venedig 2016

1. September 2016

Venedig 2016

Von Ekkehard Knörer

6. und letzter Tag

Eigentlich ist Monte ein noch zu zweisilbiger Titel für diesen Film. Berg wäre besser. Dazu gleich mehr. Aber erst ein Geständnis: Ich hatte, und das ist wirklich eine Schande, noch nie einen Film von Amir Naderi gesehen, einem der Protagonisten der iranischen neuen Welle, Runner ist unter den im Iran entstandenen Filmen berühmt. Dann ging Naderi ins Exil, drehte weiter, wenn es ging. Gut ging es meist nicht, er lebte in den USA, Lukas Foerster hat hier beschrieben, unter welch prekären Umständen er 2008 Vegas: Based on a True Story gedreht hat, den viele für ein weiteres Meisterwerk halten. Er war, sagt er selbst auf der Bühne der Sala Grande, entweder zu früh oder zu spät, für Moden, für Anerkennung, er hat immer den richtigen Zeitpunkt verpasst. Seiner Energie nimmt es nichts. Er reckt die Faust, verbeugt sich vor den standing ovations, legt die Hand auf sein Herz.

Seit zehn Jahren vergibt das Festival gemeinsam mit dem Sponsor Jaeger-LeCoultre (Luxusuhren) den nach einem Film von Takeshi Kitano, der der erste Preisträger war, benannten Glory to the Filmmaker Award. Der Preis besticht durch seinen Namen, die Liste der Gewinner durch eine sanfte Exzentrizität: Neben Agnès Varda steht Sylvester Stallone, neben Brian De Palma Mani Ratnam. Und nun Amir Naderi, der sich in diese Reihe wunderbar fügt.

Monte ist kein Meisterwerk, denke ich, sogar ein Film, der ein wenig ermüdet, aber mich am Ende mit seiner Zähigkeit doch bezwingt. Der Ort: ein paar Häuser am Hang eines riesigen, grummelnden, grollenden Bergs. Ein Kind ist gestorben und wird begraben. Die Menschen, die hier ausharren (und ausharren ist das Wort, leben wäre fast schon zu viel), gelten als verflucht durch den Berg. Und harren doch. Im Dorf in der Nähe werden sie angespuckt und gemieden. Es ist ein Mittelalter, in dem alles spielt, näher situiert wird aber nichts. Angelo und seine Frau Nina und sein Sohn Giovanni, das sind die drei, um die es hier geht: heilige Familie der Unbeugsamkeit. Sie sagen sehr wenig, Worte werden weniger gesprochen, als sich selbst abgerungen. Eine Geste der Zärtlichkeit: Angelo fährt Nina mit dem großen Kamm durch das Haar.

Leben am Berg ist Drangsal. An die Menschen im Dorf können die drei sich nicht halten. Sie werden zersprengt und finden wieder zusammen. Angelo nimmt den Kampf auf, den Kampf mit dem Berg. Er nimmt den Hammer und schlägt auf den Berg. Trümmert, prügelt, hämmert und hämmert. Wenn es Wahnsinn ist, so hat es doch Ausdauer. Zuvor haben Tempowechsel den Film rhythmisiert. Nichts geschah, dann ein Rennen, bei dem auch die Kamera manchmal mitrennt. Kaum einmal hob sich der Blick Richtung Himmel. Wo Himmel sein sollte, war meist nur der Berg.

Auf den Berg schlägt Angelo ein. Der Berg grollt, Angelo hämmert. Grollen und Hämmern. Immer enger werden die Bilder kadriert, die Welt von Monte zieht sich zusammen zu Angelo, Hammer, Berg. Als Giovanni zurückkehrt, hämmert auch er. Nina bringt Wasser. Minutenlang geht das. Naderi zieht den Sound hoch, Schlag auf Schlag, alle Wucht und Wut liegt in dieser Allegorie eines Widerstands, der an Wahn grenzt, der Wahn ist, der den kaputt machen will, der alles kaputt gemacht hat. Und unter der Wucht dieser Schläge wächst die Allegorie, nimmt den Figuren und ihrem Tun alles Individuelle, es ist, als löschten sich die Namen von Angelo, Nina, Giovanni aus, fast auch die Gesichter. Zugleich zergeht auch fast das Allegorische, so konkret sind Sound, nackter Fels, Schlag: Alles wird Hammer und Berg. Und am Ende, am Ende geht der Berg in Trümmer, gibt dem Widerstand nach. Glory to the Filmmaker!

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Unter dem Eishockeyfeld von Dawson am Yukon lagerten Filme, in einem ehemaligen Pool, in den man das entzündliche Material aus Sicherheitsgründen entsorgte. Im Jahr 1978 tauchten sie bei Grabungen wieder auf. 500 Stück, erstaunlich gut erhalten, Material aus den zehner und zwanziger Jahren, Newsreels vor allem, aber Spielfilme auch. Die Filme wurden kopiert, kamen ins Archiv, wo sie der Regisseur Bill Morrison (Decasia) vor ein paar Jahren entdeckte. Er arbeitete an einem Projekt über die Geschichte der Goldrausch-Stadt Yukon und konnte das gefundene Material in seinen Film integrieren.

Dawson City: Frozen Time ist nun vieles zugleich. Weil Goldrausch und Erfindung des Films historisch nahe beieinanderliegen, erzählt Morrison von beidem: mit reichlich und auch ein bisschen wahllos kompiliertem found footage. In Bewegtbild und Fotografie, wobei die Kamera vor den Fotografien nicht stillsteht, sondern entweder hinein- oder herauszoomt. Das ist wie ein Tick. Man erfährt viel über die Stadt Dawson, den Goldrausch, auch Chaplin darf nicht fehlen, man erfährt, nur zum Beispiel, dass der Kino-Tycoon Sid Grauman hier seine ersten Geschäfte gemacht hat. Es geht chronologisch voran. Der horror vacui, der auf der Bildebene herrscht, setzt sich fort auf die Tonspur, wo es ohrenbetäubend ohne Unterlass lärmt. Aggressiv orgelnd, nicht untermalend, fortwährende Bestürmung des Hörsinns. Das hat mich, wie ständiger Hammerschlag auf einen Berg, der ich nicht bin, in seinem Willen zur Lückenlosigkeit auf die Dauer zermürbt. Aufgegeben. Rausgegangen.

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Kurz vor dem Rausgehen war ich in Andrew Dominiks Nick-Cave-Doku One More Time With Feeling. Sie ist schwarz-weiß. Sie ist in 3D. Macht beides Sinn? Eher nicht. Ein Film, der Aufnahmen der Songs von Caves demnächst erscheinendem Album Skeleton Tree enthält – die zum Glück alle ausgespielt werden, zum Glück sage ich aus Prinzip, egal ob ich sie mag oder nicht – und der diese Aufnahmen mit Bildern und Sätzen von Cave und seinem Bad-Seed-Mitmusiker Warren Ellis und ein paar anderen, darunter Caves Frau Suzie, kombiniert. Cave hat den Film in Auftrag gegeben, er hat ihn bezahlt, Regisseur Dominik ist ein Freund, Cave hat die Musik zu dessen The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford komponiert. Am 8. September kommt die Promotion-Doku ins Kino, und zwar nur am 8. September, dem Tag vor dem Erscheinen des Albums, so jedenfalls die Behauptung. (Stimmt nicht ganz, manche Kinos zeigen ihn öfter.)

Was macht das PR-Ding in Venedig? Ist das was für Cave-Eher-Nicht-Fans wie mich? Erst einmal nicht. Caves Meditationen über das Erzählen, das Leben klingen zunächst wie dahergelaufene Philosophie, wie sie Rockstars gerne verbreiten. Man sieht viel Banales. Ein Songtext wird auf der Tonspur von Cave rezitiert, als handelte es sich um bedeutende Lyrik. Ist es aber nicht. Caves Frau Suzie schneidert Kleider und räumt im Haus immerzu um. Die Kamera kreist um den Mann am Klavier. Aber One More Time With Feeling ist von Anfang an meta, darum sieht man auch den Gleis-Kreis, auf dem die Kamera fährt, mit einer anderen Kamera von der Empore. Ist das eine Kirche, in der das gedreht ist? Gut möglich.

