spielfilm

9. März 2017

Marx & Baldwin Über zwei Filme von Raoul Peck und ihre Verbindung

Von Fabian Tietke

Der junge Karl Marx

© Neue Visionen

 

Großzügig nimmt einen der Pressetext zu Raoul Pecks neustem Film Der junge Karl Marx an die Hand und diktiert die folgende Sichtweise in die Feder: «Der junge Karl Marx ist großes historisches Kino über die Begegnung zweier Geistesgrößen, die die Welt verändern und die alte Gesellschaft überwinden wollten. In großen Bildern und mit viel Sensibilität erzählt Regisseur Raoul Peck die Entstehungsgeschichte einer weltbekannten Idee als Porträt einer engen Freundschaft. Ihm gelingt ein so intimer wie präziser Blick in die deutsche Geistesgeschichte, die durch zwei brillante und gewitzte Köpfe seit der Renaissance nicht mehr so grundlegend erschüttert wurde.» Wirklich übelnehmen kann man es der Filmkritik dann halt nicht, dass sie Raoul Pecks neusten Film ausschließlich als historisches Biopic verhandelt.

Glücklich schienen in dieser Lesart die Wenigsten mit dem Film zu werden: Georg Seeßlen  verortet Der junge Karl Marx auf epd-film wortkarg in der Tradition linker Biographieverfilmungen irgendwo zwischen Thälmann und Luxemburg, SpiegelOnline  bemängelt die «unbeholfene Verdichtung in vermeintlichen Schlüsselszenen» und Sascha Westphal bezeichnet den Film gar als Update des sozialistischen Realismus». Die Biopic-Oberfläche des Films, die Erzählung von Marx' Vertreibung aus Deutschland und dem Mäandern durch die Exilstationen, der entstehenden Freundschaft mit Engels kombiniert ein sprödes Narrativ mit glossy Kostümbildern.

Glücklicherweise ist die Ebene des Biopics nicht alles, was der Film zu bieten hat. In einem Gespräch, das ich mit Raoul Peck während der Berlinale geführt habe, betont Peck die Ähnlichkeiten zwischen I Am Not Your Negro und Der junge Karl Marx. Folgt man dem, so liegt es nahe, das Gedankenexperiment zu unternehmen, auch den Marx-Film als Essayfilm zu verstehen – nur eben gekleidet in die Form eines Biopics.
 

I Am Not Your Negro

© Velvet Film

 

Und in der Tat: hat man sich erstmal zu dieser Verkomplizierung der Dinge durchgerungen, spricht eigentlich alles für diese Deutung: Da wäre erstens das auteuristische Argument, dass sich Peck zentralen Themen im Laufe seines filmischen Werks wiederholt mehrfach genähert hat (und zwar jeweils einmal als Dokumentarfilm/Essayfilm und einmal als Spielfilmprojekt). Das gilt für die Annäherung an Patrice Lumumba in dem Essayfilm Lumumba – Der Tod des Propheten (1992) und dem Spielfilm Lumumba von 2000 ebenso wie für die Rolle, die internationale NGOs nach dem Erdbeben in Haiti 2010 spielten, der sich Peck 2012 in dem Dokumentarfilm Haiti: Tödliche Hilfe und 2014 mit dem Spielfilm Mord in Pacot widmete. I Am Not Your Negro und Der junge Karl Marx wären in Analogie dazu ein Diptychon über die theoretischen Grundlagen Raoul Pecks oder in seinen eigenen Worten: «Ich habe in meinem Denken zwei Standbeine: Das eine ist Marx und das andere ist Baldwin.»

Stärker noch als in den früheren Projekten Projekten – das wäre das zweite Argument – gibt es strukturelle, konstruktive Verbindungen zwischen I Am Not Your Negro und Der junge Karl Marx: beide Filme collagieren Versatzstücke aus Schriften der beiden Theoretiker, beide Filme formen aus diesen Versatzstücken eine Intervention in die Gegenwart. Diese Intervention ist im Falle von I Am Not Your Negro auf der filmischen Ebene schon durch die Bilder aus Ferguson prägnant angelegt. Im Marx-Film ist sie weniger offensichtlich, sie ist jedoch – das teilen viele Rezensionen – deutlich angelegt. Sie besteht weniger in einem Gemeinplatz wie dem Hinweis auf «die Aktualität» von Marx, sondern gibt wesentlich präzisere Punkte am Denken von Marx für die Theoriebildung der Gegenwart zu Bedenken.

