dokumentarfilm

29. April 2014

Vorbildliche Familie Filmhinweis für Berlin: Wie soll man leben? (1981) von Marcel Lozinski

Von Bert Rebhandl

© Marcel Lozinski

 

Eine der drei großen Fragen der Philosophie, ins Kollektive gewendet: Wie sollen wir leben? Wie immer die Antwort ausfällt, es ist ratsam, Spielräume einzuplanen, damit die Erfahrung den Normen oder Idealen hinterherkommt. Der Sozialismus hatte ein Problem mit diesen Spielräumen, wie aus Marcel Lozinskis großem Dokumentarfilm Jak Zyc (How to Live) hervorgeht. Gedreht wurde in einem Sommercamp, das die Sozialistische Jugend Polens für junge Ehepaare veranstaltete. 180 Männer und Frauen, viele mit Kindern, verbringen eine Woche in einfachen Baracken an einem See. Die Leute tragen das, was der Sozialismus in Polen in den 70er Jahren an Mode eben so hergab. Sie wollen und sollen sich erholen, doch es gibt da etwas, was die Ruhe stört. Es plärrt nämlich dauernd der Lautsprecher.

«Hier spricht der Campkommandant. Alle sind für den Abend zum Ehepaartanz eingeladen. Bei der Gelegenheit wird auch die Anwesenheit überprüft.» Oder: "«Heute findet das Bridgeturnier der Ehepaare um den großen Preis des Campkommandanten statt.» Oder: «Die Veranstaltung Freie Beziehungen und die Familie muss verschoben werden.» Klingt alles komisch, ist aber bitterer Ernst. Die Urlaubswoche wird für die jungen Leute zu einer «Schule des Lebens», de facto zu einer Drillübung für den Aufbau eines Sozialismus, der sich in alles einmischt. Und der auf ständiger gegenseitiger Beobachtung beruht.

Am Ende der Woche soll ein «vorbildliches Ehepaar» gekürt werden, es ist auch ein Preis ausgelobt, der nicht lange geheim gehalten werden kann (es handelt sich um ein Haushaltsgerät, auf das man damals im Alltag ungefähr zwei Jahre warten musste). Die Mitglieder einer anonym bleibenden Jury, die nicht zufällig mit dem exklusiv männlich besetzten Camprat identisch ist, vergeben Punkte für Paare, die nicht streiten und vor der Haustüre saubermachen. Missgünstige versuchen, das Ergebnis zu beeinflussen, indem sie Streichhölzer vor Haustüren fallenlassen. Auf einer Tafel mitten im Lager werden täglich die Zwischenstände veröffentlicht, und auch sarkastisch kommentiert.

Eine Frau in der Hütte 43A erweist sich als wenig vorbildlich, im Gegenteil, sie ist ein «komischer Typ», ihre Beziehung «entspricht nicht der Norm». Sie nimmt es auch nicht einfach hin, wenn jemand ihr Kind ausfragt. Lozinski spielt mit den Weisen des Beobachtens, die Kamera ist indiskret, viele Szenen sind komisch, weil in diesem Camp an gesellschaftlicher Überregulierung gearbeitet wird. Zum Beispiel auf einer Veranstaltung: Wie organisiert man eine Namenstagsfeier in einer 3-Zimmer-Wohnung?

Im Kern ist das aber ein bitter ernster, schneidend kalter Film, der den real existierenden Sozialismus in seiner gesellschaftsmechanistischen Unmenschlichkeit zeigt. «Sie gewöhnen sich an Beobachtung», sagt einer aus dem Camprat. Das ist zugleich Voraussetzung für einen guten Dokumentarfilm, wie auch Einübung in ein totalitäres Gesellschaftsverständnis. JAK ZYC nimmt für sich dabei keineswegs in Anspruch, auf einer richtigen Seite zu stehen, auch nicht von 1980 oder 1989 aus gesehen. Im Gegenteil liegt die Größe dieses Films gerade darin, dass er keinen sicheren Standpunkt einer Beobachtung der Beobachtung einnimmt.

Den Fluchtpunkt dieses sozialistischen Basic Trainings streift Lozinski dann in einer beunruhigenden Szene, in der die Grenze zwischen Mummenschanz und Pogrom verschwimmt. Ein in vielerlei Hinsicht außerordentlicher Film endet mit einer Nacht, in der die Herrschaft der Partei suspendiert ist. Einer aus dem Camprat hatte so eine Ahnung: «Absolut alles kann passieren.» Das traf dann ja auch historisch ein. JAK ZYK wusste schon, dass die Utopie einer Gesellschaft als dauerndes Trainingslager keinen Bestand haben kann.

Jak Zyc (How to Live, Polen 1977, Regie: Marcel Lozinski) am Dienstag, 29. April 2014, im Arsenal Berlin im Rahmen von Film Polska. Dank an Marcin Zastrozny