Und dann geschieht etwas. Ich kann nicht genau sagen, wann und wie. Es ist aber so, ich hatte das wohl gelesen, damals, aber es wieder vergessen: Im Juli 2015 ist Nick Caves Sohn Arthur im Alter von 15 Jahren unter LSD-Einfluss in Brighton von einer Klippe gestürzt und gestorben. Das erzählt einem der Film nicht, das schleicht sich als Ereignis, über das nicht gesprochen wird, in die Bilder. Wie ein Schock, den man erst nicht bemerkt, alles scheint enervierend in Ordnung in seiner ganzen Banalität. Bilder von Brighton, vom Meer, unkommentiert.  Umso tiefer der Schock, wenn man begreift. Und dann beginnt Nick Cave über den Verlust zu sprechen, und das hat, auch wenn es jetzt so auftreten muss, mit PR nichts zu tun. Cave ist gefasst, wie man gefasst ist, falls man es geschafft hat, sich nach einem Ereignis, das das ganze Leben über den Haufen wirft, wieder zu fassen.

Es ist ein Gefasstsein über dem Nichts. So beschreibt er es auch. Man geht seiner Wege, die die früheren sind. Man blickt nicht da hin, wo das Schreckliche ist; und doch ist es da, berührt alles Vertraute und macht es zu etwas, das einen womöglich an das, woran man sich zu denken verbietet, erinnert. Es ist ein Trauma, sagt Cave, ich glaube nicht mehr an das Erzählen, das Erzählen von Geschichten. Die Ordnung ist hin. Er kennt sich selbst, sagt Cave, nicht mehr. Ich weiß in allen Situationen nicht mehr, was ich tun werde, ich weiß nicht mehr wer ich bin. Niemals hätte ich früher so offen, wie ich es tue, über diese privaten Dinge gesprochen. Mir ist auch nicht ganz wohl dabei, sagt Andrew Dominik aus dem Off.

Nothing really matters when you lose someone you love lautet eine Zeile des ergreifendsten Songs von Skeleton Tree. Wie banal das klingt. Aber Cave gelingt, was dem Film, aus dem ich beinahe geflohen wäre, am Ende gelingt, was Texten zu Musik dank der Musik, wenn es gelingt, gelingt: Sehr banale werden zu sehr wahren Sätzen. Suzie und ich, sagt Cave, wir ziehen einen Schluss aus dem nicht wieder gutzumachenden Verlust. Wir sind füreinander da. Wir wenden uns den anderen zu. Das ist ein sehr schöner Schluss.

5. Tag

Festivals schenken einem, wenn man denn will, eine sonst meist kaum erreichbare Unschuld: Man kann in Filme geraten, über die man rein gar nichts weiß. Keiner hat einem zu ihnen geraten, niemand hat schon etwas zu ihnen gesagt. Weil es Debüts sind oder man vom Regisseur noch nie was gesehen oder gehört hat. Weil man kein Hörensagen kennt, weil es noch keine Kritiken gibt, weil noch nicht klar ist, wo die Fronten verlaufen, weil sich noch keine Mehrheitsansicht durchgesetzt haben kann. Es ist eine ästhetische Erfahrung eigener Art, beim Betreten des Saals alles und nichts zu erwarten. Ich habe sie gestern zwei Mal gemacht. Im einen Fall war es interessant, im zweiten eher nicht. Auch der dritte Film war ähnlich gelagert. Wer weiterliest, beraubt sich für diese drei Fälle dieser Erfahrung der Unschuld, aber es ist auch nicht so, dass ich Nichtwissen für wertvoller hielte als Wissen. Wo kämen wir da hin. Es ist nur so: Es blickt einen ein ästhetisches Objekt ganz anders an, wenn es auf der Leinwand erscheint wie Wild auf der Lichtung.

Ganz und gar nichts weiß man ohnehin nicht. Immerhin wusste ich, dass Spira Mirabilis im Wettbewerb des Festivals von Venedig läuft. Da muss ja schon einiges passiert sein bis dahin. Den Katalog habe ich mir nicht besorgt, Beschreibungen im vorhinein habe ich ohnehin zu keinem der Filme gelesen. Die Texte im Katalog, sagt man mir, seien in Venedig ganz speziell schrecklich. Und unter den speziell schrecklichen Texten habe sich jener zu Spira Mirabilis noch einmal besonders abschreckend gelesen. Sagten mir hinterher befreundete Kritiker, die den Film darum mieden. Außerdem, das wusste ich auch, müsse man in Venedig bei italienischen Filmen besonders vorsichtig sein. Da steckten zu viele Interessen dahinter, von denen man als Außenstehender nichts ahnt. Weniger als ohnehin bei der vielen Erwägungen gehorchenden Auswahl muss es die ästhetische Qualität sein, die ins Rampenlicht führt.

Auflistung dessen, was ich nicht wusste: Ist Spira Mirabilis ein Spielfilm, eine Dokumentation, etwas Drittes? Wer sind die im Programm genannten Regisseure Martina Parenti und Massimo D'Anolfi? Haben sie einen Ruf, und wenn ja: welchen? Arbeiten sie immer gemeinsam? Worum geht es? Wer spielt mit? Und schon beim Titel war ich am Ende mit meinem Latein.

Das Schöne an diesem Film, ich begriff es nach und nach: Er sagt einem die längste Zeit nicht, was er ist. Er zeigt Dinge, macht aber ihren Zusammenhang keineswegs klar. Dinge wie: Riesige Bäume werden gefällt. In einem Bergwerk wird Marmor aus dem Felsen gesprengt. Unter dem Mikroskop wimmeln winzige Tiere. In einem leeren Kinosaal deklamiert eine Frau einen Text über Theben. Kopien antiker Statuen werden gegossen. Ein Gegenstand aus Metall wird bearbeitet. In den Vordergrund gerücktes Sounddesign, japanische Musik: eine Tonspur von einiger Selbständigkeit.

Nehmen wir den Metallgegenstand: Er wird von einer Maschine geformt, da sieht er aus wie ein Hut. Er wird von Hand mit dem Hammer geklopft, da bekommt er Dellen. Er wird von einem Mann, einer Frau im Detail untersucht, da ahnt man, dass es um Klang geht. Er wird zusammengeklebt, das eine mit dem anderen Teil, da hat er, Hut aus Metall mit Dellen darin, nur oben noch eine Öffnung. Dann sitzt eine Frau vor einem Brutkasten, ein winziges Baby darin, sie singt ein sehr schönes englisches Lied und begleitet sich auf dem Hut mit Dellen darin selbst. Sie schlägt nur zwei Töne an. Das kann man nun finden, wie man will. Aber der Weg dahin ist einer der Wege des Films. Und es war lange nicht klar, wo man landet.

Es gibt andere Wege. Unterschiedliche Bildsorten, auch im kleineren Format projiziertes Filmmaterial. Es raunt ein bisschen zu sehr, von Anfang an. Die dokumentarischen Bilder wollen mehr als nur zeigen. Das spürt man. Ein wenig ist das, denke ich zwischendurch, Sendung mit der Maus mit einem Hang zur Metaphysik. Was jetzt womöglich besser klingt, als es ist, auch für Menschen wie mich, ohne Hang zur Metaphysik. Es ist der Sendung-mit-der-Maus-Aspekt, der mir gefällt. Ich kann mich immer wieder ins Diesseits retten, da sieht man Dinge, die als Naturgewalt oder Machen des Menschen für sich interessant sind. Später singt der Japaner auf einer Bühne ein Lied über die sich immer wieder verjüngende Meduse. Am Ende verstehe ich schon, dass es irgendwie um Unsterblichkeit geht. Mir ist klar geworden, dass sich Spira Mirabilis als Essay versteht, dass die einzelnen Teile ein größeres Ganzes behaupten. Zwischendurch habe ich mich der ungefähren Bewegung aus Bild, Sound, Behauptung dennoch nicht ungern überlassen. Dann wieder geht mir das Geraune gegen den Strich. Am Ende weiß ich nicht recht.

Eine Meditation, hätte ich im Katalog lesen können, sagt man mir hinterher, sei das über Unsterblichkeit. Dargestellt an den vier Elementen. Hätte ich das gelesen, hätte ich den Film auch gemieden. Wäre kein Drama gewesen, kann ich jetzt sagen. Hätte ich von Anfang an gewusst, was er sein will, wäre mein Unwille groß gewesen vom ersten pathetischen Sound/Bild an. Aber ich wusste es nicht. So wurde Spira mirabilis für mich zu einem unrunden ästhetischen Gegenstand mit metaphysischen Dellen darin. Ich bereue die zwei Stunden, die ich mit ihm verbracht habe, nicht.

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Noch ein italienischer Film, auch keine leise Idee, war mich erwartet: Il più grande sogno von Michele Vanucci, Reihe Orizzonti. Ein bärtiger stattlicher Mann kommt aus dem Knast, römische Vorstadt, rauhe wacklige Kamera, die mir zu viel Lust daran hat, Teile des Bilds zu verdecken; der Film liebt seinen Protagonisten, der den Vornamen seines Darstellers trägt, mir geht er mit seinem Bravado ebenso auf die Nerven wie die aufdringlich auf die Bilder geknallte Musik. Der Mann wird wieder im Knast landen, darauf läuft es hinaus. Nach einer Stunde bin ich gegangen.

