locarno 2016

8. August 2016

Locarno 2016

Von Lukas Foerster

Bangkok Nites

© Les Films de l'Étranger

 

Teil III

Die erste Einstellung: Der statuarisch gestreckte Oberkörper einer jungen Frau, gespiegelt in dem Fenster eines Hochhauses, hinter dem sich das Lichtermeer einer Großstadt ausbreitet. Der gleich darauf die ersten Worte des Films gelten: «Bangkok. Shit!» Später im Film fällt dann gleich mehrmals, in diversen Sprachen und sonstigen Variationen, der Satz «Willkommen im Paradies!» Ganz Asien ist ein Paradies für Männer, heißt es einmal, speziell Thailand ein Paradies für Japaner, heißt es ein andermal; und ein sturzbesoffener Franzose wähnt sich dank der glorreichen kolonialistischen Vergangenheit Frankreichs in seinem ganz persönlichen Himmelreich.

Es ist für den Film kein Widerspruch, dass Bangkok und auch sonst fast alles alles gleichzeitig eine riesige Scheiße ist – nicht nur für die Frau vor dem Fenster, nicht nur für die vielen anderen Frauen im Film, die fast allesamt, um sich und die ihren zu ernähren, für Geld mit Männern schlafen müssen, sondern letzten Endes auch für die allermeisten Männer. Die meisten Männer im Film sind Japaner. Ein paar davon können es sich leisten, als Zuhälter oder reiche Freier thailändischer Prostiuierter auf dicke Hose zu machen, die meisten sind arme Schweine, denen es mitunter kaum weniger dreckig geht als den Frauen um sie herum: Drifter, die keinen Bock auf die japanische Leistungsgesellschaft haben, die sich lieber im billigen, warmen Bangkok als Türsteher und Laufburschen verdingen.

Bangkok Nites beginnt als Milieustudie im Rotlichtviertel der thailändischen Metropole, entgrenzt sich aber rasch: hin auf eine gegen Ende der dreistündigen Filmlaufzeit ins geisterhafte driftenden Liebesgeschichte; hin auf ein Familienmelodram, das den Film in seiner schönsten, gelegentlich an das Frühwerk Hou Hsiao-Hsiens erinnernden Phase weg aus der Großstadt und hinein in die längst ebenfalls nicht mehr unschuldige Provinz führt; nicht zuletzt hin auf eine Reihe von nicht immer bis ins Letzte kohärente, aber durchweg panasiatisch perspektivierte politisch-historische Diskurse. (Die gelegentlich, allerdings in eher skeptischer Manier, den Internationalismus des Dritten Kinos aufrufen – tatsächlich dringen an einer Stelle ein paar Einstellungen aus einem Film des bolivianischen Ukamau-Kollektivs in den Bilderfluss ein.)

Auch deshalb ist Bangkok Nites wenn nicht der beste, so mindestens der lebendigste, expansivste neue Film, den ich dieses Jahr in Locarno gesehen habe: Weil fast alle Figuren, die in ihm auftauchen (und das sind wirklich sehr viele), außergewöhnlich artikuliert und mitteilungsfreudig sind, sich gegenseitig und damit auch dem Publikum ihre Sicht ausbreiten: auf Thailand und Japan (und Laos und Vietnam und Kambodscha und Frankreich), auf Freier und Prostituierte, auf die Schrecken der Geschichte Ostasiens, auf die Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer Revolution, kurz und gut: auf Gott und die Welt.

Diese nie missionarischen, eher auf rührende, sympathische Weise hilflosen, dabei aber erstaunlicherweise durchaus (und dasselbe gilt für Katsuya Tomitas nur auf den ersten Blick etwas unförmige Filmsprache) geschliffenen Diskurse drängen sich nie vor die Bilder; eher scheint es darum zu gehen, einen Blick auf die Welt einzuüben, für den Bild und Sprache immer schon zusammengehören. Genauso wichtig ist die exzessive Multilingualität des Films: ständig präsent sind auf der Tonspur Japanisch und Thailändisch, daneben spielen aber mindestens noch Englisch, Französisch, Vietnamesisch und Tagalog wichtige Rollen. Seinen Ausgangspunkt nimmt dieses Sprachwirrwar bei der gleichzeitig ethnischen und geschlechtlichen Polarisierung der Sexindustrie; die freilich bereits den Keim der Hybridisierung enthält: Die thailändischen Prostituierten haben durch ihre Freier mindestens ein paar Worte japanisch gelernt, die japanischen Rumtreiber schnappen auf den Straßen Bangkoks früher oder später ein wenig Thai auf.

