dokumentarfilm

5. Februar 2010

Revolutionsspuren Ein Glossar zum Frühwerk von Jean-Pierre und Luc Dardenne

Von Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky

Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la première fois (1979)

Kann ein Film Kontakt zu einem vergangenen historischen Ereignis aufnehmen, an es anschließen und zwar nicht nur im Sinne einer Evokation, einer Erinnerung, einer Repräsentation? Immer wieder und in immer neuen Formulierungen stellt sich der Voice-Over-Kommentar des Films Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la première fois diese Frage. Die Dardennes porträtieren in ihrem komplett schwarz-weiß gefilmten Werk Léon Masy, einen ehemaligen Metallarbeiter, der als Teil der radikal-militanten Linken an einem der letzten großen Streiks Belgiens beteiligt war. Obwohl Ende des Jahres 1960 Eisenbahn- und Postverkehr, die Müllabfuhr sowie große Teile der Gas- und Stromversorgung still lagen, kam es damals nicht zum Generalstreik, vor allem, weil der christlich geprägte Teil der Arbeiterbewegung sich trotz anfänglicher Sympathiebekundungen den Sozialisten nicht anschloss. Knapp 20 Jahre später filmen die Dardennes Masy, wie er in einem Motorboot die Meuse herunter fährt und nach Spuren der radikalen politischen Vergangenheit seines Heimatlandes Ausschau hält.

Der Film zeigt allerdings nicht nur diese Passage (immer wieder: das Wasser, das sich am Bug bricht, der Blick Masys zum Ufer und in den Himmel, teilweise in ziemlich, wenn auch etwas ziel- und hilflos agitierenden und agitierten Montagesequenzen), sondern er nähert sich, wie auch der mit ihm sehr deutlich verbundene Pour que la guerre s'achève, seinem Sujet auf vielfältige Weise in einem Versuch, die eingangs erwähnte Frage zu beantworten. Immer wieder bricht historisches Bildmaterial von Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei in den Film ein, andere Veteranen der Gewerkschaftsbewegung treten auf und lesen in den Ruinen ihrer ehemaligen Arbeitsplätze historische Pamphlete und Flugblätter vor. Stur beharren die Dardennes gemeinsam mit Masy auf einer Kontinuität des Revolutionären. Wenn eine solche im Sozialen nicht auszumachen ist, dann muss sie sich anderweitig manifestieren: architektonisch zum Beispiel, oder auch nur in der Tatsache, dass der Flug der Möwen und die Strömung des Flusses immer noch dieselben sind wie vor 20 Jahren und eine Ahnung des Vergangenen heraufzubeschwören in der Lage sein sollten. Genau hier könnte dann idealerweise der Film auf den Plan treten, wenn man ihm, wie es die Dardennes tun oder zumindest gerne tun würden, die Fähigkeit zuschreibt, aus der materiellen Welt Geschichte zu extrahieren: aus der Bausubstanz oder aus dem Flügelschlag der Möwe. Bisweilen geht es, bei aller radikalen Rhetorik, sehr poetisch zu in Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la première fois. Lukas Foerster

 

Pour que la guerre s'achève (1980)

Eine Art Schwesterwerk zum ein Jahr vorher erstmalig ausgestrahlten Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la première fois. Beide Filme entstanden im Zuge derselben Recherche und nehmen ihren Ausgangspunkt im Jahr 1960. Pour que la guerre s'achève ist weniger poetisch, dafür dynamischer und in Farbe anstatt in schwarz-weiß. Noch deutlicher macht dieser Film die Nähe der Dardennes zur radikalen, wenn nicht gar zur militanten europäischen Linken der 70er Jahre. Die entsprechende Rhetorik beschränkt sich nicht auf das «guerre» im Titel, der ehemalige Metallarbeiter Edmond, der im Mittelpunkt des Films steht, beschreibt den tagtäglichen Weg zur Arbeit als Bürgerkrieg, immer wieder wird durchaus affirmativ vom Arbeiterbewegten als Terroristen gesprochen.