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Ich habe noch keinen Film von Amat Escalante gesehen, aber ich habe aus Festivalberichten die vage Idee von seinem Ruf als enfant terrible, dem es gerne mal um Schock- und Skandalsachen geht. Ich weiß, dass es Fronten gibt, von den Leuten, denen ich traue, mag kaum einer Escalante. Worum es in La región salvaje, der im Wettbewerb läuft, gehen könnte, davon habe ich aber nicht die leiseste Ahnung. Und das ist noch so ein Film, der das Nichtwissen belohnt, weil ihn das Nichtwissen interessanter macht, als er ist.

Eine nackte junge Frau – nicht ganz nackt, mit schwarzen Strümpfen –, sie bittet, noch ein wenig länger bleiben zu dürfen. Wo sie ist, ist nicht ganz klar. Aber etwas, etwas ist da bei ihr. In ihr. Etwas Schlängelndes, Penishaftes zwischen ihren Beinen, das ihr hörbar Lust verschafft, aber ein Schwanz ist das nicht. Man sieht es nur kurz, ich traue nicht so ganz meinen Augen, es lebt, es verschwindet im Schatten. Was zum Teufel ist das gewesen?

Eine Antwort gibt es erst einmal nicht. Dafür viel Sex, auch schwulen Sex, zwischen Menschen. Entweder ist das ein sexbesessener Film oder es geht in dem Film um Sex. Oder eher: und/oder. Eine Konstellation: Ales Mann, Vater ihrer zwei Kinder, hat eine Affäre mit ihrem Bruder. Der ist Arzt, als solcher lernt er Veronica kennen, die Frau aus der Szene am Anfang. Sie hat eine Wunde. Hat ihr diese Wunde das Peniswesen versetzt? Eine Eifersuchtsgeschichte entfaltet sich. Fabian, Ales Bruder, der Arzt, kommt zu Schaden. Er liegt im Koma, ich habe eine kurze Festivalbeziehungswahnerfahrung, denke an Réparer les vivants, da lag Vincent in einem ähnlichen Koma. An den Wänden eines Raums, hier, in diesem Film, hängen Jagdtrophäen, da kriege ich Flashbacks zu Seidls Safari. Nach fünf Festivaltagen kann man noch so viel nicht wissen, man ist doch mit Bildern aus Filmen randvoll. Es verschwimmen die Grenzen. Einzelne  Motive, Einstellungen lösen sich aus ihren Zusammenhängen, werden einem, sie können selbst nichts davon ahnen, zu Revenanten.

Natürlich kehrt La región salvaje zurück zum Faszinosum, mit dem er einen schon am Anfang traktiert hat. Mehr dazu nicht als: Think Isabelle Adjani in Zulawskis Possession. (Und dann weiter nichts denken. Viel gedacht hat sich, denke ich, auch Escalante letztlich nicht.) Zwischendurch eine eigentümliche, eigentümlich großartige Szene. In einer Kuhle kopulierende Tiere. Schlange neben Schaf, Echse neben Hund. Alles kopulierende Paare. Eine Arche mitten im Wald, eine Arche des Sex. Darüber liegt eine seltsame Ruhe. Sie wollen einander nicht bekämpfen, nicht töten und nicht verspeisen. Sie wollen nur Sex. Ein Stand der Unschuld eigener Art.

4. Tag

Da ist was gründlich schief gegangen. Dieser Papst ist nicht nur jung und sieht aus wie Jude Law, bei seiner ersten Ansprache auf dem Petersplatz ruft er gleich auf zu Abtreibung, Schwulenehe, Masturbation: Blick in zusehends versteinerte Gläubigen-Mienen. Gut, das war nur ein Traum. Paolo Sorrentino spielt für einen Moment mit der Frage, wie das denn wäre, wenn der Papst einfach sagte, was liberale Menschen so denken. Dann wirft er die Frage gleich wieder weg. Typische Handbewegung für diese Serie, The Young Pope, die hier den großen Bahnhof bekommt: Weltpremiere der ersten zwei Stunden in der Sala Grande, Sky, Canal + und HBO stecken mit Sorrentino, Buch und Regie, für viel sichtbares Geld unter einer Decke.

Was aber denkt dieser Papst, wenn er nicht träumt? Was will die Serie, wenn sie nicht im und mit dem Vatikan antiklerikale Komödie zu spielen versucht? Schwer zu sagen nach diesem Beginn, aber wohl eher: nichts. Szene um Szene stößt der neue Papst das Establishment des Vatikans, aber auch seine nähere Entourage vor den Kopf. Gegen den entschiedenen Willen der Grauen Eminenz namens Voiello installiert er seine Ziehmutter Schwester Mary (Diane Keaton) als persönliche Beraterin, aber hört dann auch nicht auf sie. Papst Pius XIII. raucht Zigaretten, lässt ein Känguruh frei, will die Besucher aus den vatikanischen Museen entfernen und stiftet seinen Beichtvater zur Preisgabe von Beichtgeheimnissen an. Vielleicht glaubt der junge Papst, schon ein Problem, gar nicht an Gott. Vielleicht war das aber auch nur ein Scherz.

So weit, so manchmal ganz lustig, aber meistens nur doof. Und nie scharfsinnig, durchdacht oder zwingend. Zeit, über Sorrentinos Stärken und Schwächen zu reden. Schwächen: seine ständige Angeberei mit schrägen Einstellungen und sinnlosen Kamerafahrten (check, war aber schon schlimmer); sein Hang zur Glossyness um ihrer selbst willen (check); sein anlasslos bösartiger Blick auf die Menschen (check); seine Tendenz, jedem unausgegorenen Einfall gleich nachzugeben (check); seine Unfähigkeit, eine zusammenhängende Geschichte auch im Zusammenhang zu erzählen (check); sein vollständiger Mangel an Subtilität (check). Stärken: Naja.

Manche der Schwächen haben, weil Sorrentino sie übertreibt, weil er nicht für fünf Cent über irgendwas nachdenkt, weil er den absurdesten Ideen ins noch Absurdere folgt, durchaus ihren Reiz. Dieser Papst ergibt, nach den ersten Stunden zu schließen, nicht wirklich Sinn. Mal ist er maßlos eitel, mal maßlos fromm, mal maßlos naiv, mal maßlos kindisch. Das Buch schiebt Figuren ins Bild und wieder raus, die einen schon beim ersten Auftritt nicht recht interessieren. Zumal mit Figurenentwicklung gar nicht zu rechnen ist. Zwischendurch habe ich mich ernsthaft gefragt, ob das, was man zu sehen bekam, nicht ein zweistündiger Trailer der Gesamt-Miniserie war, so wenig folgte eins aus dem andern, so beliebig waren die Episoden gereiht. Vielleicht ist das ja am Ende der Reiz: eine Serie, die sich narrativ nicht entwickelt, die sich nicht für Figurenpsychologie interessiert, die mit viel Willen zum Spekulativen wie zum Spektakulären immer nur vor dem Auge des Betrachters zerfällt. Was immer man davon hielte: Es wäre nicht nichts.

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Stichworte: Ulrich Seidl, Safari. Da weiß man, was kommt. Jäger sitzen zentriert in starren Einstellungen und reden sich ungefragt um Kopf und Kragen. Dazwischen schießen sie Zebras, Giraffen, Kaffernbüffel und andere Stücke. Stück: sagt der Jäger. Erlegen sagt er, nicht töten. Schweiß sagt er, nicht Blut. Zeichnen sagt er für die Reaktion des Stücks auf den Schuss: Sackt es auf der Stelle zusammen, läuft es noch weiter, hat man es getroffen, und wo. Der Jäger, die Jägerin: Sie haben ihre eigene Sprache. Sie sind Meister der Selbstbeschreibung, wenn es um die Gefühle geht, die beim Pirschen, beim Schießen und hinterher durch sie jagen. Fragmente einer Sprache des Tötens. (Und ja: Manchmal klingen sie nach Fragmenten einer Sprache der Liebe.) Sie sehen das Tier als Partner, sie klopfen dem von ihnen getöteten Stück den Hals, wie es der Springreiter nach einem erfolgreichen Umlauf bei seinem Pferd tut. Sie schießen Fotos von sich und der Leiche. Weil sie immer zu zweit sind, oder zu dritt, sagen sie Waidmannsheil, wenn es geglückt ist, wenn der Treffer gut saß, umarmen sich oder küssen sich, es sind vor allem Paare, die wir hier sehen. Männer wie Frauen lieben die Jagd. Wir sind in Afrika. Eine Jagdfarm, von einem deutschen Paar betrieben. Er sagt, dass er nicht sagen darf, was er über den Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen denkt. Es sind immer Rassisten, die sich darüber beschweren, man hielte sie für Rassisten, wenn sie sagten, was nun mal stimmt. Der Mensch als solcher, sagt er, ist das große Übel. Für die Erde wäre es besser, er stürbe aus. Das ist das letzte Wort dieses Films. Es folgt noch eine Seidl-Einstellung, zentriert steht ein dunkler Hund vor hellem Hintergrund in der Tür, dann legt er sich hin.

