tiff 2016

21. September 2016

TIFF 2016: 26 Filme Notizen vom Toronto International Film Festival

Von Bert Rebhandl

Manchester by the Sea (Kenneth Lonergan)

Casey Affleck spielt Lee Chandler, einen Klempner, der nach dem Tod seines Bruders aus Boston in seine Heimatstadt ein paar Autostunden nördlich zurückkehrt, die er – das machen Rückblenden allmählich deutlich – als gebrochener Mann verlassen hat. Er sieht sich mit dem Sorgerecht für seinen Neffen Patrick konfrontiert. Die ausnehmend melancholische Stimmung bricht Lonergan zunehmend komisch, indem er dem Teenager mehr Geltung verschafft. Nuancierter amerikanischer Populismus mit einem guten Ensemble. Bester Moment: ein Gastauftritt von Matthew Broderick.

 

Godless / Bezbog (Ralitza Petrova)

Ein Film aus Bulgarien, der seinem Titel in jeder Hinsicht gerecht wird (als allegorischer Befund über eine Gesellschaft wie schließlich mit seiner konkreten Herleitung aus einer Legende): Eine mobile Pflegerin ist das schwache Glied in einem großflächig organisierten Betrug auf Kosten des Staats und alter Leute. Das «Gottlose» in dieser Welt ist äußerste Konsequenz postkommunistischer Wolfszeit (verschärft durch die orthodoxen Gesänge, mit denen Petrova le mysterère des voix bulgares neu entdeckt). Das Elend der Alten ist letzte Konsequenz eines extremen 20. Jahrhunderts («die Deutschen waren schön»), das (in dieser nasskalten Vision) Desolatheit und Brutalität hinterlassen hat.

 

Orphan / Orpheline (Arnaud des Pallières)

Vier Stationen aus dem Leben einer Frau: Das dramaturgische Rätsel, das des Pallières stellt, löst sich bald auf in einer hektischen Bewegung durch eine Biographie zwischen Ausreißen und Untertauchen. Im Zentrum stehen die Schauspielerinnen, die auf unterschiedliche Weise mit der Sexualität ihrer Figur «arbeiten», bis sich schließlich das Leitmotiv der Verwaistheit in einer brillanten Pointe bestätigt und aufhebt. Des Pallières ist verknallt in unreine Haut. Pickel, Sommersprossen, Prügelflecken sind Zeichen der körperlichen Intensität, die ihm wichtiger ist als eine immer nur angerissene Geschichte.

 

La mort de Louis XIV (Albert Serra)

Sire hier, Majestät da: Serra zeigt den Absolutismus als Groteske in dieser moribunden Antwort auf Rossellinis Klassiker über die Machtübernahme von Ludwig XIV. Außer einem Festungsprojekt, das er nicht mehr durchblickt, hat es der Souverän hier nur mehr mit seinem pars pro toto absterbenden linken Fuß zu tun, während ihn Ärzte und Diener endgültig zu Tode füttern. Jean-Pierre Léaud zeigt, wie man eine Figur, die nur noch liegt (vorzeitig begraben von einem Perückenungetüm, das Epochen erdrücken könnte), mit schwindendem Leben erfüllen kann. Ein typischer Serra. Ganz großer Filmemacher, würde ich derzeit sagen.

 

Jean of the Joneses (Stella Meghie)

Eine kleine Komödie um eine afroamerikanische  Familie aus Brooklyn: Im Mittelpunkt steht Jean, die als Autorin schon das Etikett einer «neuen Zadie Smith» appliziert bekam, nun aber die Geduld ihres Verlags aufgebraucht hat. Nach der Trennung von ihrem weißen Freund Jeremiah zieht Jean (Taylour Paige) reihum bei ihren durchwegs weiblichen Familienmitgliedern ein – und stört den den faulen Frieden. So ungefähr hat sich damals She’s Gotta Have It von Spike Lee angefühlt, wobei Jean of The Joneses die Emanzipationserfolge der Frauen kritisch bilanziert: die in mehrfacher Hinsicht «obdachlose» Jean ist das Kind dieser Emanzipationen. Am Ende löst sich alles fast in Wohlgefallen auf, und es wird wohl auch ein Buch draus (das Stella Meghie vorsorglich schon mal verfilmt hat).