Zu Beginn des Films blättert Edmond in alten Unterlagen. Es folgt eine Überblendung auf Filmaufnahmen der historischen Demonstrationen anlässlich des Streiks im Jahr 1960, der sowohl für diesen, wie auch für seinen Schwesterfilm als das letzte Aufbäumen einer genuin revolutionären Arbeiterbewegung einsteht. Edmond gehörte zu einer Gruppe von Arbeitern, die nach dem Scheitern des Streiks in den 60er Jahren eine politische Zeitschrift für die Arbeiterklasse herausgaben. Dann folgen tracking shots durch die Industrie- und Gewerbegebiete der Gegenwart. Im Film erzählt Edmond über Anlass und Umfang der Unternehmung, liest einzelne Passagen vor, beschreibt den eigenen Anspruch und den Arbeitsmodus. Dazwischen wandert er in schwarzer Lederjacke und schwarzem Hut durch ein belgisches Industriegebiet, sucht nach Spuren der Revolution und sucht ehemalige Mitstreiter auf. Die Gründung der Zeitung erscheint im Film als eine zwar hilf-, aber auch alternativlose Reaktion auf das Scheitern der Gewerkschaftsbewegung.

Pour que la guerre s'achève genügt das noch nicht. Gefordert ist der agitatorische Überschlag in die Gegenwart. Montagesequenzen nicht nur im Stil, sondern auch im Geiste Eisensteins, Vertovs oder der Dziga-Vertov-Gruppe verbinden die Druckerpresse und die Hochöfen, Produktion und Agitation in rasanten, auch auf der Tonspur aufwändig gestalteten Agitprop-Sequenzen. Ganz am Ende eine Sequenz, die dieser Montageästhetik diametral entgegengesetzt ist und die viel eher auf das verweist, was die Dardennes heute drehen: In einer Plansequenz läuft Edmond, von der Kamera verfolgt, von seinem Haus zum Auto, steigt ein und fährt aus dem Bild und dem Film heraus. Hinein in einen Bürgerkrieg, dessen Existenz die meisten seiner Mitbürger nicht mehr wahrnehmen. Lukas Foerster

 

R... ne répond plus (1981)

Ein Film, der aus der Reihe tanzt - oder lässt sich das Frühwerk der Dardennes erst gar nicht in eine konsistente Reihe stellen? R... ne répond plus ist eine Ode an die freien Radios Europas, die sich aus überraschend ulkigen Spielsequenzen sowie dokumentarischen Einlassungen zu Ethos und Arbeitsweise dieses vom Aussterben bedrohten Kommunikationsmediums zusammensetzt. Männer und Frauen an allen möglichen und unmöglichen Orten - in einem Zugabteil sitzend, auf der Spitze eines Bergs stehend, von einem fahrenden Rad fallend - unterhalten sich darüber, was die freien Radios von den kommerziellen unterscheidet, über die Grenzen ihrer Reichweite und Organisationsformen, die revolutionäre Sprengkraft der Stille usw. Anstelle von Namen sind die Sprecher mit Buchstaben bezeichnet: A, B, C... bis R, der nicht (mehr) antwortet; ein Menetekel, das sich zwischen all die Verspieltheit drängt.

Im dokumentarischen Segment, das, obschon der Anlage nach konventionell, von der formalen Ausgelassenheit der Spielszenen nicht unberührt bleibt, veranschaulicht der Film, wie freie Radios in lokalen politischen Konflikten intervenieren können, explizit wie im Fall einer Reportage über einen rassistisch motivierten Überfall, implizit etwa, wenn sie sich um Pflege und Erhalt regionaler Dialekte wie des Elsässischen verdient machen. Anstatt das Gesehene aus dem Off zu kommentieren, holen sich die Dardennes ihre Emphasen im Schnitt, der wesentliche Gesten und Sätze der Radiomacher isoliert und zu beinahe didaktischen Loops verschaltet. Nikolaus Perneczky