Die Jägerinnen, die Jäger. Sie sitzen im Bild. Unter Trophäen. Seidl hat sie da hingesetzt. Der Verdacht, man hat ihn in seinen Filmen immer: Sie sind seine Stücke. Er stellt die Kamera hin, filmt und beobachtet, wie sie zeichnen. Wie stets gibt er sich an der Oberfläche neutral: Sagt selbst nichts, ist selbst nicht im Bild, ist selbst nicht im Spiel. So auch bei der Jagd, die Handkamera pirscht und hascht mit, wie schwerelos, Jäger unter Jägern, nur dass die Kamera und der Mann, der sie führt, gravierende Asymmetrie, unsichtbar bleiben. Ich höre nicht die Schritte des Kameramanns im Gras, ich halte den Atem an, wie er den Atem anhält, wir jagen mit angehaltenem Atem Tiere, die wir erst sehen, wenn der Hund sie aufgespürt hat, wenn wir die Stelle erreichen, die der Schauplatz ihres Todes sein wird. Manche Schüsse sitzen, andere nicht.

Die Giraffe ist zusammengesackt, wo ist Körper, wo Hals, wo sind die Beine. Was stolz stand, ist Unform im Tode.  Der Hals bildet einen Bogen nach rechts, wie er da liegt, gehorcht er der Physik, nicht mehr dem Leben, dem Willen des Tiers zur Erhaltung seiner Körperfunktion. Die Giraffe blickt nicht mehr, flieht nicht mehr, sucht nicht mehr Nahrung. Ein guter Schuss. Nicht gut genug: Denn da ist noch Leben. Sie zuckt, sie hat nicht mehr die Kraft, den Kopf zu heben, aber der Bogen des Halses mit dem Kopf und dem Maul, in das der Jäger fürs Foto schon Blätter geschoben hat, damit es aussieht wie aus dem Leben gerissen, der Hals, der Kopf, er schwingt noch einmal auf die andere Seite. Dort verharrt er. Es war die letzte Äußerung des Lebens im Tier, es war noch nicht ganz über die Schwelle. Es war nicht tot, sondern starb. Dann nichts mehr, dann ist es tot.

Säuberlich wird die Giraffe später zerlegt. Sie Schnitte sitzen, aber der Kopf will nicht ab. Riesig quellen die Eingeweide aus dem Körperinneren nach außen, Gedärm, riesige Blasen, aus dem Körper, der lebte, auf den gekachelten Boden gezerrt. Kein Stück mehr. Nur noch lebloses Zeug.

Stets gibt es auf der Jagd einen schwarzen Begleiter. Die Männer, die die toten Tiere zerwirken, ihnen die Haut abziehen, die Hälse durchschneiden, sie fürs Festmahl bereiten, sind schwarz. Sie kennen sich aus, sie sind fürs Jagen und Zerwirken Experten. Seidl folgt ihnen in ihre Häuser. Und er setzt auch sie ins Seidl-Bild. Zentriert, unter Trophäen. Sie blicken stumm und starr. Oder sie essen das zubereitete Fleisch des erlegten Tiers. Sie reden sich nicht um Kopf und Kragen. Sie sprechen überhaupt nicht. Ich warte und warte, aber sie bleiben stumm wie die Tiere. Beim Zerlegen unterhalten sie sich miteinander, aber keine Übersetzung vermittelt uns, was sie sagen. Sie kommen im Seidl-Bild nicht zu Wort. Falls das eine Anklage ist, bleibt auch sie stumm. Die schwarzen Männer und Frauen scheinen außer Reichweite des Seidl-Verstehens der Welt. Er kann sie nur wortlos drapieren. Safari ist mutmaßlich nicht absichtlich selbstreflexiv. Umso bezeichnender, dass der Subalterne nicht spricht und nicht spricht. Hier stößt das Seidl-Verfahren auf bestürzende Weise an die Grenze, die es sich im Stolz auf das Trademark selbst setzt.

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Erst habe ich mich in den Titel verliebt, dann in den Film: Réparer les vivants (Orizzonti). Die Lebenden heilen, retten, reparieren, das alles steckt drin. Ein Film über, könnte man sagen, Organtransplantation. Aber es ist kein Film «über». Katell Quillévéré hält nicht Distanz zu einem Gegenstand oder zu ihren Figuren, sie wendet sich zu: Uns, den Lebenden. Denn uns kann man retten.

Für Vincent dagegen kommt jede Hilfe zu spät. Aber nicht gleich. Erst schenkt Quillévéré unbändiges Leben. Er ist jung, ganz nahe Aufnahme seines Gesichts, er ist gerade erwacht, er blickt Juliette ins Gesicht, seiner Freundin, macht mit dem Handy ein Foto von ihr, klettert aus dem Fenster, rast mit dem Skateboard durch leere Straßen, trifft seine Freunde, sie fahren ans Meer, es ist eine Stadt am Atlantik, sie surfen in der Brandung, es ist total toll und atemberaubend gefilmt, die Gischt, die Kamera taucht ins Brodelnde unter, wir sind  im Hohlraum aus Luft unter der Welle, man spürt das Glück dieses Moments, den man nicht einfach erwischt: Es ist ein äußerstes Hier und ein äußerstes Jetzt.

Umso tödlicher ist der Tod. Autounfall, Schwarzbild. Wir erwachen, Vincent nicht. Ein Arzt, eine Schwester, ein junger Arzt. Die Mutter. Der Vater. Ich reihe erst einmal nur, weil schwer zu beschreiben ist, wie meisterlich Quillévéré die Figuren einführt. Sie sind vom ersten Moment an präsent, sind von der ersten Sekunde an eigene Wesen. Einer, der nur ganz kurz im Bild ist: Er raucht eine E-Zigarette, aber man denkt sofort, dass niemand sonst ganz genau so wie er raucht. Er ist nicht staffiert, nichts ist Staffage, nichts wirkt zusammengesetzt, alles ist immer schon scharfes Detail eines Ganzen, das über das Detail vom ersten Moment an im Bild ist.

Eine Sache der Liebe: zu den Figuren, den Darstellerinnen, ihrem Sosein. Eine Sache der Ökonomie: Nie erfährt man zu viel, nie zu wenig. Die Krankenschwester ist eine passagere Figur, aber wir erfahren, dass der Mann, den sie liebt, Bruno heißt. Wir müssen das nicht wissen, auch dass sie dieser Liebe nicht ganz sicher ist, müssen wir gar nicht wissen, aber es macht einen riesigen Unterschied, dass der Film es uns wissen lässt. (Es liegt ein Roman zugrunde und ich stelle mir vor, dass Quillévérés Sinn für Gerechtigkeit sich so äußert: in Fragmenten des in der Vorlage Ausgeführten gibt sie uns trotzdem das Ganze.)

Kühn ist der Schnitt in diesem Film, der beim Setzen von Schnitten nicht zimperlich ist, kühn ist der Schnitt in der Mitte. Es ist die eine Geschichte erzählt, die des Sohns, dessen Faden mitten im Leben gekappt wird, die Geschichte der Eltern, deren Leben nach dem Tod des Sohnes lange nicht heilen wird und nie ganz heilen kann: Dennoch ist ein Anfang gesetzt. Mehr zu zeigen als erste Ahnungen dieses Anfangs, das wäre eine Indezenz, die sich Quillévéré nicht erlaubt.

Der Schnitt: in eine andere Geschichte, von der Atlantikküste nach Paris. Die Geschichte von Claire. Sie verbindet mit der Geschichte von Vincent und Marianne und Simon nichts; nur das eine: Sie ist die Empfängerin seines Herzens, todkrank und erschöpft. Aus Rücksicht hat sie ihre Freundin, die Pianistin, vor drei Jahren verlassen, wie nebenbei wird das erzählt, und zwar so, dass man begreift, dass Claire in ihrer Rücksichtnahme rücksichtslos war. Ihre beiden Söhne, die Ärztin, die andere, viel jüngere Ärztin, die noch in der Ausbildung ist. Ich reihe, was im Film nicht einfach gereiht ist, sondern voller Zuwendung wieder. Eine solche Liebe zu allem, was lebt.