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Wenn Bangkok Nites sich nach außen, zur Welt hin entgrenzt, entgrenzt sich Beduino, der mindestens ebenso berückende neue Film des inzwischen 70-jährigen Brasilianers Julio Bressane, einer der großen Erotomanen der Underground-Filmgeschichte, nach innen: Beduino verstrickt sich von der ersten, durch ein tragbares Schlüsselloch gefilmten Einstellung an unrettbar in psychosexuelle Dynamiken.

Der Ausgangspunkt dieser Verstrickung hat möglicherweise ebenfalls etwas mit Sprache zu tun: Begehren verändert sich automatisch, wenn man es zu benennen versucht. Diese Erkenntnis agieren Fernando Eiras und Alessandra Negrini, die beiden Hauptfiguren des Films, in einer Serie von lose miteinander verbundenen set pieces aus. Eine dieser oft unfassbar schönen Szenen – ein Höhepunkt ist sicherlich die Erkundung von Negrinis nacktem Körper per Spielzeugeisenbahn – legt einen halbwegs kohärenten narrativen Rahmen nahe: Weil er in ihr eine alte Liebe wiederzuerkennen glaubt, stellt sie sich ihm für ein Rollenspiel zur Verfügung, in dessen Verlauf Szenen einer vergangenen Beziehung wiederaufgeführt werden.

Freilich gehen längst nicht alle Miniaturen, die Bressane liebevoll (und teils mit einigem Ausstattungsaufwand – besonders hat es ihm B-Movie-tauglicher Kunstnebel angetan) zusammenbastelt, in dieser Anordnung auf. Schon gar nicht sagt diese Rahmung ewas über die Machtverhältnisse aus: Wenn Negrini sich als Eiras’ Sklavin bezeichnet, kippt die behauptete Hierarchie bereits in ihrer genüsslichen Artikulation des portugiesischen Wortes «escrava». Wie der Film überhaupt in jenen Passagen ganz besonders zu sich selbst zu kommt, in denen Sprache autonom wird, einzelne Worte oder lautlich verwandte Wortgruppen aus der bloßen Freude am Sprechakt ausprobiert werden. Begehren verändert sich automatisch, wenn man es zu benennen versucht - das heißt im Umkehrschluss: für den, der ohne Scheu einfach immer weiterspricht, gibt es stets neue Facetten der Lust zu entdecken.

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Teil II

Der traumhafte Weg

© filmgalerie 451

 

Ich bin wahrscheinlich nicht mehr als eine halbe Minute zu spät gekommen zur frühmorgentlichen Vorführung von Angela Schanelecs Der traumhafte Weg; verpasst habe ich lediglich den dialogfreien Anfang einer Szene, in der Theres (Miriam Jakob) und Kenneth (Thorbjörn Björnsson) gemeinsam «The Lion Sleeps Tonight» singen. Und doch kommt es mir so vor, als habe ich den Film danach nicht mehr restlos einholen können. Oder anders  herum: Der Film blieb mir stets ein paar (stets äußerst klug, und zwei-, dreimal erstaunlich rabiat gesetzte) Schnitte voraus.

Das liegt vermutlich nur zum geringeren Teil an der mutig-freien Erzählform, an den unmarkierten Zeit- und Ortswechseln, an der (ebenfalls unmarkierten) Nonchalance, mit der Figuren in den Film hineingestellt und auch wieder entfernt werden. Bis ins letzte Detail hat sich mir der Handlungsbogen zwar tatsächlich nicht erschlossen, inbesondere was politisch-zeithistorische Markierungen betrifft (was für eine Demonstration besuchen Theres und Kenneth in dem im Griechenland der 1980er spielenden ersten Filmabschnitt? Auf einem Transparent steht jedenfalls  irgendetwas mit Europa). Aber in den entscheidenden zwischenmenschlichen Grundzügen setzt sich der Film doch halbwegs eindeutig zusammen: Es geht um zwei Beziehungen, die in die Brüche gehen, eine tut das in den 1980ern, eine andere in der Berliner Gegenwart; und es geht außerdem um die – dann allerdings doch nicht so einfach fassbare – opräsenz beider Beziehungen.

