spielfilm

6. Dezember 2014

Die Spex-Trilogie Fleisch ist mein Gemüse, Happy-Go-Lucky, Gomorrha

Von Ekkehard Knörer

Gestern wollte mir in einem kurzen Disput über Mike Leigh partout nicht mehr einfallen, wo ich damals über Mike Leighs HAPPY-GO-LUCKY geschrieben habe und was wohl meine Pro-Argumente gewesen sein mögen. Dann machte es Klick wie beim Fall der Münze in einen Wurlitzer-Schlitz: Das war in der Spex. Halb verdrängte Kurzgastspiel-Episode im Jahr 2008, die ziemlich abrupt damit endete, dass ich den von (damals: Chefredakteur) Max Dax über die Maßen geliebten GOMORRHA so mäßig besprach, wie ich ihn fand. Dies sind die drei für die Spex geschriebenen Texte, hiermit ins cargo-Archiv exhumiert.

 

Fleisch ist mein Gemüse (Christian Görlitz, D 2008) | Spex #314, Mai/Juni 2008

Am Anfang eine Schönheitsoperation: Für einen Moment sieht man den jungen Heinz Strunk (hervorragende Wahl: Maxim Mehmet) in der Straßenbahn, das Gesicht von schwerster Akne Conglobata entstellt. Gleich darauf geht vor der Leinwand ein roter Vorhang zu, es hängt rechts ein Hirschkopf an der Wand und links, in derselben Manier, der echte Heinz Strunk (d.i. Mathias Halfpape). Durchs Mittun gibt Strunk dem Film aus der Distanz dieser wiederkehrenden Rahmung also seinen Segen. Dann die ästhetische Schönheitsoperation: Die Akne, nuschelt der Strunk an der Wand, ist im Film weniger schlimm. Und in der Tat, ein Höckerchen hier, ein Pustelchen da, aber der Film-Strunk ist, anders als der im Buch, nicht entstellt. Erste, gravierende Rücksicht auf Zumutbarkeit. Sie ist symptomatisch.

Dies ist ein Universal-Film. Er will das große Publikum, ohne die eingeschworenen Strunk-Fans zu vergraulen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit des Originals, die grotesk naturalistische seiner Details und die tiefere auch. Strunks autobiografischer Roman war ein traurig-komisches Mahnmal provinzieller Trostlosigkeit. Bericht von einem Leben aus Mucken und Daddeln und Saufen und Wichsen. Das Mucken als Sinnbild fürs auf den Hund gekommene Streben nach dem Schönen, Wahren und Guten. Das Daddeln als Sinnbild größtmöglicher Lieblosigkeit im Umgang mit Lebenszeit. Das Saufen und Wichsen als Saufen und Wichsen. Fleisch ist mein Gemüse ist, das macht seine Größe aus, ein Buch ohne Fallhöhe, ohne Spannungsbogen, ohne Happy End. Einfach nur Grauen, so weit das Auge reicht, vom Erzähler-Ich bis zum Horizont, von Hamburg-Harburg bis Todtglüsingen, mindestens.

Vieles ist nun da auch im Film: Der fiese Bandleader Gurki (herrlich schmierig: Andreas Schmidt) und der Rest der Band Tiffanys, deren Namen der Film aus ungeklärten Gründen um einen Deppenapostrophen ergänzt. Gurkis hirnrissige Sprüche: Swing time is good time, good time is better time. Die psychisch gestörte Mutter: Susanne Lothar als Häufchen Elend. Die schöne Anja (Susanne Bormann), die zu Heinzers Selbstgebasteltem singt, ohne dass mit ihr etwas läuft. Von der Randnotiz zur regelrechten Figur aufgewertet: Die Nachbarin Rosi (Livia S. Reinhard), der das Leben nichts schenkt und die es sich deshalb nimmt.

Vor allem aber die Auftritte bei Fasnacht, Jubelfeier und Schützenfest - letzteres mit Cameo von Strunks Studio-Braun-Kollegen Rocko Schamoni und Jacques Palminger. Und die Musik, die Musik, die Musik. «Wenn i mit dir tanz» und «Geil» und «Sun of Jamaica» und «An der Nordseeküste» etc. Furchtbares musikalisches Niemandsland, alles weit jenseits dessen, was irgendwie noch als guilty pleasure zu reklamieren wäre. Die Einspielungen, davon kann man sich auch auf der Soundtrack-CD überzeugen, sind astreine, total unpersönliche Mucke. Wer die Kraft hat, das von vorne bis hinten zu hören, verdient die Ehrennadel eines Schützenvereins seiner Wahl.

