venedig 2009

17. September 2009

Weniger Krieg! Eine Nachlese des Filmfestivals Venedig 2009

Von Michaela Ott

Mit jedem Jahr schließt sich das Filmfest von Venedig mehr von der Öffentlichkeit ab. Waren es im letzten Jahr die regelmäßigen Taschenkontrollen, die den Zugang zu den Filmzelten verzögert haben, so ist der Komplex der Festivalkinos am Lido in diesem Jahr zu einer Sicherheitshochburg zusammengefasst worden, die von allen Seiten von Polizei und Security umstanden wird. Einzig zur Meerseite hin bietet sich noch eine offene Flanke, von wo aus kecke Personen ohne Akkreditierung sich einen Zugang zum Hotel Excelsior und seinen illustren Festivalgästen erschleichen können. Dabei hat gerade die Offenheit des Festivals und seiner schönen Lage, die Möglichkeit des gleitenden Hin und Her zwischen Filmpalast und Strand, zwischen Pressekonferenz und Trattoria mit Seeblick den Aufenthalt über lange Jahre so angenehm gemacht. Jetzt dagegen riegelt sich das «movie center» mit seinem Aufgebot an Uniformierten mit Schlagstöcken – begründet durch den Protest von Globalisierungsgegnern vor dem Hotel Des Bains – von der Außenwelt und dem eigenen Festcharakter ab. Für den nicht akkreditierten Kinobesucher kostet eine Abendkarte zwischen 28 und 40 Euro – auch keine einladende Geste an das venezianische Publikum, das gleichwohl mit seinen eleganten Abendgarderoben dem beschworenen Schaulaufen auf dem roten Teppich den entsprechenden Rahmen bieten will.

Der Sicherheitswahn findet, wen überrascht’s, in den Filmen seine Verlängerung. So viel Militär und korporatistischer Männerbund wie in den diesjährigen Wettbewerbsfilmen war nie. Bis hin zum diesjährigen Preisträger, dem israelischen Spielfilm Lebanon von Samuel Maoz, findet sich Kriegsgeschehen und selbstverständlich rein männliche Perspektivik in einem Gros des Filmangebots. Allerdings mit der Besonderheit: Sie kommen hautnah, körpereng, klaustrophobisch und unüberbietbar auswegslos daher. Ein ganzer Film aus der Sicht eines Panzerkommandanten und dessen eingeschränkter Sicht, aus welcher im Libanonkrieg der 80er Jahre orientierungslos agiert und geschossen wird. Blood, sweat and tears, auch Angst, zum Riechen nah. Seltsamerweise muss eine nackte Libanesin, deren Kind soeben umgebracht wurde, minutenlang vor dem Scheinwerferlicht des Panzers tänzeln. Im Panzerinneren wird auch gestorben. Wie der Film den Krieg und seine Traumatisierung zu kritisieren scheint, so ist auch das Umgekehrte wahr. Jeder Antikriegsfilm ist vom Krieg affiziert.

Das gilt auch für Claire Denis’ Beitrag White Material, der einen nicht kontextualisierten Bürgerkrieg in Afrika mit dem Willen einer weißen Plantagenbesitzerin, nicht wegzugehen, sondern weiterhin und umso verbissener das Land zu bestellen, zusammen führt. Der Krieg gibt hier die Folie für eine Art Essentialisierung des Elementaren, von Boden, Verwurzelung, Beharrlichkeit und Leugnung des Realen ab. Der Wahnsinn der weißen Protagonistin (Isabelle Huppert): Sie will nicht einsehen, dass sich ihr Einsatz nicht lohnt, dass sie darüber nicht nur ihren Mann verliert, sondern auch ihren Sohn in die Irre treibt. Sie hätten auf die Epoche vor der Anti-Apartheid zurückgehen wollen, in freier Anlehnung an die Romane von Doris Lessing und entlang des Skripts von Marie N’Diaye, geben Denis und Huppert zu Protokoll. De facto gehen sie zurück in raum- und zeitlose Unbestimmtheit: Wie in zahlreichen anderen Filmen dieses Festivals wird der Krieg als ubiquitär und unbeendbar präsentiert, weshalb er den quasi-mythischen Hintergrund für Überlebenskämpfe abgeben kann, die sich geläufiger westlicher Rationalität entziehen.

