spielfilm

30. Mai 2016

Fünfte Klasse zum Diktat Filmhinweis für Berlin: Ein einfaches Ereignis (1974) von Sohrab Shahid Saless im Zeughaus

Von Bert Rebhandl

© Sohrab Shahid Saless

 

Wenn eine Geschichte den Titel Ein einfaches Ereignis trägt, dann schwingt da immer ein Moment von Widerlegung der eigenen Prämisse mit. Denn eigentlich gibt es ja keine einfachen Ereignisse, auch Banalitäten sind komplex, und wenn es um das Leben von Menschen geht, dann hört es sich mit dem Einfachen sowieso auf. Sohrab Shahid Saless schien allerdings in seinem ersten Film tatsächlich darauf abzuzielen, ein einfaches Ereignis auf eine einfache Weise zu erzählen, es also formal als solches zu bestätigen.

Ein Junge aus einer fünften Schulklasse im nördlichen Iran steht im Mittelpunkt: Mohammad Zamani. Seine Wege sind die Geschichte des Films: entlang der Bahngleise, von denen er weggescheucht wird, zur Schule; von dort zum (Kaspischen) Meer, wo ihm sein Vater den kargen Fischfang  übergibt, den er zum Händler bringt, danach das Geld zum Vater, der in einem Cafe an der Bar steht und trinkt; nach Hause, wo die Mutter weitere Aufträge für ihn hat. Der einzige halbwegs private Platz für Mohammad ist die Fensterbank in dem Zimmer, das er mit den Eltern teilt.

Einmal erblickt Mohammad durch ein offenes Hoftor ein schönes Mädchen. Es ist ein Moment, an dem er hängen bleiben könnte, aber der Film kommt nicht darauf zurück, denn es geht für Mohammad immer weiter. Auch dann noch, als das Ereignis eintritt, von dem der Film wohl im Titel spricht. Es ist eine Szene von unglaublicher Brutalität, jedenfalls für jemanden aus einer Kultur, die das Leben für kostbar hält. Saless gibt kaum Hinweise darauf, wie die beiden Männer, der Vater und der Junge, auf den Tod der Mutter reagieren, der Vater ist entweder erschöpft oder betrunken oder beides und auf jeden Fall geht er nicht aus sich heraus.

Abbas Kiarostami hatte ein paar Jahre davor einen Moment, wie ihn auch Mohammad auf seinen Wegen erlebt, als Komödie inszeniert: Ein Junge trägt Brot nach Hause, in einer engen Gasse versperrt ein Hund den Durchgang, die Sache lässt sich als Mutprobe lösen, dazu gab es Musik von den Beatles. Von Nan va Koutcheh führt ein direkter Weg zu Der weiße Ballon.

Saless geht die Sache viel grundsätzlicher an. Das zeigt sich in der Form, in der er Faktizität im Film reflektiert. Das tut er vor allem mit der Figur des Lehrers. Die Szenen aus dem Unterricht sind alle «frontal»: Der Stoff besteht aus Diktaten und Definitionen. Nichts wird vermittelt, alles wird gesetzt (und von den Buben mit jagenden Kugelschreibern notiert). Das Verständnis, das daraus erwächst, macht Saless an einem Beispiel deutlich, als Mohammad im Cafe von seinem Vater gebeten wird, einen Brief vorzulesen, den ein Bekannter bekam: Hier zeigt sich, dass der Text auch schon so geschrieben ist, dass ihm ein bewusstloses Herunterrattern am besten entspricht. Irgendjemand ist nach Teheran gegangen, wir haben noch nichts von ihm gehört. Tatsache, Tatsache, Tatsache. Einfache Ereignisse in Folge, keine Verknüpfungen im Subjekt, keine innere Erzählung.

Das nackte Leben bekommt hier noch einmal einen anderen Sinn: Es ist selbst das einfache Ereignis, noch die einzige Traumszene ist nichts anderes als eine Einstellung aus dem Film, die einen davor real gegangenen Weg zeigt. Der Traum schafft keine Differenz zum Leben, er macht es nur nach. Der Tod ist das einfachste Ereignis: «Wir alle sterben», das ist alles, was der Lehrer dazu zu sagen hat. Ein Leben, das sich selbst nur als faktisch nehmen kann, ist für uns aber kein Leben.

Auch für Saless nicht, das macht sein Film durch Negation deutlich. Die einzige Andeutung eines Raums jenseits der Diktate des Alltags macht er in Form der Musik. Karge, aber stark akzentuierte Motive, die mit den Geräuschen der Welt (die Schule hat einen ratternden Generator) fast identisch sind, aber eben nicht ganz. Nur hier deutet Saless an, dass seine Position modern ist, und dass die Form der Einfachheit auf einen Effekt des kritischen Umschlags zielt - auf ein Heraustreten aus den Zusammenhängen, die hier durchlaufen werden. Könnte Mohammad seine Geschichte erzählen? Er würde wohl versuchen, sie herunterzurattern.

Ein einfaches Ereignis (1974) eröffnet am Dienstag die Retrospektive zu Sohrab Shahid Saless im Zeughauskino

Hier noch ein Text von Fabian Tietke zum Film