Das alles ist da, aber doch nur als Best, vielmehr: Worst of der Vorlage. Der komischste Moment: Strunks Mutter fragt in der Psychiatrie einmal verstört «Bin ich schon in der Hölle?». Schnitt. Polonäse Blankenese. Sonst manche Vergröberung ins Schenkelklopferische. Oliver «Goombay Dance Band» Bendt, der auf der Bühne in Brand gerät. Strunk, der beim Schützenfest beinahe erschossen wird. Schlimmer noch: Strunk bekommt eine Freundin spendiert, die friedensbewegte Jette (Anna Fischer) mit Palästinensertuch. Das geht nun gar nicht. So muss am Ende der echte Strunk eingreifen. Eigentlich tut er dabei nichts und eben darum ist die letzte die mit Abstand beste, die einzig grandiose Szene des Films.

 

Happy-Go-Lucky (Mike Leigh, GB 2008) | Spex # 315, Juli/Augst 2008

Poppy ist 30 Jahre alt, sie ist Grundschullehrerin in London, sie ist immerzu fröhlich, sie zieht an, was sie will, sie ist gar nicht naiv, nur der Welt zugewandt, sie ist eins mit sich und sie führt das Leben, das ihr gefällt. Poppy, die Heldin des neuen Films von Mike Leigh, ist zugleich eine äußerst lebendige Figur und Verkörperung eines Prinzips und wie das Konkrete der Poppy und das Abstrakte des Poppyhaften umstandslos ineinander aufgehen, das ist das Wunder von Happy-Go-Lucky. Denn Poppy, gespielt von Sally Hawkins, ist nicht einfach fröhlich, sie ist vielmehr die Fröhlichkeit selbst. Quietschbunt angezogen, immer zu laut, zu munter, zu froh. Sie ist in einer Welt, in der es an Beirrungen nicht fehlt, unbeirrt freundlich und in dieser ihrer Lebensfreude ist Poppy immer auch mehr als nur ein bisschen penetrant.

Allem, was ihr, auch an Schrecklichem und Fiesem begegnet, begegnet Poppy mit einem Lächeln zurück. Das Schreckliche und Fiese hat viele Gesichter: Fahrraddiebe, Buchhändler-Stinkstiefel, die freudlose Kleinfamilie der Schwester und kindesmisshandelnde Väter. Es verdichtet sich aber in Poppys Fahrlehrer Scott (Eddie Marsan) zum veritablen Gegenprinzip. Scott ist der Gloomy-Go-Doomy zu Poppys Happy-Go-Lucky, hat allerdings, anders als sie, echt einen an der Waffel. Es gibt einige Nebenschauplätze, Poppys Fahrstunden aber sind das Zentrum des Films. Hier kämpft das Gute gegen das Böse, die kichernde Königin des Lichts gegen den grimmigen Fürsten der Finsternis. Einerseits total allegorisch, andererseits sehr präzise verortet im Hier und Jetzt der Vorstadtbezirke der unteren Londoner Mittelschicht. Und drittens einfach ein umwerfend komischer Clash der Lebensphilosophien.

Es ist ein wirklich genialer, weil mitten im Leben ins Privatmythische überschnappender Zug des Films, dass Fahrlehrer Scott ständig etwas vom gefallenen Engel Enrahah faselt und damit eigentlich nur den Innen-Rückspiegel meint. Buchstäblich und grundsätzlich geht es aber wirklich um den Blick auf die Welt, um den Umgang mit ihr. Wenn Scott prinzipiell fürchtet, dass an der nächsten Kreuzung das Böse lauert, dass man sich ihr deshalb mit äußerster Vorsicht zu nähern hat, dann tritt Poppy natürlich das Gaspedal durch. Die hochhackigen Stiefel scheinen Scott zum Autofahren nicht geeignet, da zieht sie Poppy beim nächsten Mal erst recht wieder an. Radelt ein Schwarzer vorbei, gerät Scott in Panik und schreit, sie solle auf der Stelle die Türen verriegeln.

