spielfilm

12. März 2016

Kino, Paris Suite Armoricaine (Pascale Breton, F 2015)

Von Ekkehard Knörer

Françoise, Kunsthistorikerin, kehrt zurück nach Rennes, wo sie studiert hat. Die Universität ist vertraut, die Wege sind vertraut, das Rauschen der Bäume ist vertraut, einige der Freunde von einst leben noch hier, aber es liegen auch die langen Jahre in Paris dazwischen. Françoise blickt in den leeren Vorlesungsaal, in dem sie die Technik probt, ein Gemälde von Poussin wird projiziert, ein Grenzfluss wird überquert, und sie erinnert sich, wie sie einst als Studentin in diesem Saal saß.

Suite Armoricaine ist ein Film über das Vergehen der Zeit, aber nicht über die vergangene Zeit; das Erleben, um das es ihm geht, ist nicht Nostalgie, also der vergebliche Wunsch, etwas festzuhalten oder wiederzubekommen, das vergangen ist. Vielmehr öffnet er sich, erzählt er von Francoise, die sich öffnet, für ein Fließen und Strömen der Zeit, die sich öffnet und es fluten, nein so massiv ist es nicht, es drängen, nein so aggressiv ist es nicht, es nähern sich Dinge, Bilder, Geräusche von früher.

Ein Freund hat ihr zur Ankunft ein Foto geschickt. Sie ist jung auf dem Foto, im Kreis von Kommilitonen, die genauso jung sind. Einigen wird sie wiederbegegnen. Es wird vertraut sein, unvertraut, und zwischen vertraut und unvertraut liegen ja auch ganze Welten; eine der Kommilitoninnen, Moon (Elina Löwensohn), treibt am Rande der Obdachlosigkeit durch ihr Leben, einer der Kommilitonen ist als Dozent an der Universität, hier in Rennes, arriviert.

Françoise ist nicht arriviert, will nicht arrivieren, und gerade die Ankunft in Rennes, die Rückkehr nach Rennes, wo sie als Maitre de conference nun eine Lebenszeitstelle hat, macht ihr das klar. Es ist Sommer am Anfang des Films, Francoise trägt ein dünnes Nachthemd, sie telefoniert mit ihrem Lebensgefährten, Sven, der in Paris ist, später, da ist Silvester, sieht man ihn einmal, sehr kurz, laut und deutlich und nah ist jetzt, hier im Sommer seine Stimme; ich sehe dich vor mir, sagt er, du bist fast nackt, du blickst in einen Spiegel. Sie ist fast nackt, sie blickt einen Spiegel, in den Monaten, die folgen, wird sie sich aus seinem Blick verlieren.

Sie verliert sich, sie findet sich. Sie träumt bretonische Träume und erzählt davon und das führt dazu, dass zwei junge Ethnologen sie zu ihrem Großvater befragen, der bretonisch sprach und eine Art Heiler war. Die Kapitel des Films sind mit handschriftlichen Titeln nicht auf Tafeln, sondern im Filmbild selbst markiert, bretonische Zeilen darunter, Datumsangaben, und immer wieder «here and now», «ici et maintenant», einmal auch «her and now». 

Suite Armoricaine ist ein Film im Hier und Jetzt; durch sein Bewusstes und Unbewusstes jedoch lässt er das Einst mal vage, mal konkret, und auch das jetzt in perspektivisch verschobenen Wiederholungen strömen. (Die Wiederholung verfestigt hier nichts; nichts verfestigt sich hier; der Film gleitet durch die Zeit wie eine Hand durch fließendes Wasser oder ein Boot durch einen See, mit diesem Bild endet der Film.)

Françoise, von Valérie Dréville mit eigentümlich entschlossenem Somnambulismus gespielt, ist die zentrale Figur von Pascale Bretons Film, der aber selbst so durchlässig ist, dass er sich für andere Figuren, Ion vor allem, Moons Sohn, viel Zeit nehmen, ihnen viel Platz geben kann. Und der Musik, die klassisch sein kann oder Punk. Und einer Fahrt durch die nachtdunkle Stadt mit nachthellen Lichtern. Und so vielem, das im Kreis zu führen scheint, aber doch genau an den Platz passt, den es erhält. Ion, ein wenig eine Spiegelfigur zu Françoise, erlebt fast eine Art Bildungsroman, verschwindet aus dem Blick, verschwindet in seiner Pappkartonhöhle in der Bibliothek, verwildert fast und findet doch ins Leben und zu seiner blinden Freundin Lydie zurück. Er hat sich «here & now» (wie «love & hate») auf die Finger tätowiert.

Schwer ist der Impressionismus zu beschreiben, die Freiheit der Erzählbewegungen, das sanfte, fast unmerkliche Öffnen der Tore der Gegenwart und der Realität, des Here und des Now, für andere Zeiten, Zustände, Dinge. Zweieinhalb Stunden nimmt Breton sich Zeit, was wunderbar ist, was anders nicht ginge, die Zeit des Erzählens bekommt so eine eigene, fast haptische Dimension, man öffnet sich beim Sehen der Szenen selbst auf unbestimmbare Weise für das, was man im Film vorher schon sah.

Suite Armoricaine ist, bleibt dabei eigen, besteht auch nicht darauf, scheint mir, dass ich alles mitmache, was er macht. Aber gerade in diesem Eigensinn gewinnt er etwas wie eine Persönlichkeit, die über das reine künstlerische Artefaktsein hinausreicht. Was ich für diesen Film empfinde, ist, während ich ihn sehe, und hinterher auch, etwas wie Freundschaft, wenn nicht sogar Liebe.