlicher Konflikte. Fragile Beziehungen und Zwischenzustände, denen Wong Kar-Wais Kino viel Raum gibt.   

 

Days of Being Wild (1990)

© Criterion

 

Bereits sein zweiter Film Days of Being Wild (1990) verstärkt die mit dem Debüt gesetzten ästhetischen Ansätze. Vor allem das Parallelisieren und Kreuzen verschiedener Handlungsstränge und Episoden ermöglichen Wong Kar-Wai, sein Kino weiter mit der Erzählung verpasster Chancen und kurz aufblitzender Begegnungen aufzuladen. Leslie Cheung Chiu-wai, um den Wong Kar-Wai seinen Days of Being Wild-Cast ergänzt, spielt den reichen, nichtstuenden Adoptivsohn Yuddy, der sich seine Zeit hauptsächlich mit Frauen vertreibt. Eine von ihnen ist die junge Li Su-zhen (Maggie Cheung), die am Einlass eines Stadions arbeitet. Aus einer Minute mit ihr, einem Bruchteil aus dem Fluss der Zeit, werden schnell ein paar Stunden, Tage und Wochen. Doch für Yuddy ist diese Beziehung — wie alle Beziehungen, die er eingeht —nicht von Dauer. Während sich Yuddy schon mit der Nächsten eingelassen hat, trifft Su-zhen mit gebrochenem Herzen auf den Polizisten Tide (Andy Lau), dem sie auf seiner Streife durch die Nacht ihr Herz ausschüttet. Eine Liebesbeziehung deutet sich an, ohne jemals wirklich ausgesprochen oder ausagiert zu werden. Während sich ihre Wege fortan verpassen, werden sich diejenigen von Yuddy und Tide zufällig kreuzen. Es ist dieses Kreuz und Quer der Figuren, ihrer Wege und ihrer Gefühle, die Days of Being Wild prägen. Immer wieder tauchen Figuren aus dem Nichts auf, streifen sich – und verschwinden ebenso schnell wieder in den Strudeln einer verzweigten Geschichte. Ein großes Delta sich kreuzender Gefühle und zwischenmenschlicher Verstrickungen, das hier aus allen Richtungen zusammenfließt.

Seit seinen Anfängen zeichnet sich Wong Kar-Wais Kamera dabei durch eine besondere Nähe zu den Figuren aus – auch ganz konkret, räumlich und physisch. Sie zeigt diese Figuren nicht nur in ihrem alltäglichen Driften durch urbane Umgebungen. Sie ist immer auch Ausdruck figurenpsychologischer Gefühlswelten. Ob stilprägende Schwenks, die Bewegungen verwischen oder starre Einstellungen, die Unbeweglichkeit figurieren.

 

Fallen Angels (1995)

© Criterion

Chungking Express (1994)

© Criterion

 

Dass die Kameraarbeit komplexe Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren übersetzt, zeigt sich wohl am deutlichsten in Fallen Angels (1995). Die Kamera operiert hier als unmittelbare Entsprechung sich tangierender, aber niemals wirklich stattfindender Begegnungen. In extremen Weitwinkeln begleitet Wong Kar-Wai Chi-ming (Leon Lai) und seine namenlose Partnerin (Michelle Reis), das zentrale Paar des Films, auf ihren Wegen durch die Stadt, die exakt dieselben sind. Umlaufbahnen, auf denen beide unterwegs sind, auf denen sie sich allerdings niemals begegnen. Er ist Berufskiller, sie beliefert ihn mit Informationen und trifft die Vorbereitungen. Es ist Teil ihrer Profession, sich nicht persönlich zu kennen, sondern nur am Rande voneinander Notiz zu nehmen. Beide bleiben in der Periphere des anderen, am Rande eines Blickfelds, das sich zu seinen Rändern hin verliert. Die besondere Optik des Films adaptiert diesen Beziehungsstatus, setzt die Personen und ihre Umgebung in eine Latenzbeziehung. Es entstehen Bilder, die einem besonderen Gravitationsfeld gleichen, in das die Umgebung stetig hineingesogen wird und die Figuren niemals nur für sich, sondern immer in Bezug zu ihrem Umfeld erscheinen.