Das gilt auch für den aus Singapur stammenden Wettbewerbsbeitrag Ahasin Wetei (Between two worlds) von Vimukthi Jayasundara, für Werner Herzogs Bad Lieutnant: Port of Call New Orleans, für The Road von John Hillcoat, ein postapokalyptisches Szenario nach Cormac McCarthys gleichnamigem Roman, und für Todd Solondz' Life during Wartime, die düstere Schilderung einer zeitgenössischen Kollektivpsychose. Zwar eröffnet Ahasin Wetei mit einer Totalen auf eine großstädtische Szenerie: Elektrogeschäfte werden von Jugendlichen geplündert, die Straßen sind binnen kurzem mit Fernsehern und Computergeräten übersät. In der Folge aber mündet dieses rebellische, nicht weiter erklärte Geschehen in einen mystisch angehauchten Buschkrieg, in zeitliche Verwirrspiele und undurchsichtige Gewaltentladungen. Personen, die erschlagen werden, leben wieder auf, Bäume beginnen vereinzelt zu brennen, Animistisches unterhöhlt die realistischen Einstellungen und lässt den Film «Zwischen zwei Welten» als Hybrid aus westlicher und nicht-westlicher Darstellungslogik erkennbar werden. Auch hier erscheint die Gewalt diffus, elementar, wuchernd wie das allzu viele Grün.

Im Vergleich dazu wird sogar Werner Herzogs Bad Lieutnant hollywoodmäßig kausallogisch im Stil eines Noir-Thrillers erzählt; als deviante Interpunktionen bietet er nur gelegentlich im Bild liegende, diegetisch kaum begründbare Riesenechsen auf. Und John Cage darf sich als in Drogendeal und Korruption verstrickter Cop schauspielerisch an Kinski messen; aufgrund der durchgängig anthropomorph-verfilzten Szenerie kommt allerdings keine Ahnung von Naturmythisch-Unfassbarem mehr auf.

Den Vogel in diesem Kriegsspielreigen schießt der US-Spielfilm außer Konkurrenz, The Men Who Stare at Goats, von Grant Heslov ab: Der Irakkrieg wird zum Schauplatz für Jediritter-Spiele und andere männlich-magische Bewährungsproben. Er ist auch Hintergrund für schauspielerische Überbietungskämpfe zwischen George Clooney, Kevin Spacey und anderen Starschauspielern der hollywoodesken Art. Das andere Extrem dieser mythischen Kriegszone bietet George Romeros Survival of the Dead, dem es gelingt, bereits in den ersten 15 Minuten mehrere Schlachtszenarien zu absolvieren. Die Atmosphäre dieses Zombie-Movies schließt im übrigen bruchlos an jene der anderen Kriegsspielfilme an, so dass kein deutlicher Unterschied mehr auszumachen ist zwischen Horrorfilm, Kriegspersiflage und kritischer Realitätsdiagnose: Die obsessive Darstellung mythischer Überlebenskämpfe untergräbt die ästhetische Differentialität des Films.

Natürlich gibt es auch den Versuch kritischer Stellungnahmen, verstärkt aus weiblicher Perspektive, die sich in ihren surrealistischen Überzeichnungen und ihrem künstlerischen Stilwillen dann doch den mythisierenden Darstellungen verwandt erweisen: Shirin Neshats Zanan bedoone mardan (Women without Men) evoziert das Leiden von vier Frauen in der iranischen Gesellschaft der 50er Jahre und führt vor dem Hintergrund der Wahl Mossadeghs und des US-Putsches deren Verzweiflungstaten und Fluchtversuche in Traumwelten vor. Frauen liegen wie Undinen in Seen, stürzen von Mauern, sterben und stehen wieder auf. Eine untergründige Frauensolidarität klingt an, die sich freilich in albernen Heilewelt-Alternativen gefällt – und den Silbernen Löwen für diesen Film dem politischen und Gender-Proporz geschuldet erscheinen lässt.

Noch kitschiger fällt die Revolte von Pipilotti Rists Pepperminta gegen die bös-berechnende Rationalität der modernen Welt aus. In daueraufsässiger, esoterisch angehauchter Pippi-Manier heilt die Protagonistin, von Omas Einflüsterungen ferngesteuert, kranke Männer mit Blumenblättern und die Welt mit knallbunter Filmfarbigkeit. Die Kamera hilft bei der kindischen Karikierungsarbeit mit fischäugigen Verzerrungen, der Ton mit sprachverzerrenden Grunzgeräuschen.