 

Leçons d'une université volante (1982)

Die Dardennes teilen den Film in fünf Kapitel – fünf Lektionen – auf. Jede Lektion beginnt mit der Fotografie einer Lokomotive, die der Voice-Over-Kommentar zur Lokomotive der stalinistischen Revolution erklärt. Über die Fotografie der Lokomotive werden anschließend weitere Bilder gelegt: von der gescheiterten ungarischen Revolution 1956 über Prag 1968 und Kabul 1979 bis in die polnische Gegenwart des 1982, ein Jahr nach der Ausrufung des Kriegsrechts und dem Verbot der Solidarność-Bewegung, entstandenen Films. Der Voice-Over und das Geräusch einer beschleunigenden Lokomotive stellen eine sonderbare, ironische Kontinuität her zwischen dem stalinistischen Projekt und den Gegenbewegungen in der Peripherie seines Einzugsbereichs; der Sozialismus als permanente Revolution, die Länder des Warschauer Pakts als ihre einzelnen Stationen, die allesamt mindestens zweimal angefahren werden müssen.

Die einzelnen, jeweils um die zehn Minuten langen Kapitel beschäftigen sich mit den Lebensgeschichten einiger Exil-Polen in Belgien. Die meisten haben Polen bereits seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr betreten, sie befinden sich aber in ständigem Kontakt mit dem Heimatland. Auf einer Landkarte, die in jedem Kapitel neu entrollt wird, zeichnen die Exilanten ihre unterschiedlichen Wanderbewegungen nach. Der Film überlässt den Porträtierten fast über seine gesamte Laufzeit das Wort und das Bild. Ganz unterschiedliche Schicksale werden sichtbar: Ein Kriegsflüchtling wurde in Belgien Präsident des Bauerverbands und Journalist. Ein Polnischlehrer spricht über die Lyrik seines Heimatlandes. Eine Gruppe Exilanten hört sich im Radio eine offizielle Nachrichtensendung an und kommentiert verbittert die Propagandalügen. In der vielleicht interessantesten Episode berichtet ein polnischer Jude über die Flucht aus seinem Heimatland im Jahr 1968 als Reaktion auf die Antisemitismus-Welle während der Märzunruhen. Einerseits stellt der Exilant die Attacken als Initiative einzelner Parteikader dar, die keine Rückendeckung in der Gesamtgesellschaft besessen hätten, andererseits beklagt er die Passivität eben dieser Gesellschaft. 

Leçons d'une université volante gehört zu den ambitionierteren und interessanteren Arbeiten aus dem Frühwerk der Belgier und entwirft die Utopie eines politischen Kinos, in dem sich Agitation und Reflexion nicht gegenseitig ausschließen. Die «fliegende Universität» der Brüder Dardenne versucht, einen historischen Prozess im Moment seiner Entstehung festzuhalten und gleichzeitig seine Vorgeschichte in den Blick zu nehmen. Die Medien dieser Universität sind nicht nur das gesprochene Wort und die Landkarte, sondern, über die einzelnen Lektionen verteilt, auch Radios, Kreidetafeln, Schallplatten und Schreibmaschinen. Der Film präsentiert nebeneinander historische Artefakte und ihre historiografische Aufarbeitung. Im Zentrum stehen jedoch stets die oral histories. Lukas Foerster

 

Regard Jonathan/Jean Louvet, son oeuvre (1983)