 

I am Not Madame Bovary (Feng Xiaogang)

Vielleicht der eigentümlichste und interessanteste Film dieses TIFF-Jahrgangs, auch vor dem Hintergrund, dass Feng Xiaogang mit Aftershock einen lupenreinen kommunistischen Großpropagandafilm vorzuweisen hat – am Ende «siegt» auch hier die Partei, aber nur auf eine sehr vermittelte, durchaus dialektisch zu nennende Weise. Eine Frau aus der Provinz strengt ein Gerichtsverfahren an, das anfangs allen als querulantisch erscheint, das aber immer größere Kreise zieht, und das Feng Xiaogang bei aller konkreten Satire dazu dient, das Verhältnis von Individuum und Staat in einer Parteidiktatur zu reflektieren. Meistenteils mit einer Kreisblende und mit deutlichen Anspielungen auf chinesische Malerei, ist I am Not Madame Bovary auch formal ein Spiel mit der Erweiterung und Verengung von Horizonten, und auf jeden Fall eine relevante (Selbst-)Kritik eines Systems, dem es lange Zeit auf einzelne Schicksale prinzipiell nicht ankam, weil es ja die große Sache gab.

 

Untamed / La Region Salvaje (Amat Escalante)

Das «Primitive» in der menschlichen Sexualität bekommt hier konkrete, außerkörperliche, außerirdische Gestalt in einem Krakenwesen, zu dem immer wieder Leute aus der Stadt in den Waldrand pilgern, und dort irgendwann, nach unaussprechlichen Wonnen, übel zugerichtet werden. Faszinierende (zufällige) Parallelen zu einem Computerspiel, das in Paul Verhoevens Elle eine große Rolle spielt (Tentakel a tergo).

 

The Woman Who Left / Ang babeng humayo (Lav Diaz)

Gott sieht die Wahrheit, aber er lässt sich Zeit, sagte Tolstoi: Horacia Somorostro wird nach dreißig Jahren, die sie unberechtigt im Gefängnis war, begnadigt und macht sich auf den Weg in ihr früheres Leben. Sie sucht ihre Tochter auf, der Sohn ist unauffindbar, vor allem aber setzt sie sich auf die Fährte von Rodrigo Trinidad, einem «strongman» in der Gemeinde, aus der sie stammt. Die Stärke dieses (für die Verhältnisse von Lav Diaz) relativ einfachen, linearen Films liegt in der Ambiguität der Hauptfigur, die ein nächtliches (Geschlechter-)Alias annimmt, wie überhaupt Schwärze (die Stimmen aus unerkennbaren Gesichtern, die Schattenseiten des Lebens generell) den Film charakterisiert und stark macht.

 

Land of the Gods / Dev Bhoomi (Goran Paskaljevic)

Eine Geschichte aus einem Himalaya-Dorf, erzählt als klassisches analytisches Drama: Rahul Negi kehrt nach Jahrzehnte langer Abwesenheit zurück, die Umstände seiner damaligen Flucht kommen noch einmal zur Sprache (und zur Auseinandersetzung), eine junge Frau zahlt den Preis für soziale und Geschlechterverhältnisse, die sich kaum verändert haben. Der nordindisch-tibetische Buddhismus wird hier ohne jede Romantik gezeigt, trotzdem ist das wohl ein im weitesten Sinne spiritueller Film, den ich mir nicht zuletzt wegen der Außenaufnahmen angeschaut habe.

 

Birth of a Nation (Nate Parker)

Will wohl so etwas wie Sobibor zu Shoah sein, also ein Film über das Empowerment, das auf die Sklavenerfahrung folgen muss. Nat Turner wird durch einen Prolog als mythisch herausgehobener Mann charakterisiert, bevor er zuerst einmal als Hausprediger, der mit der Bibel die exploitativen Verhältnisse legitimieren hilft, in das System der Sklaverei eingefügt wird. Allmählich wächst jedoch sein Bewusstsein, und auch für den Umschlag in die Revolte dient die Bibel als Motiv: Smite Amalek! (1 Sam 15,3) Nate Parker macht im Abspann deutlich, dass es ihm um «legacy» geht; dabei scheinen ihm die schwierigen Implikationen nicht ganz bewusst sein, die zwischen seinem traditionellen Period-Realismus und der Frage nach einem heutigen Blick auf (und Verständnis von gegenwärtiger) Sklaverei bestehen. Ich komme darauf zurück, denn: komplizierte Angelegenheit.