Er hat Angst vor dem und hasst, was er nicht kennt, also mehr oder minder alle Welt. Und er fürchtet und hasst erst recht das, was ihm freundlich kommt und ihn an weichen Stellen trifft, von denen er gar nicht wissen, mit denen er nicht umgehen will: Poppy. Happy-Go-Lucky stellt die sehr einfache Frage: Macht ein Mensch wie Poppy die Welt zu einem besseren Ort? Das ist eine typische Frage für den Humanisten Mike Leigh, der immer vom Menschen, nie von Strukturen her denkt. Seine Filme sind Mikro-, nicht Makroanalysen des Psychosozialen. Leigh, der keine Drehbücher schreibt, erarbeitet seine Charaktere nach groben Entwürfen in langer Probenzeit mit seinen Darstellerinnen und Darstellern. Deshalb erreichen seine Filme an der Figur, am Individuum, das im Zentrum steht, und an seinen exemplarischen Interaktionen mit anderen Figuren ihre Stimmigkeit. (Das Poppyhafte eines Charakters und diesen Charakter als Individuum geradezu ununterscheidbar übereinander zu blenden, das ist dann die höhere Mathematik einer solchen Ästhetik der Stimmigkeit.)

Erst von diesem Punkt höchster Auflösung aus versuchen Leighs Filme dann, das Soziale zu entwerfen, in Form von Konfrontationen und Zweier-Konstellationen. Manchmal verrutscht dabei, auch in Happy-Go-Lucky, eine Figur und eine Begegnung ins Unscharfe oder Plakative oder schlicht ins Klischee. In der Regel erweisen sich die anderen aber als immer auch unverfügbar fürs eigene Wollen, als selbständige Kräfte, die, je nachdem, Widerstand leisten oder Nähe suchen, als Charaktere, die selbst geformt oder deformiert sind, kurz: als komplexe Produkte ihrer Vorgeschichten. Und darum gibt es keine einfache Antwort auf die Frage, was jemand wie Poppy für seine Umwelt bedeutet. Manchem geht sie einfach nur schrecklich auf die Nerven. Ihren Fahrlehrer Scott treibt sie, als eine, die er zu lieben hasst, nur tiefer in seinen Wahnsinn. Bei ihrer Schwester richtet sie gar nichts aus. Einem Obdachlosen, dem sie begegnet, kann sie nicht helfen. Sie selbst bleibt und wird unterm Strich glücklich genug. 

Das ist sehr überzeugend, so weit es reicht. Happy-Go-Lucky ist, wie Leighs beste Filme es immer sind, ein sehr nuanciertes und sehr intelligentes Genrebild. Sonst herrschen die dunklen Töne vor, diesmal die hellen. Und wie stets stößt Leighs Ästhetik genau da, wo das Individuum und die Prinzipien, die es verkörpert, enden, an ihre Grenzen.

 

Gomorrha (I 2008; Matteo Garrone) | Spex # 316, September/Oktober 2008

An Superlativen mangelt es nicht. Rund 130 Milliarden Euro setzt die neapolitanische Camorra, die mit der legalen Wirtschaft aufs engste vernetzt ist, im Jahr einer Schätzung nach um. Auf so einträgliche wie tödliche Weise organisiert die Camorra ihre Verbrechen: Mehr Menschen sterben von Händen der Camorristi als denen einer anderen Mafia. Der Müll, den sie zu Dumpingpreisen und illegal und mörderisch giftig in die italienische Landschaft entsorgen, ließe sich stapeln zu einem Berg, der doppelt so hoch wie der Mount Everest wäre. Die Unmengen unverzollter und auf keinem offiziellen Papier verzeichneter Produkte, die aus China eingeführt, durchgeschleust, weiterverarbeitet, gefälscht und als Markenware verkauft werden, hat keiner gezählt.

Die Camorra ist in der Umsetzung neoliberaler Formen des Wirtschaftens, der Dezentralisierung der Selbstorganisation weiter als vergleichbare Unternehmungen auf der Welt. Die Zerstreuung in kleine, vernetzte Einheiten ohne zentrale Aufsicht ermöglicht höchste Flexibilität der Produktion und verhindert wirksame Schläge des Staates gegen die Gesamtorganisation. In seinem Buch Gomorrha, vor einem Jahr auch in Deutschland erschienen, schildert der studierte Philosoph Roberto Saviano den Alltag der Camorra. Er hat dafür recherchiert als Arbeiter im Reich des Verbrechens, er hat den Hafen, die verborgenen Warenlager, die illegalen Fabriken von innen gesehen. Er hat mit vielen, die in Diensten der Camorra stehen, als einer von ihnen gesprochen und sich selbst als rasenden Reporter der Aufklärung in Szene gesetzt. Von diesem Buch hat er mehr als eine Million Exemplare in Italien verkauft, er ist untergetaucht und tritt nie ohne Polizeischutz öffentlich auf.