Die erste Beziehung, die von Theres und Kenneth, ist durchdrungen von einer intimen Vertrautheit, die sich eindrücklich in einer der schönsten Einstellungen des Films darstellt: Er legt sich nackt ins Bett, sie setzt sich in Unterwäsche daneben, den Oberkörper wie stets gerade haltend, in intimer Dunkelheit tauschen sie Zukunftspläne aus. Die sich dann allerdings nicht verwirklichen. Vielleicht liegt das auch daran, dass der heroinsüchtige, später obdachlose Brite Kenneth eine Figur ist, die ihren Ursprung weit außerhalb des Schanelec-Kosmos hat (und tatsächlich schaut Björnsson aus, wie als sei er geradewegs aus einem Dardenne-Film entsprungen). Eine erstaunliche, rührende Sequenz folgt ihm nach London, hinein in die niederschmetterndste der drei Familiengeschichten, die der Film eher andeutet als entfaltet. Nach einem von samtig-grünem Moos abgefederten Zeitsprung steht plötzlich ein anderes Paar im Bild: Ariane (Maren Eggert) und David (Phil Hayes), sie Schauspielerin (Fernsehkommissarin vermutlich), er Anthropologe. Eine emotionale Substanz erhält ihre Beziehung nie, selbst als sie ihm mitteilt, dass sie sich trennen will, treffen sich die Blickachsen nicht. Danach geht es erst einmal darum, den Inhalt des Bücherregals aufzuteilen. (Da ist der Film doch wieder im Zentrum des Schanelec-Kosmos angelangt).

Neben, hinter und vielleicht auch irgendwo, irgendwie im Innern dieser zweiten, von Anfang an erkalteten, mehr verwalteten als gelebten Beziehung setzt sich die erste, ursprünglichere fort: Sowohl Theres als auch Kenneth sind inzwischen, unabhängig voneinander, nach Berlin gezogen. Nur in kurzen, seitenblickartigen Sequenzen widmet sich der Film den beiden «übriggebliebenen» Figuren, die in ihren Bewegungen durch die Stadt ein damaturgisch maximal heruntergedimmtes Melodram ausagieren, das durch ein Aussattungsdetail ins Geisterhafte verschoben wird: beide sind zwar halbwegs realistisch auf älter geschminkt, tragen aber dieselben Kleider wie 30 Jahre vorher.

Das alles ist faszinierend genug. Jedoch: Was an dem Film wirklich eindrücklich ist, bekommt man mit einem möglichst exakten Nachvollzug der durchaus komplexen Erzählmanöver gerade nicht zu fassen. Schon deshalb nicht, weil der Film gerade in seiner Ökonomieverweigerung toll ist, darin, wie er Handlungsmacht und Bildraum nicht hierarchisch ordnet, sondern sich von der sinnlichen Evidenz einzelner Momente leiten lässt.

Nicht nur behalten die nominellen Protagonisten jede Menge Geheimnisse; vor allem schenkt der Film einige seiner schönsten Bilder Figuren, die nur ein-, zweimal auftauchen. Zum Beispiel schenkt er einer Immobilienmaklerin eine Einstellungsfolge, die sie ins entseelte Dunkel einer Neubauwohnung entschwinden und wieder aus ihm auftauchen lässt. (Nicht nur in dieser Sequenz besticht die Vorschneider-Kamera durch poetische Reduktionen, die den Film visuell deutlich von älteren Schanelec-Filmen, insbesondere von Orly, abheben. Wobei der Film gleichzeitig auf den ersten Blick als eine Schanelec-Vorschneider-Arbeit erkennbar bleibt – nicht zuletzt gibt es gleich eine ganze Reihe wunderbarer Travellings.)

Außerdem und vielleicht vor allem ist Der traumhafte Weg ein ungemein taktiler Film. Wie sich Körper zueinander und auch zu sich selbst verhalten, ist allemal wichtiger als der ganze Beziehungskram. Insbesondere geht es immer wieder um geschundene Körper, das beginnt bei verletzten Arme oder lädierten Knien und endet am Sterbebett; und es geht um Mittel und Wege der Linderung von Schmerz. Mal legt sich eine Hand tröstend auf die andere, mal muss zur ultimativen Schmerzlinderung Morphium beschafft werden; und einmal leckt ein Mächen einem Jungen über dessen vernarbte Wunde.

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Ein Saal weiter, im nächsten Film: noch viel mehr lädierte Körper, und kein bisschen Linderung. In Tetsuya Marikos Destruction Babies prügelt sich Taira (Yuya Yagira, der 2004 als Hauptdarsteller von Kore-Edas Nobody Knows noch so klein, friedlich und herzensgut war), völlig enthemmt und psychopathisch grinsend durch die Straßen Tokyos. Seine Motivation ist rein sportlicher Natur, seine Opfer sind Passanten, mit Vorliebe solche, die er für begabte, kräftige Gegenspieler hält. Er dagegen wirkt äußerlich nicht besonders imposant, aber er läßt einfach nicht locker, klammert sich manchmal regelrecht in seine Kontrahenten, und wenn er – as andauernd passiert – harte Treffer einsteckt, rappelt er sich stets wieder auf, und holt sofort zum nächsten Schlag aus.