Jean Louvet schreibt existenzialistisch gefärbte Theaterstücke über die Condition humaine im Allgemeinen, zeitdiagnostische über den Zustand der westeuropäischen Arbeiterklasse im Besonderen und solche, die beide Topoi überkreuzen, wofür ihm die Dardennes mit diesem Film Tribut zollen. Filmische Inszenierungen von Louvets Texten treffen auf Interviewpassagen, die den Autor in einem wallonische Landschaften querenden Zug zeigen. Er spricht, dem Titel entsprechend, von sich, seinem Werk und beider gemeinsamen Entwicklung seit den frühen 1960er Jahren. Dass die Lateralität der Zugfahrt sich fortan, als strukturierendes Prinzip, in die Textur des Films eingräbt, ist eine formale Anspielung auf Louvets Stück Le train du bondieu, das im Zentrum von Regarde Jonathan steht. Der Text veranschaulicht, was dabei herauskommt, wenn man Marx mit Beckett liest (und nicht, wie Adornos Ästhetische Theorie empfiehlt, umgekehrt Beckett mit Marx), z.B. streikende Arbeiter, die Sätze sagen wie: «Un jour il verra vraiment, le train du bondieu», mit anderen Worten: nichts Gutes. Der Zug des lieben Gottes - ein Menschenzug, der, weil er der richtigen Strategie ermangelt, nie ankommt und darum zur jenseitigen Utopie verkommen muss - überhebt sich an seiner schweren allegorischen Fracht. Das weiß Louvet selbst, weshalb er, wieder im Zugabteil sitzend, die Erklärung nachschickt, seine totalisierende Fabulierkraft sei dem Geist einer Ära verhaftet, in der es ums Ganze der Gesellschaft bzw. seiner Veränderung ging. So viel Selbsterkenntnis ist erfreulich, schlägt sich aber leider nicht auf die von kritischen Relativierungen unbeschwerte, bald hagiografisch anmutende Darstellung Louvets durch die Dardennes nieder, deren eigene Haltung zu all dem nicht über den präziösen Gag hinauskommt, den Bühnenbau in einen leerstehenden Güterbahnhof zu verlegen und in entschleunigten Kamerafahrten der Länge nach, von links nach rechts und wieder retour, auszumessen. Nikolaus Perneczky

 

Il court, il court, le monde (1987)

Ein Kurzfilm über die Produktion eines gehobenen Fernsehfeatures (wie z.B. ARTE es ausstrahlen könnte) zum Thema Geschwindigkeit, der selbst ein hohes Tempo an den Tag legt. Anstatt, wie es dem Format geziemt, eine pointierte Erzählhandlung zu präparieren, stopfen die Dardennes ihre humoristische Miniatur mit ungeordneten Einfällen voll, die von Geräuschmanipulationen über wiederauferstehende Unfallopfer bis zu einer Camp-Reinkarnation des Futuristen Marinetti reichen, der am Ende, emphatisch und doch grundlos «La morte!» schnurrend, eine Mitarbeiterin des Fernsehstudios auf seinem Motorrad entführt. Formal ist Il court, il court irgendwo zwischen Nouvelle vague und 80er-Popkino angesiedelt, an einem Ort also, der die in Neon getauchten Flughafenkorridore von Falsch auf komödiantische Weise präfiguriert. Das alles ist dem übergreifenden Thema der Geschwindigkeit angemessen spritzig inszeniert, setzt sich in seiner unbegründeten Wundertütenförmigkeit aber auch dem Verdacht aus, wenig mehr als eine Fingerübung und kondensierte calling card für nachfolgende Arbeiten zu sein. Wie so viele andere Filme aus dem bestechend inkonsistenten Frühwerk der Dardennes ist Il court, il court dazu angetan, einige Verwirrung unter ihren Anhängern zu stiften: Die Distanz zu jenen Bildern, die aus der Zusammenarbeit der Dardennes seit La Promesse hervorgehen, und zu der strengen, ja starren Methode, die sich dahinter verbirgt, ist in Filmrollen kaum mehr zu ermessen.  Nikolaus Perneczky

 

Falsch (1986)