 

Just Not Married (Uduak-Obong Patrick)

Das TIFF hatte einen Schwerpunkt zu Nigeria, das war meine Stichprobe: Ein Slum-Reißer, der in vielerlei Hinsicht mein bescheidenes Wissen über Nollywood bestätigte. In Bild wie Ton war deutlich zu sehen, dass die produktionstechnischen Ansprüche dieser schnell hergestellten Videofilme nicht für einen Festivalsaal gedacht sind. In Erinnerung bleibt vor allem der Satz der Hauptfigur, eines junges Studenten: «I can’t be poor». Er wird Chef einer kleinen Bande von Autodieben, und setzt sich schließlich nach Malaysia ab, was als Detail auch viel erzählt über die Geopolitik aus der Perspektive eines Landes, in dem nur Reiche an die Visa kommen, die andere Ländern öffnen.

 

Elle (Paul Verhoeven)

Ein Reißer mit einer überragenden Hauptdarstellerin: Isabelle Huppert ist in diesem Jahr (Valley of Love, L’avenir und nun eben Elle) so etwas wie die Krone der Schöpfung in ihrem furchtlosen Spiel gegen Alter, Tod und Gewalt. Verhoeven verfilmt einen Roman von Philippe Dijan, dem Autor von Betty Blue (ein absoluter Schlüsselfilm der 80er Jahre). Es geht um ein digitales Startup, um großbürgerliche Nachbarschaft, und um Vergewaltigung als die äußerste Form einer Dummheit, die in anderer Form auch (für eine kurze Weile) sexuell attraktiv sein kann. Die von der Huppert gespielte Michèle changiert zwischen Opferrolle (sie, pardon, steckt ein) und prononcierter Souveränität. Das Ende deutet einen Exodus aus dem Regime des Phallus an. Einer der Filme des Jahres.

 

Mister Universo (Tizza Covi und Rainer Frimmel)

Das österreichisch-italienische Filmemacherpaar entfaltet geduldig und mit der charakteristischen Offenheit seinen halbdokumentarischen Erzählraum um die Zirkusfamilien weiter, die schon seit Babooska ihr Thema sind. Tairo, ein junger Raubtierdompteur, wird sein Glücksbringer gestohlen, ein gebogenes Eisen, das ihm einst ein schwarzer «starker Mann» geschenkt hatte. Er macht sich auf die Suche nach diesem Artur Rubin, durchquert dabei halb Italien, und am Ende gibt es eine sehr, sehr schöne Auflösung eines unauflöslichen Problems: Wie kann man mit dem Glück einen Pakt schließen? Das ist natürlich unmöglich, es sei denn, man kann ihm so Raum geben, wie Covi und Frimmel das tun.

 

Aquarius (Kleber Mendoncha Filho)

Nach Neighboring Sounds war ich höchst gespannt, und weitgehend löst der Chronist der nordbrasilianischen Stadt Recife auch ein, was er damals versprochen hatte. Aquarius ist vielleicht die Spur populärer angelegt, mit der Starfigur Sonia Braga in der Hauptrolle einer Frau, die aus einer Wohnung an der Strandpromenade nicht ausziehen will, obwohl man ihr viel Geld bietet. Die Zeichen sind rundum deutlich, ihr Analogplattenspieler ist das Dingsymbol einer alten Welt, die auch in Brasilien von einer brutalen Investorenmoderne verdrängt wird. Ein starkes Ende versöhnt mit der einen oder anderen latenten Sentimentalität.

 

The Autopsy of Jane Doe (André Ovredal)

Da das TIFF für Journalisten weitgehend in einem Multiplex stattfindet, in dem man aufs Geratewohl mit dem Badge in alle Vorführungen rein kommt, setzt man sich eben manchmal zwischendurch in etwas Leichtes wie diesen sehr gelungenen Schocker um einen Leichenpräparator/Forensiker und seinen Sohn, die eine junge Frau vorgelegt bekommen, die an vielfachen Traumata gestorben ist, von denen die Leiche äußerlich keine Spur zeigt. Beim Aufschneiden tut sich dann allerdings nicht nur eine Körperhöhle, sondern ein höllischer Abgrund auf. Hat Spaß gemacht. Finale allerdings verschlafen.