Fahrt, Flug, Herz, das pocht, nicht mehr pocht, pocht: réparer les vivants.

3. Tag

Kontrollfreaks lieben Strafaktionen und Erziehungsmaßnahmen. So Michael Haneke, so auch Tom Ford. Nichts darf dabei verrutschen. Alles muss sitzen. Auch in Fords zweitem Film, der Nocturnal Animals heißt und aus nicht näher erklärlichen Gründen mit einer Parade tanzender fetter Frauen beginnt. Das ist Kunst. Die tanzenden fetten Frauen: sind Kunst. Und als solche Teil einer verlogenen Welt, der ein satirischer Zug dieses Films gilt. Diese Welt, die der Kunst, ihres Betriebs, ihres Gelds, ihrer übertriebenen Gesten, ihrer Neigung zur zynisch-eitlen Selbstverachtung, die mit noch viel größerer Verachtung des Rests der Welt kompensiert wird, dies ist die Welt, die von Ford so geschilderte Welt, der Susan Morrow. Susan Morrow ist Amy Adams und damit nach Arrival schon im zweiten Wettbewerbsfilm der Körper, das Gesicht, an dem ein Regisseur seine Vision eines Weltverhältnisses austrägt.

Sie ist stark, schlau, stur in Arrival, sie ist human, Louise, Stellvertreterin einer besseren Menschheit. Sie ist stark, schlau, stur in Nocturnal Animals, aber Tom Ford tritt diese Susan Morrow zu Boden, demütigt sie, tötet sie in einer Stellvertreterfiktion und bricht ihrem Willen zum eigenen Leben mit großer Lust das Genick. Das ist eine wüste Geschichte, ein Film, der sich in Parallelmontagen von der Welt der Kunst in eine Gegenwelt der expliziten Gewalt schickt und wieder zurück, von der realen in eine innere Wüste. Ein Film, den der Hass kickt, den er vorführt, die Gewalt, die er zeigt, vor allem aber kickt ihn die äußerste Kontrolle über das Bild, Trademark Tom Ford: der Regisseur, der noch und gerade die verrottetsten Dinge in akkurat ausgeleuchtete Einstellungen packt, den an Innenleben nur das Äußerste interessiert und überhaupt das Äußere mehr als jedes Innen; seine Liebe gilt den Texturen der schäbigen Wände des Trailers, seine Verachtung dem White Trash, der darin vergewaltigt, tötet und lebt. Und noch mehr, am allermeisten kickt ihn sogar, wie sich an den Scharnierpunkten der Parallelmontage Akzente setzen lassen, Pointen: Im Match Cut kommt das ästhetische Empfinden Tom Fords zu sich selbst. Mit diesem Sinn für Präzision könnte der Mann auch eine Guillotine bedienen.

Strukturkern ist eine wüste, aber sehr säuberlich ausgeführte Fiktion-in-der-Fiktion-Konstruktion (nach einem Roman von Austin Wright, den ich nicht kenne und nie lesen möchte), die mit viel Aufwand darauf hinaus läuft, eine Frau allein an einem Tisch sitzen zu lassen und zu behaupten, sie habe den kompletten Zusammenbruch ihres Lebens verdient. Kunstwelt/White-Trash-Welt. Kunstbetriebssatire/Thriller. LA/Texas. Anschein äußerster Zivilisiertheit/der Mensch als Tier. Nocturnal Animals ist der Titel des Romans, den Susan Morrow von ihrem Ex-Mann Edward Sheffield (Jake Gyllenhall) per Post kriegt. Sie liest, wir sehen sie lesen. Sie liest sich fest, wir bekommen die Bilder der Geschichte, die der Roman erzählt. Nächtliche Straße im texanischen Nirgends und Nichts, drei Männer bedrängen einen Familienvater, seine Frau, seine Tochter, drängen ihn von der Straße, entführen Tochter und Frau: Das führt zu sehr schön drapierten Leichen, deren Anblick einen feinen Match Cut erlaubt. Und es führt in eine zynische Rachegeschichte, in der ein Frankenstein-Monster namens Bobby Andes, zusammengesetzt aus tausendundeinem Thrillerklischee, den Familienvater zur Rache verführt.

Susan Morrow hat Edward Sheffield damals verlassen: Er schien ihr zu schwach, als Schriftsteller ein Versager. Nun packt er sie mit diesem Roman. Packt sie so richtig. Zumal ihr jetziger Mann, superattraktiv, irgendwas mit Finanzen, erstens vor dem Bankrott steht und sie zweitens betrügt. Sie durchleidet also mit der Hilfe Tom Fords die Texas-Thriller-Fiktion, sie polt ihr Begehren zurück auf den verlassenen Mann, von Geld und Kunst zu Tieren der Nacht und wahrer Literatur. Sie zeigt Reue per Mail. Sie soll Vergebung wollen, so ist dieser Plot konstruiert, für etwas, das ihre eigenen Entscheidungen waren, die ihr der Film nicht vergibt. Er bringt dafür eine zynische Mutterinstanz ins Spiel und verlängert seine Verachtung für die Entscheidung der Frau um eine Generation. Und am Ende wird sie die Vergebung, die sie wollen soll, nicht bekommen. So ticken Kontrollfreaks. Alles muss sitzen, wenn sie bestrafen. Die Match Cuts. Oder die Frau. Allein mit dem Whiskey. Die Kamera zieht sich zurück, als hätte, wer sich diese infame Strafaktion ausgedacht hat, damit nichts zu tun.

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Die Einsiedler: Der Titel von Ronny Trockers Spielfilmdebüt (Orizzonti) verspricht nicht zu viel. Das ist das Ende der Welt, Südtirol, Alpen, ein Bergwerk. Albert lebt hier (Andreas Lust). Er kam von einem Einsiedlerhof auf der Alpe, seine Mutter und sein Vater leben noch dort. Mühsam der Aufstieg, meistens kaputt der Motor eines Seilzugs, mit dem man schwerere Dinge oder auch den Vater nach oben transportiert. Karg sind die Wörter und Gedanken der Menschen, bösartig auch, karg und schwer und so steinern fast wie die Trümmer, die Alberts Firma aus dem Berg herausbricht.

Fremd ist dieser Mann unter Menschen, entfremdet den Eltern, denen er hilft. Schüchtern erst, dann etwas stürmisch, dann wieder schüchtern nähert er sich der Frau, die ihm gefällt. Kühl, genau, langsam sind die Einstellungen, mehr Klang als Musik, kaum moduliert ist der Sound, der gelegentlich anschwillt. Millimeterweise kommt der Film diesem Mann nahe, der kein Geheimnis hat, dem auch keins unterstellt wird. Es entwickelt sich wenig, man braucht viel Geduld mit dem Film, der so viel Geduld mit dem Mann hat, der wenig Geduld mit seinen Mitmenschen zeigt. Es ereignen sich Dinge, die dann doch Risse ins Fundament des felsigen Grunds bringen, auf dem Albert steht. Man sieht einem Berg beim Einstürzen zu.

Die Einsiedler ist ein Film, in dem es rumort. Menschen verschwinden, ein Ende der Welt, das sich leert. Wie ein ganz fernes Grollen hört man einen apokalyptischen Ton. Zweimal schwillt er an zu großem Getöse. Dabei wird das alles ohne die mindeste Aufregung gezeigt und erzählt. Mit viel Sinn fürs Detail, für Rudl, Hund, Kuh und in die Küche eingedrungene Ziegen. Das Buch weiß mehr als genau, was es tut; stellt die Menschen, Dinge und auch den Fels und den Stein mit sicherer Hand an den Platz, an den sie gehören. Die Einsiedler zeigt Entschlüsse, die reifen: das Reifen und den Entschluss. Am Ende fallen zwei Schüsse. Albert hat sie gehört.

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Frantz ist der tote Mann, der bei Lubitsch Hölderlin hieß. Frantz, Ozons neuester Film, ist das Remake eines Lubitsch-Films, den ich nicht kenne (aber unbedingt sehen möchte): Broken Lullaby, keine Komödie, von 1932, nach einem Theaterstück von Maurice Rostand. Eine einfache, pazifistische, zu Herzen gehede Geschichte von kurz nach dem Krieg. Ein junger Mann, ein Franzose, taucht in Quedlinburg auf, wo der Hass auf die Franzosen lebendig ist, um einem im Krieg Gefallenen die Ehre zu erweisen: Er legt Blumen auf Frantz' Grab. Anna, zu dessen Lebzeiten die Verlobte des Toten, beobachtet ihn dabei, sie lebt wie eine Tochter bei den Eltern, ein biederer Nationalist namens Kreutz wirbt um sie.