Der erste lange fiktionale Film der Dardennes ist die Adaption des letzten Bühnenstücks des aus Polen emigrierten jüdischen Autors René Kalisky. Der Film behandelt die Zusammenkunft der jüdischen Großfamilie Falsch einige Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg in einer sonderbaren Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. Die Dardennes inszenieren die Familienzusammenführung auf einem Flughafen. Ein großer Teil der Familie ist in Ausschwitz getötet worden, andere fanden im Exil den frühen, unzeitigen Tod. Nur Joe, der nach Amerika emigrierte, hat überlebt und entsteigt zu Beginn des Films dem Flugzeug. Die Mitglieder der Familie Falsch begrüßen sich, tanzen ein wenig und beginnen bald, Erinnerungen auszutauschen. Besonders herzlich geht es dabei von Anfang an nicht zu. Die Wunden, die im Lauf des Films aufbrechen, sind immer auch die des zwanzigsten Jahrhunderts. «Falsch» ist rückblickend jede einzelne Entscheidung, aber nur, weil die Geschichte als Ganze eine falsche war. Ein Zweig der Familie identifizierte sich zu lange mit einem Land, das nichts anderes im Sinn hatte, als sie zu vernichten, ein anderer Zweig entkam zwar rechtzeitig und ließ sich nach dem Krieg im neu gegründeten Staat Israel nieder, kehrte aber schließlich wieder nach Deutschland zurück. Ein anderer Emigrant landete in Hollywood und musste dort Nazisoldaten in zahlreichen Kriegsfilmen geben.

Nicht nur was das Sujet betrifft, sondern vor allem in ästhetischer Hinsicht sind die Dardennes in ihrem ersten Versuch in der langen Form denkbar weit entfernt von den neorealistisch geprägten Sozialdramen, die sie mehr als ein Jahrzehnt später berühmt machten. Die Belgier inszenieren ihre Version von Falsch in einer Mischform aus abgefilmtem Theater und genuin filmischer Ästhetik. Der gesamte Film spielt auf dem Flughafen, der bis auf die Mitglieder der Familie Falsch menschenleer ist und seine Kulissenhaftigkeit ausstellt. Immer wieder tauchen dieselben Kamera-Setups auf, die meisten Szenen entfalten sich in langen Einstellungen, die das auf die Bühne verweisende Schauspiel der Darsteller betonen. Dazwischen finden sich jedoch auch immer wieder tracking shots entlang der mit Neonlicht ausgeleuchteten Flughafenkorridore und Ansätze einer Montageästhetik. Die kalten, düsteren Farben, die melancholische Grundhaltung und eine eklektische, bevorzugt elektronische musikalische Untermalung kennzeichnen Falsch derweil als einen fast schon prototypischen Film der 80er Jahre und rücken die Dardennes ausgerechnet in die Nähe der französischen Neo-Barock-Regisseure. Wenn am Anfang ein einsamer Mann auf Rollschuhen den Flughafen durchquert, ist das nicht ganz weit entfernt von Luc Bessons Subway.

Ziemlich singulär steht dieser Film in der Filmografie der Belgier herum. Das Modell von Erinnerungspolitik, das er entwirft und das sich deutlich von dem der frühen Dokumentarfilme Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la première fois und Pour que la guerre s'achève unterscheidet, vermag in ihrer absoluten Fokussierung auf das penetrant-angestrengte Schauspiel des Casts, das letzen Endes wenig mehr als die vorangegangenen Regieanweisungen kommuniziert, nicht wirklich zu überzeugen. Auf jeden Fall ein seltsamer Film. Und sicherlich kein wirklich guter, aber auch nicht die bloße Fußnote im Gesamtwerk, die der schwer erträgliche Folgefilm Je pense à vous geworden ist; eher eine abrupt abgebrochene Entwicklungslinie, die vielleicht immer noch auf eine Verlängerung wartet. Lukas Foerster

 

Je pense à vous (1992)