Die erste Hälfte des Films besteht aus kaum mehr als aus oft ellenlangen Einstellungen, die Taira auf seinem auf etwas stumpfe Art durchaus aufregenden Pfad der blutigen Sinnlosigkeit folgen. Den Höhepunkt dieses Abschnitts bildet eine rapide eskalierende Prügelorgie in einem Einkaufszentrum, deren entgrenzende Dynamik des Schreckens unweigerlich an das Bildmaterial der Terror- und Amokpaniken der letzten Wochen denken lässt. Da hat sich seinem Feldzug längst ein zweiter Psychopath angeschlossen, durch den die Sache erst so richtig finster wird. Denn der, ein zunächst hochgradig selbstunsicherer Schüler, möchte sich nicht im Kampf mit (mehr oder weniger) Gleichgesinnten beweisen, sondern vor allen Dingen seinen Hass auf Frauen ausleben.

Die zweite Hälfte des Films erkundet andere, noch einmal deutlich unangenehmere Modi von Gewalt. Das alles wirkt nicht immer allzu durchdacht, man kann dem Film allerdings zugute halten, dass er sich weder seinen Figuren, noch seinem Publikum gegenüber zynisch verhält. Ein Trip durch eine besonders dunkle japanische Nacht, mit offenem Visier.

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Teil I

La prunelle de mes yeux

© Les Films Pelléas

 

Die beiden männlichen Hauptfiguren sind Brüder: zwei griechischstämmige Franzosen, die zwar kein Wort griechisch können und deshalb im Lauf des Films von native speakers gleich mehrmals ein stets genüsslich artikuliertes «Malaka» zu hören bekommen; die es sich aber gleichwohl in den Kopf gesetzt haben, ein griechisches Folk-Music-Genre namens Rebetiko in Frankreich zu popularisieren – als Zusatzproblem erweist sich dabei, dass der fanatischere der beiden Musiker fast schon grotesk unmusikalisch ist. Die beiden weiblichen Hauptfiguren sind Schwestern; zwei junge Frauen mit unterschiedlich gelagerten medizinischen Problemen: die eine ist blind, die andere kokainsüchtig – letzteres stört freilich weder sie selbst, noch ihre Schwester sonderlich. Tatsächlich hat die Drogensucht im Film keine Existenz jenseits der Therapiesitzungen, bei denen nicht die Patientin, sondern die Therapeutin stets komplett aus dem Häuschen ist.

Die beiden Geschwisterpaare wohnen im selben Mietshaus. Das hauptsächliche Medium ihrer Begegnung, ihrer anfänglichen Animositäten und allmählichen romantischen Verstrickungen, ist ein Aufzug. Hier übersieht Theo (Bastien Bouillon) in einem Moment der fahrigen Unaufmerksamkeit Elises (Mélanie Bernier) Blindheit; und hier kommt er ein paar Szenen später auf die – wie sich bald gegen alle Wahrscheinlichkeit herausstellt – brilliante Idee, ihr vorzuspielen, er sei ebenfalls plötzlich erblindet.

Eine fahrlässige Dummheit wird mit einer kreativen Dummheit überspielt – und daraus entsteht Liebe. Das ist die Prämisse des Films. Die beiden anderen Hälften der Geschwisterpaare beginnen zwar irgendwann auch etwas miteinander, aber es ist mit diesen Geschwistern wie mit der Drogensucht: In den Szenen, in denen sie abwesend sind, scheint der Film ihre Existenz komplett zu vergessen. Wie alles andere im Film sind sie nur eine Spiegelung der, oder vielleicht eher ein Anbau an die zentrale Romanze. Wobei der besondere Reiz der gleichzeitig kerzengeradlinigen und herrlich verqueren Romkom, die Axelle Roperts dritter Langfilm ist, eben darin besteht, dass die Anbauten keineswegs Nebensache sind. Tatsächlich könnte man sagen: Sie sind die eigentliche Hauptsache, ohne die Anbauten hätte die Liebe von Theo und Elise keinerlei Substanz.