Auch Chungking Express (1994) kreist im Wesentlichen um die Geschichte zweier junger Polizisten, die ihren verflossenen Beziehungen nachtrauern. Während sich für den einen die junge Faye (Faye Wong) als Türöffnerin zu einem möglichen Neuanfang erweist, stehen für Ah Wu (Takeshi Kaneshiro) die Zeichen nicht so gut. Er hat es schwer, von seiner alten Liebe loszukommen, auch wenn er sich ein Ultimatum setzt, um sie zu vergessen. Wong Kar-Wai hat den gesamten Film über mit langen Brennweiten aus weiter Distanz gearbeitet, die die Figuren dennoch nah wirken lassen. Das Spiel mit menschlichen Beziehungen lässt sich bis in die technischen Details seiner Filme hinein verfolgen. Verpasste Begegnungen, verflossene Lieben – Verhältnisse, die vorbei sind, mit denen aber noch nicht abgeschlossen wurde – resonieren so gesehen auch in der technischen Tiefenstruktur seiner Filme.

«Beziehung» als Lebensmodell erscheint bei Wong Kar-Wai dabei nicht als Zielerfüllung einer Suche nach Zweisamkeit, sondern als instabiler (Zwischen-)Raum. Auf eindrückliche Weise zeigt sich das auch an einem Nebenpaar in Fallen Angels. Ho Chi-mo (Takeshi Kaneshiro), dessen Vater Nachtmanager in den Chungking Mansions ist, hat nicht genug Geld, um etwas Eigenes aufzubauen. Nachts bricht er deswegen in fremde Ladengeschäfte ein, um die Geschäfte zu später Stunde als sein eigener Boss weiterzubetreiben. Auch eine Liebesbeziehung ist für ihn ein Einbruch: die Verletzung eines geschlossenen, kohärenten Raums – und seine Erweiterung auf ein größeres Umfeld. Dabei wird er selbst zum Ziel eines solchen Einbruchs. Verliebt sich als Spätzünder das erste Mal in seinem Leben am 30. Mai 1995, bevor das Mädchen, das einen anderen liebt, wieder aus seiner Hemisphäre verschwindet. Am Ende bleibt ihm nur ein Video-Tape, auf dem sein kurz darauf sterbender Vater zu sehen ist. Über die Videokamera haben die beiden wortkargen Männer einen Weg gefunden, zu kommunizieren. Videokommunikation als Chiffre für Wong Kar-Wais Kino, die Kamera als Vermittlerin von ungleichen Paaren: Lebendigen und Toten, Personen und Städten, Berufskillern und Informantinnen.  

 

In the Mood for Love (2000)

 

Nach Chungking Express und Fallen Angels ist In the Mood for Love (2000) dann schon wesentlich gesetzter erzählt. Die Bildführung ist ruhiger, die Bewegungen tendieren nicht mehr dazu, sich zu verflüchtigen. Was sich als Zurücknahme einer eklektisch anmutenden (aber immer wie ein präzises Uhrwerk zusammenspielenden) Bildmontage lesen lässt, entpuppt sich nun als Ästhetik fest vorgezeichneter Lebenswege. Wieder einmal sind die Beobachtungen der Kamera genaueste Nachempfindungen einer labilen Gefühlswelt, die sich zwischen zwei Menschen aufbaut, deren Ehepartner sie miteinander betrügen. Wong Kar-Wai versteht es mit viel Feingefühl, die Unsicherheit, Einsamkeit und den enormen Druck der ungewollten Leidensgenossen zu zeigen. Wo sich die beiden ihre Zuneigung nicht eingestehen können (oder wollen), helfen in In the Mood for Love allgegenwärtige Spiegel nach. Wie durch ein Kaleidoskop gesehen splittern sich die Räume auf – und setzen zugleich die beiden in Scherben liegenden Eheleben zueinander in Beziehung.