Aber ihr Blick ist auf Adrien gefallen und haftet auf ihm. Er besucht die Familie, er erzählt, wie das einst war in Paris, sie seien dort Freunde gewesen, das Selbstmörder-Bild von Edouard Manet habe Frantz sehr bewegt. Der Vater, der die Franzosen als Mörder seines Frantz hasst, lernt diesen Franzosen als Freund seines Sohnes zu lieben. Mit ihm kommt Wärme zurück in den Mann, den Ernst Stötzner sehr ernststötznerhaft spielt; und mit Adrien Rivoire kommt auch etwas anderes (zurück) ins kontrastreiche Schwarz-Weiß des Films, dessen erstes Bild im Vordergrund farbige Natur zeigt und im Hintergrund Quedlinburg in Schwarz-Weiß.

Die Farbe ist warm, schön, nostalgisch. Die Nostalgie aber ist vergiftet, man darf dem Bild und der Farbe nicht trauen. Manches hier ist zu schön, um ganz wahr zu sein. Auf Umwegen erst, auf denen ein Pfarrer der Lüge im Beichtstuhl seinen Segen gibt, wird, was Lüge ist, wahr. Oder vielleicht nicht wahr, aber richtig.  Ich verrate hier die Pointe des Films nicht, obwohl sie allen, die Broken Lullaby kennen, natürlich bekannt ist. Ich verrate sie nicht, weil ich sie selbst nicht kannte, und weil ich finde, dass das Vergnügen, das der Film bereitet, viel mit dem Sfumato zu tun hat, durch das man sich lange bewegt.

Er nimmt eine Wendung, die erst nach Paris führt und dann in ein Schloss. Hier werden andere Lügen, die keine waren, oder nur solche des Herzens, also eigentlich schlimmere Lügen, anders wahr: Das sind keine, in denen man sich einrichten kann. Anna erfährt eine bittere Wahrheit, sieht ihr ins Gesicht und daraus macht Ozon ein Drama, aber keine Tragödie. Manet wird es richten. Ins Lügengebäude der anderen aber schickt Anna Briefe wie Einrichtungsgegenstände, damit es wohnlicher wird.

Diese Bejahung der Lüge ist eine Frivolität, ich sehe gleich, wie das Lubitsch gefällt. Ozon macht sie mit. Haneke, ich muss leider noch einmal auf ihn kommen, denn es ist klar dass Frantz zum Weißen Band eine untergründige Beziehung unterhält, Haneke also hätte sie niemals durchgehen lassen. Er hätte bestraft und gegeißelt. Manche Wahrheit, so dagegen Ozon, ist Strafe genug. Wer die Menschen liebt, muss ihnen die Lüge erlauben. Das ist verteufelt human. Human darin, dass es den Teufel als eine Kraft sieht, die in falschen Farben nicht das Wahre, aber das Richtige schafft.

2. Tag

Im Kreis erzählen will dieser Film. Sich in einen Kreis hineinerzählen, bei dem nicht Anfang- und Endpunkt sich berühren, sondern ein Punkt beliebig den andern. Arrival trägt - mit unbestimmtem Artikel – eine Ankunft im Titel, es geht um Erlösung, aber einen Messias sucht man vergeblich. Wer ankommt: 12 dunkle Hinkelsteine, nach nicht entschlüsselbarem Muster verteilt auf die Kontinente der Welt. Sie schweben knapp über dem Boden. Sie werden auf dem Soundtrack von Musik begrüßt, die zwischen Buckelwal und Didgeridoo oszilliert. So fängt es an: Eine Wolkenwand nähert sich von der Seite, die große Leinwand ergibt sich in einer ersten Annäherung für einen Moment der Schwärze des Fremden, das nicht grässlich ist wie der durch Stürme empörte Ozean. Am Ende ist dieses Fremde vielmehr erhaben, weil es den Verstand der Menschheit, die ihm begegnet, in Richtung einer neuen Idee ihrer selbst übersteigt.

Heptapodische Aliens leben im Stein. Sie sind gekommen. Um zu bleiben? Wollen sie mit der Sprache heraus? Wie nimmt man Kontakt auf? Eine Gruppe von Wissenschaftlern geht hinein. In den Stein. Sie stehen bald halb auf dem Kopf. Louise Banks (Amy Adams) ist Linguistin. An ihrer Seite: der Physiker Ian Donelly (Jeremy Renner). Eine Konkurrenz zwischen geistes- und naturwissenschaftlichem Erklären, die für eine Versöhnung durch Paarbildung prädestiniert scheint. So einfach ist das aber nicht, weil nichts einfach ist in Arrival. Der Kreis wird sich vom ersten Bild an geschlossen haben. Man verrät damit nicht zu viel, denn der Film, die Stimme von Louise Banks, sagt es, bevor alles anfängt: Gegenwart, Zukunft, Erinnerung, Prophetie - an diesen Unterscheidungen ist einiges falsch. Wir werden gelebt haben. So beginnt es. So wird es enden. Remembrance of Things Future and Past.

Sie nehmen Kontakt auf. Zwischen Mensch und Alien eine Leinwand. Sie muss beschrieben werden. Arrival ist nicht Hard Science Fiction. Die Physik ist rasch aus dem Rennen, Donnelly läuft eher mit: staunend, imitierend, der Held ist die Frau, der der Mann nur das Kompliment machen kann, dass sie wie ein Mathematiker denkt. Arrival ist eine First-Contact-Erzählung. Also verlängerte Ethnologie. Über die fremde Kultur erfahren wir weiter nichts. Schemen und Schatten. Nur das: Sie sind gekommen, um zu kommunizieren. Darüber denkt der Film nach und nimmt die Sapir-Whorf-Hypothese und macht etwas Großes daraus.

Er schiebt den Regler gelegentlich hoch, dann kommen weltpolitische Verwicklungen ins Bild. Und er schiebt ihn runter, dann wird es aufs Intimste privat. Arrival ist dabei, und gerne, immer wieder recht konventionell. Er malt in Stimmungen, aber darauf soll es im Kern nicht hinaus. Vielmehr hat der Film eine Idee davon, wie die privaten und die politischen Dinge zusammenhängen. Es fehlt ihm die Grandiosität des Intimen eines Malick, auch wenn Villeneuve danach hascht. Ein bisschen ungelenk ist das zwischendurch. Aber auch sehr schön und groß naiv. Nachdenken über Sprache im Action-Register. Eine Bombe zu später Stunde hat hier nichts zu suchen. Ein falscher Fremdkörper, der sich selbst wegsprengt. Ein paar Dinge tut der Film, weil er glaubt, dass er muss. Er könnte freier sein. Aber er ist frei genug. Und am Grund seiner selbst hat er nur eines im Sinn: Auf die große Leinwand Zeichen zu malen, die rätselhaft sind. Die Bilder für die Sprache als Virus zu öffnen, das, was Stein, was Drohung, was Heptapod war, in Schall und Rauch auflöst. Ein Wort schließt den Kreis und umfasst alles. Das Wort lautet: Ja.

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Eine Bühne, ein fast leeres Theater, eine Probe, Leoncavallo, Oper, Liebe, erst einmal ist nicht klar, was hier läuft. Hinter der Bühne ein Kuss, den Blicken entzogen, also echt, nur dass in Wahrheit mehr als ein Blick darauf fällt. Was ist das, wo sind wir, mit wildem Belcanto knallt Marco Bellocchio in Pagliacci das erst mal so hin. Nächste Szene, im Privaten, an einem Tisch. Etwas klärt sich: eine Familienaufstellung. Es geht um Hass, Leidenschaft, Geld. Eine Tochter wird hypnotisiert und sagt die Wahrheit über die Mutter: Klytämnestra. Hart gesetzt ist das Licht, gerade im Dunkeln. Hart gesetzt sind die Schnitte, jede Einstellung ein präzise ausgeführter Hieb. Achtzehn Minuten lang peitscht das auf dich ein. Ich und meine Gefühle, die, wie es der Film will, immer etwas schneller waren als der Verstand, haben uns gerne einpeitschen lassen.