Der Film erzählt die Geschichte des Stahlarbeiters Fabrice (Robin Renucci), der mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes den Horizont nicht mehr sieht, auf den hin er sein Leben künftig entwerfen möchte. Dass er ausgerechnet in dem Moment die Rolle des patriarchalen Ernährers einbüßt, da er sich auf den engen Umkreis seiner Familie zurückgeworfen sieht, macht ihm noch diese als letztes Residuum von Selbstachtung madig: er ergreift die Flucht. Der Film schlägt sich nun ganz auf die Seite seiner zurück gelassenen Frau Céline (Fabienne Babe), die mit engelsgleicher Geduld und allen Versuchungen zum Trotz das gemeinsame Heim warm hält. Wer ihrer runden Gesichtsform und dem treuherzigen Augenaufschlag nicht sofort abmerkt, von welchem anheimelnd klebrigen Archetyp diese Frauenfigur abgezogen ist, dem geht spätestens dann ein Licht auf, wenn sie ihrem wiedergefundenen Mann, dem Wein zugeneigt und eine Prostituierte am Arm, nichts Besseres zu sagen weiß als «Wir warten auf dich!». Nicht nur hinterlässt Fabiennes Rückkehr in den Schoß der Familie am Schluss von Je pense à vous den üblen Nachgeschmack von Zuckerwasser. Sie rückt auch die finalen Momente der Gnade in manchen späteren Filmen der Dardennes, die üblicherweise aus deren Affinität zu Bressons «transcendental style» (Paul Schrader) deduziert werden, in ein trübe amelioristisches Licht.

Als ungeliebtes Kind, wie es in den besten Familien anzutreffen sei, bezeichneten die Dardennes einmal diesen ersten Gehversuch in Richtung eines filmischen Realismus. Mit den frühen Videofilmen der beiden teilt Je pense à vous höchstens das engagierte Interesse für die Stahlindustrie von Liège und die menschlichen Opfer ihres fortschreitenden Niedergangs seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch mit dem Werkzusammenhang der darauf folgenden Arbeiten (von La Promesse bis Le silence de Lorna) scheint diesen Film nichts als die geografische Eingrenzung seines Gegenstandsbereichs zu verbinden. Außer man ist geneigt, der Selbstauskunft seiner Macher zu folgen, wonach sie in diesem Lehrstück alles das falsch gemacht hätten, wofür sich erst später die richtigen Formen finden sollten: Je pense à vous als Falsches, an dem es sich antithetisch abzuarbeiten galt; an dem sich die Dardennes womöglich immer noch abarbeiten.

Hier ließe sich vielleicht der Vorwurf anschließen, dieses Falsche hätte sich in den über zehn Jahren bzw. fünf Filmen seit La Promesse zu einem Popanz ausgewachsen, der auch sein authentisches Gegenmodell, als Variationen des Immergleichen, mit Starrsinn schlägt. Tatsächlich lassen sich jene Zutaten, die das eingeschliffene Festivalerfolgsrezept der Dardennes ausmachen, Punkt für Punkt von den Unzulänglichkeiten ihres realistischen Erstlings abstoßen: An die Stelle des transparenten, i.e. psychologisierenden und Empathie heischenden, Schauspielkonzepts tritt die Opazität Bressonianischer Modelle. Der souveräne, taktvoll auf das richtige Maß von Abstand und Nähe bedachte Zugriff auf die Diegese, versetzt mit elegischen Schwenks entlang ruinöser Industrielandschaften, die dem eingeschliffenen Arthouse-Vernakular so wenig nachstehen, wie sie ihm etwas hinzuzufügen haben, weichen dem reifen Stil einer mal erratischen, mal aufdringlichen Handkamera, «qui est toujours en retard» (die Dardennes im Werkstattgespräch). Und das proletarische Milieu moralischer Integrität und Solidarität macht einem skrupellosen Schlag subproletarischer Überlebenskünstler à la Rosetta Platz, denen der Weg zu so etwas wie politischem Bewusstsein von Vornherein versperrt scheint. Nikolaus Perneczky