Zu den Anbauten zählen noch weitere Figuren (und Räume), die mal eng, mal lose um das zentrale Viereck (und um den Aufzug) herum konstelliert sind. Der Therapeutin als Bezugsperson für die Schwestern entspricht ein gleichfalls übereifriger Berufsberater, der die Rebetiko-Brüder unter seine Fittiche genommen hat. Aber es gibt auch eine Szene, in der einfach mal ein Kiffer am Nebentisch mit eingebaut wird. Und gerade wenn man denkt, man habe die Reichweite der Architektur, das Verhältnis von statischen zu dynamischen Momenten vor allem, durchschaut, taucht Serge Bozon mit einer E-Gitarre auf und wirbelt alles noch einmal komplett durcheinander.

Architektur ist nur ein mögliches Metaphernfeld, um La prunelle de mes yeux zu beschreiben. Ein anderes wäre Musik. Schon die ersten beiden Filme Roperts hatten ausgesucht exquisite Sountracks. Im neuen wird Musik und Musikproduktion nun zum ersten Mal thematisch. Genauer: Einerseits produziert die Musik andauernd textuellen Überschuss, andererseits musikalisiert sich der filmische Text. Nicht nur wird über den Film hinweg der Rebetiko fortlaufend in seine auditiven Grundbestandteile zerlegt und (nicht immer ganz harmonisch) wieder zusammengefügt, auch ein von Elise mit monomanischer Obsession bespieltes Klavier (ihre Lieblingsmelodie: «Für Elise») treibt sein Unwesen. Und alle Wände, die im Film auftauchen, sind schon aus Prinzip hellhörig.

La prunelle de mes yeux schließt in vieler Hinsicht an den Vorgänger Tirez la langue, mademoiselle an, der ebenfalls ein Brüderpaar als Ausgangspunkt nahm. Indem Ropert diesem Paar diesmal nicht eine Frau, sondern ein symmetrisches Schwesternpaar gegenüberstellt, verschiebt sie die Anordnung vom sanft melodramatischen ins verspielt komische Register.

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Ein Motiv der ersten Festivaltage: Großaufnahmen von laufenden Beinen.

In der dem deutschen Kino der 1950er-Jahre gewidmeten Retrospektive sind sie mir schon mehrmals begegnet. Zum Beispiel in Banktresor 713, einem ziemlich großartigen Heist-Film mit vielen Berliner Originalschauplätzen, mit einer mehrmals entrückt in die Ferne blickenden Nadja Tiller, mit einem fahrig nervösen Hardy Krüger; und auch mit einem Drehbuch von Herbert Reinecker. Von dessen restaurativer Moral emanzipiert sich der Film in einer Einstellung, die zeigt, wie Martin Helds Beine das Innere der Bank abschreiten, die Held und Krüger gemeinsam auszurauben gedenken. Der Rest des Films ist nüchterne Genremechanik, die mit einem Schrei endet, der in einer erfolgreich durchfunktionalisierten Metropole widerhallt.

Weg ohne Umkehr von Victor Vicas tarnt sich als ein recht generischer Kalter-Kriegs-Thriller, der allerdings von Anfang an enorm von der eleganten Körperlichkeit seines hochgewachsenen Hauptdarstellers Ivan Desny profitiert. Das atmosphärische, fast schon gespenstisch gedämpfte Melodram, als das sich der Film schließlich entpuppt, kommt in einer Einstellung kurz vor Schluss zu sich selbst: Desny verlässt ein Zimmer im endlich erreichten Westteil Berlins, seine von Ruth Niehaus gespielte Geliebte schaut ihm hinterher, ihr Blick bleibt an seinen Beinen hängen. Wiedersehen wird sie ihn nicht mehr, auch Weg ohne Umkehr endet mit einem endkörperlichten Schrei der Hilflosigkeit, der in diesem Fall einer finalen Passage in Richtung Brandenburger Tor unterlegt ist.

Und auch bei Ropert taucht eine wunderbare Beineinstellung auf: Auf einem ihrer gemeinsamen, dank echter und gespielter Blindheit meist nicht allzu geradlinig verlaufenden Wegen finden sich Theo und Elise plötzlich auf von unten erleuchteten Glaskacheln wieder. Und kaum haben sie die glamouröse Oberfläche betreten, beginnen Elises Beine zu tanzen. Ein wenig wie in Pulps Disco 2000-Videoclip, aber dann doch ganz anders: nicht kontrolliert hin und her wippend, sondern fast schon enthemmt zuckend, außerdem so erratisch trippelnd, dass man fast schon daran zweifelt, dass oben an den Beinen eine ganze Frau befestigt ist.