Regisseur Matteo Garrone und seine fünf Drehbuchkoautoren (Saviano ist auch darunter) haben einen Film aus dem Buch gemacht. Sie haben aus der Vorlage das Ich des Autors gestrichen, das dort viel überflüssigen Raum einnimmt. Sie haben fünf Einzelschicksale herausdestilliert, die im Buch zum Teil eher nebenbei erwähnt werden und sie haben systematisch nicht auf die analytischen Passagen zurückgegriffen, sondern auf das, was sich auf konventionelle Weise narrativieren lässt.

Erzählt wird die Geschichte des dreizehnjährigen Totò, der in einem Bandenkrieg, den Saviano in der Vorlage endlos auswalzt, zwischen die Fronten gerät und sich am Ende gegen die eigene Familie entscheiden muss. Der Film erzählt auch von Don Ciro, der im Camorra-Auftrag den Angehörigen einsitzender Mitglieder Gelder auszahlt und zwischen den Fronten des Bandenkriegs in Lebensgefahr gerät. Er erzählt von Marco und Ciro, die zuviele Filme von Brian De Palma gesehen haben, mit wenig Verstand durch eigenmächtige Verbrechen alle gegen sich aufbringen und am Ende dafür bezahlen. Erzählt wird auch die Geschichte von Pasquale, dem Schneider, der sich des Geldes wegen mit chinesischen Kleiderproduzenten einlässt, im Kofferraum eines Autos durch die Gegend geschmuggelt und trotzdem bei seiner Zusammenarbeit mit dem Konkurrenten erwischt wird. In der fünften Episode des Films geht es um den dem äußeren Anschein nach seriösen Müllentsorger Franco, der illegale Dumping-Stätten auskundschaftet, beim Abladen der toxischen Abfälle auch einmal Kinder zum Kutschieren der Laster einsetzt, und um seinen vielversprechenden neuen Mitarbeiter Roberto, dem, was er sehen muss, bald so sehr stinkt, dass er aussteigt.

Garrone behauptet im Selbstkommentar: «Das Rohmaterial, das ich zur Verfügung hatte, war visuell bereits so stark, dass ich es so wenig wie möglich ausgeschmückt habe; ich habe es so gefilmt, als wäre ich ein Passant, der zufällig zum Zeugen wird.» So ganz stimmt das nicht. Zwar verzichtet der Film auf die Manierismen der Hollywood-Mafiaepen, zwar zeichnet er überzeugend ein neorealistisch inspiriertes, grau verhangenes Italienbild. Die Art, in der Garrone aber auf den Einsatz von Identifikationsfiguren und von dramatischen Bögen setzt, macht jede einzelne der Geschichten doch sehr erwartbar. Davon, wie die hoch effiziente Organisationsstruktur der neapolitanischen Camorra funktioniert, erfährt man in der Filmversion deshalb fast gar nichts mehr. Sichtbar wird die Begrenztheit von Gomorrha nicht zuletzt im Vergleich mit dem anderen großen true-crime-Film des Jahres: José Padilhas Favela-Reißer Tropa de Elite, der in diesem Jahr den Goldenen Bären gewann. Wo Garrone lapidar bleibt, da wütet Padilha, wo Gomorrha auf eine Ästhetik des bloßen Zeigens setzt, deren Bilder sich aus allem heraushalten wollen, da mixt Tropa de Elite Analyse mit Drastik und mutet einem obendrauf noch einen quasi-faschistischen Ich-Erzähler zu. Während Padilha seine Zuschauer in aufklärerischer Absicht schüttelt und packt, glaubt Garrone, dass sich Erkenntnis einstellt, wenn das Medium nüchtern bleibt. In Wahrheit macht Gomorrha aber vor allem die analytischen wie affektiven Grenzen einer solchen Strategie der Nichteinmischung deutlich.