spielfilm

11. November 2011

Die Degenhardts Werner Klingler, Deutschland 1943/44

Von Bert Rebhandl

Zweimal läutet der Wecker für Karl Degenhardt in dem selten zu sehenden NS-Film Die Degenhardts von Werner Klingler, der 1943 in Lübeck und Stralsund gedreht wurde und am 11. August 1944 im Berliner Kosmos-Kino erstaufgeführt wurde. Zu Beginn sehen wir ihn morgens im Bett, der Platz neben ihm ist schon leer, der weibliche Teil der Familie ist längst aus den Federn, denn dies ist der 65. Geburtstag für den Pater Familias einer siebenköpfigen Lübecker Familie (Vater, Mutter, vier Jungs, ein Mädel namens Christine). Es ist ein Freitag, nach dem Feiertag gibt es ein Wochenende, für Montag ist Karl Degenhardt im Rathaus zu seinem Vorgesetzten, den Bürgermeister, bestellt, und das kann nur bedeuten: «Vater wird Inspektor.»

Der treue Beamte im Stadtgartenamt erwartet auch selbst die Beförderung, doch dann tritt etwas ein, was nur für ein gutgläubiges Publikum wie eine Überraschung scheinen konnte. Degenhardt wird nicht befördert, sondern in den Ruhestand versetzt, und als er am Montag nach Hause kommt, gratuliert die ganze Familie, vom Freitag noch gut in Übung, so heftig, dass er mit der Wahrheit nicht herauszurücken vermag. Deswegen wacht er am Dienstag, als neuerlich der Wecker läutet, mit schlechtem Gewissen und einem Geheimnis im Herzen auf. Vater Degenhardt wird nicht mehr gebraucht. Und das im Jahr 1939, just in den Tagen, in denen die Deutschen von einer polnischen «Generalmobilmachung» hören und wenig später schon, dass «die Wehrmacht den aktiven Schutz des Reichs übernommen hat». Soll heißen: Der Zweite Weltkrieg hat gerade begonnen.

Die Degenhardts war also ein Kriegseinstimmungsfilm. Aus der Perspektive der 1943/44 schon absehbaren Niederlage blickt die Nazifilmwirtschaft auf den Anbruch des Untergangs zurück, wobei Klingler und die Drehbuchautoren Wilhelm Krug und Georg Zoch  zynisch (oder naiv) genug waren, das Jahr 1939 in einer zentralen Szene mit Haydns Schöpfung zu assoziieren.

In den Titeln wird Die Degenhardts als «ein Heinrich-George-Film» ausgewiesen, wichtiger als Regie und Drehbuch ist dieser Star, ein häufig ins Trübsinnige neigender Vitalist, über den eine «Politik des Akteurs» noch zu schreiben wäre. George spielt hier einen Mann des 19. Jahrhunderts (Geburtsjahrgang, leicht zu errechnen: 1874), der wiederum tief in altdeutscher Tradition verhaftet ist. Ein wichtiges Ritual in seinem Leben ist der Sonntagsspaziergang, zu dem auch die eigentlich schon anderweitig interessierten Söhne genötigt werden, und der zwischen den Lübecker Giebelhäusern zur Marienkirche führt, wo es ein Memento Mori zu betrachten gibt: Zwischen Darstellungen von Bürgerfiguren spielt der Knochenmann auf einer Flöte. Dieses auf den Tod Schauen fällt bei Vater Degenhardt unter «Treue zu den alten Überlieferungen». Zugleich aber gibt es in der Kirche eine Orgel, auf der schon Buxtehude gespielt hat, und das bedeutet so gut wie eine Verbindung zu Johann Sebastian Bach.

Das ist deswegen wichtig, weil bei den Degenhardts künftige Schwiegerkinder mit der Frage «Bist du musikalisch?» begrüßt (und nur bei positiver Antwort für heiratsfähig befunden) werden. Der älteste Sohn Robert, der eine Weile mit der Familie im Streit liegt (und auch durch seinen Matrosenaufzug anfangs auffällt), spaziert eines Abends mit seiner von Vater Karl aus nicht ganz deutlich gemachten Gründen nicht gelittenen Gefährtin Trude durch die Gassen von Lübeck und horcht mit ihr zum offenen Fenster hinauf, aus dem die Hausmusik der Degenhardts erklingt: «Das Cello – das ist der Alte».

Beruflich ist der Alte ein verlässlicher Beamte, Stadtgärtner seit der Heimkehr aus dem Großen Krieg, aus dem er seine Teilnahme an der Schlacht bei Tannenberg aus Gründen, die 1943/44 spezifisch anders nahelagen als 1939, auch irgendwie zu den alten Überlieferungen zählen will. Mit den Gärtnern bzw. eigentlich Schreibtischgärtnern kommt bei Die Degenhardts ein typenkomisches Moment ins Spiel, das der abtretende Inspektor, ein alter Junggeselle, ins Melancholische wendet, während in dem Untergebenen Jürgensen schon der nächste Junggeselle heranwächst (für heiratspolitische Umwege wie bei den Buddenbrooks ist in Die Degenhardts keine Zeit, deswegen kommt Jürgensen bei Christine nicht einmal zur Überreichung eines Blumenstraußes; der wird nämlich von den Jungens zum «Gemüse» umgewidmet und flugs dem Vater zugedacht).

An den Grünflächen der Stadt erweist sich schließlich der Ernst der Lage: Wo es 1939 noch um die Alternative zwischen Geranien und Kaktussen geht, wachsen nach 1944 Kohlrabi und Futtergerste. Aber da haben die Alliierten auch schon begonnen, «Bomben auf Kulturdenkmäler» zu werfen. Es war wohl nicht die Gefährdung der Jahrgangs-Giebel (einer wird ausdrücklich auf 1463 datiert!), die dem Publikum den Film Die Degenhardts 1944 verleidet hat. Es war wohl eher die auch durch eine voluminöse, alle Gefühlslagen in sich begreifende Vaterfigur nicht zu bannende Ahnung, dass das Memento Mori der Bomben nicht auf einer allgemeinen «conditio humana» beruht, sondern auf einem schrecklichen deutschen Sonderweg, für den dieser Vorläufer des späteren Heimatfilms (und aus einer unzumutbaren Heimat, die bald «auch sozusagen Front geworden» ist, wie Vater Degenhardt in einer für ihn charakteristischen Verdruckstheit am Ende sagt) noch die alltagskulturellen und nationalfamiliären Grundlagen zu einer schon bald gänzlich unmusischen Mobilisierung zu legen versuchte, während von Kultur doch längst keine Rede mehr sein konnte.

Gesehen am 7. November 2011 im Arsenal