 

Kati Kati (Mbithi Masya)

Ein Film aus dem Nachwuchszentrum Tykwer-Steinmann in Afrika. In einer Lodge in der Savanne taucht eine junge Frau auf, der die anderen Gäste erst einmal klar machen, dass sie deswegen hier ist, weil sie tot ist. Danach geht es – gleichsam auf purgatorischem Urlaub – darum, den Tod für sich selbst einzuholen, indem die Erinnerung an das Leben geweckt wird, um damit abschließen zu können. Eine existenzialistische Parabel mit afrikanischer Mythologie an der Grenzmarke der jenseitigen Ordnung.

 

General Report / Informe General II. El nou rapte d’Europa (Pere Portabella)

Die Wiedergeburt der Demokratie aus dem Museum? Pere Portabella filmt in der Fortsetzung seines bedeutenden Films Informe general sobre unas cuestiones de interés para una proyección pública (1977) den engagierten Diskurs in Spanien, beginnend mit dem Nationalmuseum Reina Sofia in Madrid, über die katalanische Separatismusbewegung (die hier als radikaldemokratisch begriffen wird) bis zu Podemos und angrenzendem Aktivismus. Faszinierend vor allem in der Verbindung von Kultur und Politik, Geste, Habitus, Rhetorik und Argument.

 

A Death in the Gunj (Konkona Sen Sharma)

Auch eher ein Zufallsfund, hat sich aber gelohnt: Eine komplizierte Großfamilie verbringt Weihnachten und Silvester 1978 in McCluskiegunj. Klassen- und postkoloniale Verhältnisse durchziehen die ganze Geschichte auf eine nicht immer leicht zu entschlüsselnde Weise, aber gerade darin liegt der Reiz dieser Geschichte, die in dem verunsicherten Shutu einen Sündenbock für Verfehlungen bekommt, die weit über das Individuelle hinausgehen. So könnte ein Film aussehen, der heute an Satiajit Ray anzuschließen versucht.

 

Layla M. (Mijke de Jong)

Die Schleierfrage auf Niederländisch: Layla, eine Schülerin mit marokkanischem Migrationshintergrund, bricht aus der Familie aus und heiratet einen Frommen. Ihre Motive sind zutiefst rechtschaffen: Sie will mit ihrer Ehe einen intimen, heiligen, gottgefälligen Raum schaffen. Das erweist sich aber spätestens mit der Fahrt an die türkisch-syrische Grenze als unmöglich. Mijke de Jong interessiert sich für eine alternative Sicht auf die typische europäische Dschihadistenvita: Layla wird zwar in einer Hinsicht desillusioniert, eine Rückkehr in ein «normales» Leben ist aber keineswegs klar. Das Beste an diesem ansonsten auch konventionellen Problemfilm (mit einer starken Hauptdarstellerin) ist der Schluss: ein halb verhülltes Gesicht, aus dem nichts zu lesen ist außer Ratlosigkeit – auch auf der Gegenseite. Auf unserer.

 

The Magnificent Seven (Antoine Fuqua)

Das Remake des Western-Gassenhauers von John Sturges hat auch das Zeug zum Hit: Für eine Ära, die wieder lernt, was Räuberbarone sind, ist das eine sehr passende Erzählung, die im vertretbaren Maß der Gewalt ihr Recht einräumt, darüber hinaus aber vor allem an der sozialen Differenzierung der heiligen Sieben arbeitet. Die personelle Überraschung ist wohl Ethan Hawke, der sich als neuer Jack Nicholson versucht, auch Vincent D’Onofrio ist super, die Witze sitzen, die Action bleibt dem Westerngenre gerade noch angemessen.

 

Le secret de la chambre noire (Kiyoshi Kurosawa)

Der erste europäische Film des japanischen Workaholics geht an die nekrophilen Wurzeln des fotografischen Begehrens: Ein Mann, der auf einem alten Landsitz sein Studio hat, ist auf lebensgroße Daguerrotypien spezialisiert (der entsprechende Apparat sieht lustig aus), die Modelle müssen entsprechend der beträchtlichen Belichtungszeiten ruhiggestellt werden. Sein Gehülfe lässt sich nicht nur in eine Immobilienspekulation verstricken, sondern verfällt auch der bleichen Tochter. Hört sich theoretisch alles toll an, geht aber nicht wirklich auf.