Einer dieser Umwege, die sie gehen, um sich ihre Zuneigung mitteilbar zu machen, sind kleine Probendurchläufe, die sich immer wieder unvermittelt in die Geschichte einstreuen: Szenen, in denen Chow Mo-wan (Tony Leung Chiu-wai) und Su Li-zhen (Maggie Cheung) markante Szenen aus ihrem Eheleben re-enacten. Wie mögen sich ihre Ehepartner einander das erste Mal näher gekommen sein? Wie werden sie diese zur Rede stellen? Wie dem anderen mitteilen, dass sie in ihre alten Beziehungen zurückkehren? In der Wiederholung der Szenen hebt sich die Ernsthaftigkeit der Situation mitunter auf. Umso schmerzvoller bricht jedoch immer wieder die Realität wirklicher Gefühle in die gestellten Szenen ein. 

Oft spielt die zeitliche Komponente eine wichtige Rolle in Wong Kar-Wais Filmen. So werden Zeitpunkte, an denen die Charaktere seiner Filme sich verlieben, von diesen zum Teil bis auf die Minute genau im Off-Kommentar datiert. In Chungking Express bekommt die Beziehung zu einer verflossenen Liebe, wie alles in unserer modernen Wegwerfgesellschaft, ein verbindliches Verfallsdatum, das vorgibt, mit der Vergangenheit abschließen zu können. Selbst Jahre später, als Mo-wan wieder das Haus besucht, in dem er einst mit Li-zhen in unmittelbarer Nachbarschaft gelebt hat, werden in ihm die Erinnerungen an ihre Beziehung wach. Wong Kar-Wais Figuren bewegen sich irgendwo zwischen wind back und fast forward Modus. Ihre Existenzen vibrieren in dieser Zeitspanne, gewinnen aus dem Verwirrspiel der Zeit ihren melancholischen Touch. 

Auch 2046 (2004) schafft den Bogen einer offenen Rückkehr zu Orten, Figuren, und Kalendertagen, die den Fatalismus verrinnender Zeit aufbricht und die Figuren in die besondere Spannung unüblicher Zeitverhältnisse setzt. Als Fortsetzung von Days of Being Wild und In the Mood for Love angelegt, dreht sich die Geschichte wieder um Chow Mo-Wan (Tony Leung Chiu-wai), der mittlerweile erfolgreicher Autor ist und in einem Sciencefiction Roman mit dem Titel 2046 alte Romanzen verarbeitet. Die wechselnden Bewohnerinnen des benachbarten Apartments, das – wie das Hotelzimmer, in dem er einst heimlich Su Li-zehn getroffen hat – die Zimmernummer 2046 trägt, rufen in ihm Erinnerungen an die unbeantwortete Liebe wach. Es sind Wiederbegegnungen dieser dritten Art, die ihn auf die unerfüllte Zweisamkeit mit Li-zehn zurückwerfen. 2046 ist eine einfache Zimmernummer, ein Raum aus der Vergangenheit, eine Datierung in der Zukunft – und ein Zeitpunkt in der Geschichte, an dem Hongkong seinen Sonderstatus verlieren wird.

 

2046 (2004)

© Criterion

 

Wong Kar-Wais Kino lebt aus der Latenz dieser offenen Bezüge. Mit 2046 schließt er vorerst den Bogen um eine filmische Welt, die sich gegen jedes abschließende Vergessen sträubt. Worum es diesem Kino nicht zuletzt geht sind jene Momente der Geschichte, in denen Zeit nicht einfach chronologisch, sondern als Verschränkung nicht abgeschlossener Vergangenheit und offener Zukunft abläuft. Heute, angesichts der jüngsten Zensurentscheidungen, die nicht nur Hongkongs Filmfabrik treffen, entsteht auch auf dieser Ebene eine unverhoffte Aktualität. 

 

Wong Kar-Wais Filme wurden Anfang des Jahres von Criterion in restaurierter Fassung rausgebracht und sind aktuell in den Yorck-Kinos Berlin und im Moviemento in neuem Glanz wieder zu erleben