Die beiden folgenden Absätze sollen das an einigen Elementen des Films nachvollziehen: Neben der Bromance zwischen Marx und Engels ist die Auseinandersetzung der beiden mit der «moralischen» Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen (im Film vertreten von Proudhon und Wilhelm Weitling) der zentrale Fokus von Der junge Karl Marx. Marx und Engels stellen dieser Kritik, die ihrer Meinung nach zu kurz greift, ein Theoriegebäude entgegen, das auf einer präzisen, nüchternen Analyse der Realität basiert und erst dann Angriffspunkte auszumachen versucht. Es ist also schwer zu vertreten, dass Peck pauschal das Marxsche Theoriegebäude als aktuell präsentieren will und nicht – wie im Falle von Baldwins Analyse der USA in den 1960er Jahren – vor allem dessen Ansatz.

Sucht man im Film nach Spuren für diese Deutung fällt einem unweigerlich die Eröffnungsszene ein. Ein paar ärmliche Gestalten klauben Brennholz aus einem Forst. Wenig später reitet die Obrigkeit knüppelschwingend daher und prügelt auf die Gestalten ein. Einige der Reisigsammler bleiben anscheinend tot liegen. Über das Ende dieser Szene schiebt sich ein Marxzitat, gesprochen von August Diehl, der den jungen Marx im Film verkörpert. Visuell erinnert die Szene an schlichtes Reenactment, wie es in «historischen Dokumentationen» seit Jahren Konvention ist. Doch anders als in diesen Machwerken ist diese Szene in Der junge Karl Marx nicht bloßes Reenactment einer historischen Wirklichkeit, sondern das Reenactment einer fiktiven Erfahrung einer fiktionalisierten historischen Person – Marx. Ein Reenactment zweiter Ordnung. Noch vor dem ersten Auftritt des sinnierenden Marx am Fenster in Köln zeigt der Film also die historische Empirie, auf der Marx' Theorie später aufbauen wird.

Das dritte Argument bezieht sich auf einige Details, die Raoul Peck in den Film einbaut und die die Wirkmächtigkeit der Theorie von Marx andeuten sollen. Zwei dieser Details seien beispielhaft genannt: Da wäre zum einen die Rolle von Mary Burns, die sowohl Engels einen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Arbeiter_innenklasse in England eröffnet, aber auch in Gesprächen mit Jenny Marx resolut erklärt, dass sie nicht gedenke, zu heiraten. Burns wird in dem Film recht deutlich als eine Art aus den Umständen heraus geborene Protofeminstin gezeichnet. Das Theoriegebäude von Marx/Engels basiert auf den Erfahrungen von Arbeiter_innen wie Mary Burns und gibt ihnen im Gegenzug Begriffe und Struktur, die eigene Situation zu beschreiben. Die Frauenbewegung wird dieser Struktur später den Feminismus zur Seite stellen. Das zweite «Detail» ist die Präsenz von Schwarzen in dem Film: Peck selbst hat darauf hingewiesen, dass die schwarzen Statisten, die er in einer Zuschauermenge bei einer Veranstaltung mit Proudhon zeigt, eine historische Realität wiedergeben. Wie alle Metropolen war auch das Paris des 19. Jahrhunderts deutlich weniger weiß als die europäische historische Imagination gemeinhin glaubt. Wichtiger noch ist der Auftritt des Regisseurs als Gesandter Haitis in einer kurzen Szene in Brüssel: Raoul Peck kommt die Treppe herunter und sagt, er werde die Ergebnisse des Haiti-Gesprächs berichten. Dann wendet sich der Film wieder einer Begegnung zwischen Marx, Engels und Proudhon zu. In dieser kurzen Szene öffnet Peck den Blick auf die internationalistische Wirkmächtigkeit der Marxschen Theorie. Einer Theorie, die ausgehend von einer präzisen Analyse der Verhältnisse in England zu einem unverzichtbaren Analysewerkzeug politischer Auseinandersetzungen in der ganzen Welt wurde.

Nimmt man diese drei Punkte – die Parallelen in Pecks Werk, die gezeigten Debatten und den Spin in Richtung Feminismus und Internationalismus – ernst, fällt es schwer Der junge Karl Marx auf einen biographischen Kostümfilm zu reduzieren. Wie I Am Not Your Negro ist Der junge Karl Marx ein durch und durch gegenwärtiger Film, gebrochen im Spiegel der Geschichte: über die Lehrsamkeit des Blicks zurück für die Kämpfe der Gegenwart.