 

Home (Fien Troch)

Ein niederländischer Versuch, sich ein Bild vom Leben heutiger Teenager zu machen: Kids mit Smartphones, worauf allein es nicht zurückzuführen sein kann, dass sie deutlich desparater wirken als die amerikanischen Kids von Larry Clark seinerzeit. Gefilmt in dem Unmittelbarkeitsmode, der manchmal direkt in Handyfilme umschlägt, entsteht ein neuer Naturalismus mit technischer Schlagseite: Eine Milieutheorie, in der Erwachsene nicht weniger überfordert sind als Sprößlinge, und in der die Institutionen keinen Kompetenzvorsprung haben, was das Leben anlangt.

 

The Limehouse Golem (Juan Carlos Medina)

Mit diesen zwei Stunden habe ich die Wartezeit auf Arrival überbrückt: ein «topical shocker» um eine Mordserie im viktorianischen London, der als besonderen Gag ein Buch enthält, das im British Museum zur Lektüre vorgehalten wird, und in das jemand etwas gekrakelt hat. Dadurch kommen Leute wie Karl Marx oder George Gissing zumindest theoretisch in den Verdacht, der «Limehouse Golem» zu sein, ein Serienmörder in einer Mordserie, die stark mit den theatralischen Sendungen der Ära zu tun hat. Eher was für einen schlaffen Fernsehabend.

 

Arrival (Denis Villeneuve)

Die alte Contact-Nummer in einem sehr ordentlichen Remix: Die erste Viertelstunde, in der die Linguistin Dr. Louise Banks (Amy Adams) zu der landing site in Montana expediert wird, ist großartig inszeniert (vor allem über die Tonspur), danach gibt es auch noch super Ideen, allerdings wendet sich die Begegnung mit einer ULF (unknown life form, habe ich aus Michael Crichtons Sphere) dann doch ein bisschen zu sehr in eine Krisenallegorie des heutigen Planeten Erde (mit Russland und China lässt sich erst Weltgesellschaft machen, nachdem Dr. Banks auf Mandarin durch die Zeitschleife telefoniert hat). Von diesen Geschichten erhoffe ich mir immer das Außerordentliche, sehe dann aber auch gern ein, dass es immer nur das Innerordentliche wird.

 

Austerlitz (Sergei Loznitsa)

Beobachtungen an einer Gedenkstätte, in der Touristen sich vor einem Tor fotografieren, das Arbeit macht frei verspricht. Das Begehen von Vernichtungsorten wird in diesen schwarzweißen Bildern zu einer Zeitreise in einen Überblendungseffekt, in dem ein Mann mit einem Jurassic Park-T-Shirt den Riss besonders deutlich macht, der durch die Geschichte geht. Austerlitz ist ein Kontemplationsfilm auf vielen Ebenen: die Bilder in ihrer flächigen Tiefe, die Wortfetzen (in denen vor allem die Temperamente von Guides erkennbar werden, die höchst eigene Versionen kundtun), die Freizeitmode einer Generation, die in doppelter Hinsicht (1945 und 1989) durch «Austerlitz» hindurchgehen kann wie durch ein Museum, dessen Anspruch ein Rätsel bleibt, weil es eben ein strukturell nachträglicher ist. Exzellent, wie eigentlich immer bei Loznitsa.

 

Fixeur (Adrian Sitaru)

Den für mich besten Film des Festivals habe ich daheim auf einem Stream nachgeholt. Adrian Sitaru hat damit schon zwei Titel in diesem Jahr, nach Ilegitim, der bei der Berlinale lief. Der «fixeur» ist Radu, ein junger, angehender Journalist, der für ein französisches Fernsehteam als «fixer» arbeitet, also als einer, der zwischen den lokalen Verhältnissen und Menschen und den einfliegenden Reportern vermittelt. Es geht um eine 14 Jahre alte Zwangsprostituierte, die in Paris anschaffen musste und von der dortigen Polizei nach Rumänien überstellt wurde, wo sie von Nonnen behütet und von örtlichen Wichtigen dann doch preisgegeben wird. Drehbuch und Regie sind auf höchstem Niveau selbst für rumänische Verhältnisse: wie sich die Bemühungen um eine Interviewszene mit dem Mädchen hier zu einer großen Metonymie europäischer Verhältnisse entfaltet, das hat im entsprechenden Kino (also im europäischen) kaum seinesgleichen.