Es ist die Eröffnung der Woche der Kritik. Sie wird vor den Langfilmen Kurzfilme zeigen, die im Rahmen des von Bellocchio angeleiteten Nachwuchsprojekts «Fare Cinema» entstanden sind. Falls ich das richtig verstanden habe. Zwar wird hier ins Englische übersetzt, aber gerade das Entscheidende wieder nicht. Dafür wird ausgiebig den Sponsoren gedankt. In den Nebenreihen läuft nach dem eher läppischen Festivaltrailer immer noch das Werbefilmchen einer Bank, die das Kino liebt. Sind so kinoliebende Banken.

Der eigentliche Eröffnungsfilm: Prevenge von Alice Low. Sie kommt auf die Bühne, sie hat ihre Tochter auf dem Arm, noch ein Baby. Man wird verstehen, warum. Als sie den Film drehte, war sie hochschwanger. Keine überflüssige Information, denn die Protagonistin Ruth (Alice Low) lässt sich die Bluttaten, die sie begeht, vom Ungeborenen diktieren. Sie tötet, Männer vor allem, aber auch Frauen, eine Firmenchefin darunter, die sich über eine schwangere Frau, die einen Job will, fast schon empört. Ein Mann ist in Schlangen, Gewürm, Spinnen vernarrt. Ein fester Schnitt durch den Hals schafft ihn aus der Welt. Ein anderer spielt mit Afro-Perücke in einer trostlosen Bar Disco-Musik und glaubt, er könne Ruth einfach so haben. Ab mit dem Schwanz. Low filmt die Schnitte, das sprudelnde, spritzende Blut mit Gusto. Sie ist eine sehr böse Mutter eines sehr bösen noch ungeborenen Kinds. In diesem Film steht also allerlei auf dem Kopf. Nur: Was hat Ruth zu der gemacht, die sie ist? Weiß sie, was sie tut? Und Alice Low: Will sie nur spielen? Als feministische Aneignung von Gore hat Prevenge jedenfalls seine Probleme. Die ausagierte Gewalt überschießt als Symptom der Ruth angetanen Dinge jede mögliche Motivation. Was dann bleibt, ist eine komplett derangierte Person. Es gibt keinen guten Grund, ihren Racheakten mit der Freude zuzusehen, die der Film daran hat.

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Manila, Gegenwart. Jane und Aries Ordinaryo, 16 und 17. Sie sind ein Paar und haben einen Sohn, Arjan heißt er, nach den Anfangsbuchstaben ihrer eigenen Namen. Sie leben auf der Straße, sie schnüffeln Stoff, der sie kaum high macht, und wenn sie Sex haben wollen, wandern ihre Blicke dabei herum, aus Sorge, es kommt jemand vorbei. Viel privaten Raum haben sie nicht. Viel Hab und Gut haben sie nicht. Viel Geld haben sie nicht, eigentlich keines, außer Aries klaut mit seiner Bande noch jüngerer Kids einem Touristen ein Handy, das er dann auf dem Schwarzmarkt verkloppt.

Die ersten Bilder von Eduardo W. Roy Jrs. Pamilya Ordinaryo (Giornate degli Autori) sind Überwachungskamerabilder. Man sieht, ohne Ton, beschleunigt, in entsättigten Farben, aus einer Perspektive, die alles im Bild gleich und damit gar nichts betont, wie ein Auto eine junge Frau anfährt, auf die Straße schleudert, sie wird im Krankenhaus sterben. Aber das ist nicht die Geschichte, um die es geht. Im Umschnitt auf den «richtigen» Film tritt eine junge Frau, ihr Baby im Arm, aus dem Off.

Es geht um sie, Jane, und um Aries, deren Nachname Ordinaryo sie zu Allegorien des Normalfalls erklärt. Zwei von vielen. Einzelschicksale unter anderen. Was ihnen widerfährt, ist eine Geschichte, wie sie auch die Dardennes erzählen, Sereing/Manila, Bilder aus dem Leben der Nichtprivilegierten. Es sind Handkamerabilder, nicht mit Dardenne-Insistenz, sehr beweglich, den Figuren folgend, ein wenig Raum um sie lassend, aber nie öffnet sich der Rahmen so weit, dass man ein Draußen zu sehen oder zu spüren bekäme. Allerdings kehren die Überwachungskamerabilder wieder, immer starr, tonlos, immer zeigen sie kleine Verbrechen. Das ist der Blick der Polizei, die nur registriert. Und das ist vergleichsweise der bessere Fall: Wenn sich der Blick der Polizei in den eines älteren Polizisten individualisiert, wird er lüstern und nimmt sich mit der Macht, die er hat, den Blick auf Janes Brüste. Auch der Film zeigt sie, kurz, muttermilchverschmiert. Solche Details sind hier wichtig.

Arjan wird gestohlen. Das ist der Kern des Plots, der die Bewegung der Protagonisten noch einmal beschleunigt. Sie suchen den Sohn, sie verlassen die vertrauten Zonen der Stadt, sie begehen Verzweiflungstaten. Ob er an eine reiche Familie verkauft worden ist? Und wäre das vielleicht nicht so schlimm, fragt Aries Jane, weil er es da besser hätte als bei uns auf der Straße. Jane weist das zurück. Unrecht ist Unrecht, Nutzenargumente sind falsch. Sie ist stärker als er.

An manchen Stellen streift der kitchen sink von Pamilya Ordinario die Satire. Eine Radiosendung, eine Fernsehsendung beuten das Schicksal von Jane und Aries aus. Sie müssen erleben, wie ihre Geschichte von auf räudig geschminkten Darstellern fürs Mittelschichtfernsehpublikum nachgestellt wird. Am Ende geraten die beiden in eine gated community der besseren Gesellschaft. Sie suchen da ihren Sohn, aber alles signalisiert ihnen: Sie haben hier nichts zu suchen. Sie flüchten. Mit einem letzten Blick in ihre Gesichter lässt der Film Jane und Aries da, wo sie waren, zurück.

1. Tag

La La Land will zurück in Hollywoods Zukunft. Träumt sich einen Stand der Dinge zurecht, den es nie gab. Will den Jazz retten, will Träumer verteidigen, will das Musical als alte Form in die Gegenwart bringen, will eine erzromantische Liebesgeschichte erzählen, will voller Anspielungen sein, aber nicht epigonal, will auf der Stelle tanzen, will abheben, fliegen, fliegt dann auch, im Griffith Observatory in LA, will zeigen, was Damien Chazelle alles kann, will zeigen, was Emma Stone und Ryan Gosling alles können. Sie tanzen und singen, Emma Stone spielt sich spielend, aber spielerisch ist das nicht. Wer bei Gosling bislang schon Charisma vermisste, wird hier erst recht keines finden. Der Film will Hommage sein, an Cinemascope, an 35mm, beim ersten Kuss schmilzt im Film das Material, aus dem der Film nicht besteht. Kurzum: La La Land will, will, will. Und kann auch. Und wie er kann. Die Kamera wieselt flink und fetzt schwerelos durch Räume, die darum nicht so recht welche sind.  Gleich zu Beginn eine Highway-Massenchoreografie, voll der plansequenzverliebte Hammer, spontaner Applaus im Festivalsaal, wer will, darf auch an Godards Week End denken. Gestopft ist der Film mit Zitaten und Orten. Mit Jazz. J.K. Simmons als strenger Boss erinnert an Whiplash, Chazelles Durchbruch, ein steindummer, virtuoser, in seiner Künstler-muss-leiden-Ideologie fast schon faschistischer Film. La La Land ist etwas weniger dumm, dafür tendenziell noch virtuoser, ein Film, der seine doppelten und dreifachen Böden aus Schöpfereitelkeit ständig vorzeigt. Er will die große Geste und sichert sie vielfach ab. Er will alles haben, also etwa Raumgefühl plus von Schwerkraft und Subjekt gelösten Blick. Aber davon geht doch nur eins. Was fehlt: Eleganz. Was der Film mit aller Kraft will: Leichtigkeit. Aber Leichtigkeit ist haut bas fragile. Die kommt nicht, wenn man sie jagt. Sie kommt nicht, wenn man Träume ausbuchstabiert. Man muss sich schon träumen lassen, man darf von den eigenen Wünschen nicht zu viel wissen. Sonst hat man ein Virtuosenstück, das Fliegen und Tanzen und Anstrengungslosigkeit mit großer Anstrengung performt, aber angestrengt ist, und schon gar nicht tanzt oder fliegt.

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Perfekt passt der Anschlussfilm, in der kleineren Sala Volpi, den zeitgleich laufenden Kim Ki-Duk habe ich lieber gemieden, stattdessen Giornate degli Autori: Polina, danser sa vie. Das Schöne am Titel: Er formuliert die These des Films. Das Schlechte am Titel: Er formuliert die These des Films. Das Schlechte an der These: Sie ist arg simpel. Das Schöne am Film: Er setzt die Klischees, aus denen er besteht, mit beinahe überzeugender Kraft um. Das Genre des Films: ein Bildungsroman. Die Protagonistin: Polina. Moskau, Kraftwerkstürme, der Vater macht krumme Geschäfte, sie bekommt ihre Ausbildung im Bolschoi-Ballett. Streng ist der Lehrer, aber auch stur, er lehrt den Gehorsam, der in der Verweigerung besteht. Russische Zen-Version. Du musst den Guru hinter dir lassen. Am Ende kehrst du, als jemand, den er selbst nicht schaffen konnte, zu ihm zurück. Sein Blick ist der Vaterblick, an dem Polina sich ausrichten wird, ihre innere Turmgesellschaft, im Namen dieses Vaters zieht sie hinaus in die Welt. Das ist der wahre Vater, der den richtigen Vater mit seinen zu einfachen Erwartungen ersetzt. Darum muss der richtige Vater erst sterben und wird durch den wahren Vaters ersetzt. Polina, danser sa vie ist mit dem Hammer erzählt.

Eine doppelte Regieangabe: Valérie Müller und Angelin Preljocai. Preljocai ist ein Star-Choreograf des zeitgenössischen Tanzes, Olivier Assayas hat eine Doku über ihn gedreht (in der Preljocai Stockhausen trifft), energische Stücke, romantisches Vokabular, Residenz im grandiosen Pavillon Noir in Aix-en-Provence, ein Glaskubus, über dessen Fronten überkreuz asymmetrische Streben verlaufen. Diesen Ort setzt der Film, setzen Preljocai und Müller, sie ist seine Frau, charismatisch ins Bild. Auf ihn läuft die Bildungsgeschichte Polinas zu, aber sie endet nicht dort. Eine Station in einer sich erst am Ende, im Rückblick, rundenden teleologischen Biografie. Ein Kreis schließt sich, ein mächtiges Tier kehrt wieder, knickt nicht weg, sondern geht stolz davon. Das ist ein Film, der sich Überdeutlichkeiten erlaubt. Ich neige dazu, ihn dafür zu mögen.

Danser sa vie, was es dafür braucht, ist: ein Leben. Das verschafft der Film seiner Protagonistin. Sie tanzt, klassisch, perfekt, aber leblos. Aus innerem Antrieb will sie davon. Nicht der Liebe wegen, obwohl auch die Liebe nicht fehlt. Innere Antriebe sind stark, aber blind. Sie glauben zu wissen, aber vor allem wollen sie weg, wissen, dass das, was ist, es nicht ist. In diesem Satz ist der innere Antrieb das «es». Suche nach dem «es»: Bildungsroman. Also auf, nach Aix. Scheitern. Eine andere Lehrerin, ein anderer Blick. Juliette Binoche hat sich zeitgenössischen Tanz draufgeschafft, schön. Der Körperschwerpunkt sitzt dabei tiefer. Polina ist très classique. Sie will da raus. Sie will zu viel. Und hat nicht genug. Das ist hier das Drama, das der Film ausformuliert. Bei La La Land ist es das Drama des Scheiterns des Films.

Polina, danser sa vie scheitert nicht, ja, vermutlich scheitert er viel zu wenig. Er führt vor, superdidaktisch, wie man Scheitern zulässt. Polina scheitert in Aix. Sie scheitert noch einmal. Sie jobbt in einer Bar. Dann begegnet ihr etwas, jemand, einer, der mit Jugendlichen Tanz improvisiert. Leben lernen heißt improvisieren lernen. Polina vergisst nicht, was sie kann. Das geht auch nicht. Bildung, also Leben, ist nicht Vergessen, sondern Transformieren. Sie bricht aus, aber nimmt mit, was sie hat. Sie muss das Mitgenommene verneinen, aber auch die Verneinung bezieht sich noch auf das, was man mitnimmt, das Gesetz, den Namen des Vaters. (Der Film performt Lacan, als Bildungsroman.)

Das ist alles überdeutlich, aber stringent. Und wird konsequent in der Sprache des Tanzes ausformuliert, der sich die Sprache von Kamera und Schnitt anschmiegt. Toll einmal früh von schräg ziemlich weit oben ein Vortanzen im Tutu. Am Ende einschlägigster Preljocai, schlängelndes Körperduett mit Spuren im Schnee. Polina, danser sa vie zeigt, wo das herkommt. Auf seine Art ist auch das schrecklich eitel. Aber es ist eine Eitelkeit, die wirklich was will. Fragen kann man nach dem Verhältnis des Films, seiner Macher, zur Figur. Sie demonstriert, was Müller und Preljocai wollen. Sie sind die Turmgesellschaft, von der sie nichts ahnt. Verstärkt wird das ungute Gefühl noch durch Nastja Schewtzodas inexpressives Spiel. Das Schöne am Film: Er zieht da was durch. Das Schlechte am Film: Fast geht er in dem, was er durchzieht, dann doch vollständig auf.

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Hommage à Kiarostami. Im Saal sind ein Sohn und ein Mitarbeiter und Freund. In der eher schütter gefüllten riesigen Sala Dardena ist Alberto Barbera, künstlerischer Leiter des Festivals, der erzählt, was für ein enger Freund Kiarostami für ihn war. Er spricht unübersetzt Italienisch, ich verstehe zum Glück nur die Hälfte. Das Programm der Hommage hat drei Teile. Man sieht zwei kurze Filme von Kiarostami, einen des Freunds, Samadan Seifollah. Der eine, längere kurze, Take Me Home, ist eher so lala. Quasi-fotografische Bilder von Stufen, Häusern, Wänden, Treppen in alten italienischen Städten. Ein Junge, wie aus Wo ist das Haus meines Freundes, legt einen Ball auf eine obere Stufe, der kullert, springt, rollt dann durch Kiarostamis schwarz-weiße Fotografien. Dazu beschwingte Musik. Auch große Regisseure machen manchmal eher belanglose Sachen.

Anders, zwingender, ein Haiku mit Fenstern, Licht, Schatten, Tauben, ist der eine der 24 Filme des Projekts 24 Frames, der schon fertig ist. Den Rest hat Kiarostami, sein letztes Werk, wohl noch fertig gedreht, sie sind in der Postproduktion. Vier Minuten dreißig, eine starre Einstellung, Blick aus einem Fenster, ein weißes Rollo, hinter dem sich der Schatten einer Taube abzeichnet und wie auf einer Leinwand bewegt. Man sieht Streben in rechten Winkeln, drinnen, draußen, eine alltägliche, reiche Komposition, im Gras, das man auch sieht, weitere Tauben. Gurren hört man. Lauter, viel lauter aber läuft, extradiegetisch bis zum Geht-nicht-mehr: Ave Maria. Zum Abschluss dieser Hommage ist dieses Pathos bewegend, aber mal sehen, womit die anderen Frames des Projekts sonst unterlegt sind.

Zwischen den Kiarostami der Film des Freundes: 76 Minutes and 15 Seconds With Kiarostami. Der Titel verspricht nicht zu viel und nicht zu wenig. Seifollah war mit seinem Lehrer und Freund unterwegs. Kontexte sind nicht wichtig, mal erfährt man etwas, mal bleibt man auf das bloße Dabeisein verwiesen. Ein Dreh mit Masoud Kimiai, andere Legende des iranischen Films, Kiarostami ist zu Gast, Panahi filmt Kimiais Dreh. Es regnet stark. Eine Fahrt durch das Dorf, in dem Quer durch den Olivenhain spielte. Kiarostami ruft seine Hauptdarstellerin spontan an, bleibt im Auto sitzen, sie kommt auf die Straße, bittet ihn zum Tee in ihr Haus, er muss weiter, sie ist schön, sagt er, sie hat Englische Literatur fertigstudiert, sagt sie.

Solche Szenen. Man ist dabei, wenn die tollen Regen-auf-Glas-Fotografien entstehen, eine davon war einmal ein Cargo-Cover. Fotos werden entwickelt, Kiarostami achtet auf die Feinheiten beim Poster für Copie Conforme. Er wischt Schnee von der Windschutzscheibe, er filmt Enten, er entwirft eine Installation. Schwarzblenden zwischen den einzelnen Szenen, man blättert durch ein Fotoalbum in Bewegtbildern, noch ist nichts verblasst, so lebendig ist Kiarostami, der scherzt, spielt, Gedichte vorliest, Kiarostami, den man sich angesichts dieses Films nicht als tot vorstellen kann. Und was kann man über einen solchen Film, der gar nichts Bedeutendes sein will, Besseres sagen?