Und als letzte, allerdings anrührende, heiter-kritische Revolte: Michael Moores Capitalism: A Love Story. Ausgehend von den aktuellen Vertreibungen von US-Bürgern aus ihren hypothekenbelasteten Häusern stellt er in dokumentarischer Manier weitere Aspekte kapitalistischen Raubbaus aus: Die Internierung von Jugendlichen für geringfügige Vergehen in Erziehungsanstalten, da es zwischen diesen und lokalen Richtern finanzielle Absprachen gibt; die Ausschüttung von Lebensversicherungen an Unternehmen beim Tod eines Mitarbeiters; die Unterbezahlung von Piloten im Wettbewerb der Fluggesellschaften und anderes mehr. Und er setzt Akte der Zivilcourage und ökonomischen Selbsthilfe dagegen: die Übernahme von Unternehmen durch die eigenen Angestellten, aber auch seinen eigenen naiv-spontanen Protest, seine direkten Nachfragen bei Banken, seine improvisierten Aktionen in der Wall Street, vor allem aber sein filmisches Agitprop-Handeln.

Dazwischen finden sich, zumeist in der Orizzonti-Sektion, aber auch in der Retrospektive zum italienischen Nachkriegskino, dann doch Filme, die sich ästhetische Fragen angelegen sein lassen und in minimalistischen Einstellungen soziale Probleme dramatisieren. Der chinesische Beitrag Touxi (Judge) von Lin Jie etwa verbindet Fragen von Autodiebstahl, Todesstrafe, Organspende, Verzweiflung und Begnadigung in unspektakulären und wohl komponierten Einstellungen und leisen Tönen zu einem fein austarierten Trauerspiel: ein differentielles Porträt des sozialen Wandels im zeitgenössischen China eröffnet sich in dieser minoritären Form. In ihr klingt noch am stärksten jene cinephile Bedächtigkeit an, wie sie zum vielleicht letzten Mal Jacques Rivettes Spätfilm 36 vues du Pic Saint Loup zur Ansicht bringt, der in Gestalt eines sterbenden Zirkus erneut eine wehmütige Parabel auf den Niedergang des Cinéma d’auteur bietet.

Auch andere Orizzonti-Filme fokussieren auf soziale Probleme, wie etwa Tehroun von Takmil Homayoun Nader, der vom ambivalent gesehenen Existenzkampf der Ärmsten im Moloch Teheran erzählt: Die sich mit Betteln und Babyhandel, mit Prostitution und Diebstahl über Wasser Haltenden wissen von den hehren islamischen Geboten wenig, werden denn auch beiläufig und wenig formschön umgebracht. Hana Makmalbafs Dokumention Green Days aus der Zeit des iranischen Wahlkampfs erweist sich dagegen in seiner Hoffnung auf politische Veränderung bereits als veraltet, auch wenn sie formal, dank der in den inszenierten Plot eingefügten Handy-Aufnahmen, innovative Lebendigkeit ausstrahlt.

Der ägyptische Orizzonti-Beitrag, Wahed-Sefr (One-Zero) der jungen Regisseurin Kamla Abu Zekry überzeugt durch ein lebhaftes und differenziertes Porträt der laizistischen und moderner Hektik ausgelieferten ägyptischen Gesellschaft, das trotz harter und schneller Schnitte und eines kontrastbetonenden Wechsels der Schauplätze unterschiedliche Arten des Leidens in den verschiedenen Gesellschaftsschichten des zeitgenössischen Kairo miteinander verknüpft.

Ebenso wartet der deutsche Wettbewerbsbeitrag von Fatih Akin, Soul Kitchen, der den Spezialpreis der Jury erhielt, mit einer dramaturgisch kurvenreichen Schilderung sozialer Probleme, des Aufstiegs und Falls von Migrantennachkommen im heutigen Deutschland auf. So sehr das gut gelaunte Spiel der Truppe, die vorgeführte Durchhaltephilosophie und die flotte, pointensichere Erzählweise für sich einnehmen: Wo Rivette der Bezug zur äußeren Wirklichkeit fehlt, da fehlt Akin die Ruhe zur längeren Ausleuchtung einzelner Szenen und zu bedächtigeren Tönen. Sollte Opas Kino mit zeitgenössisch-impulsiver Sozialdiagnose gemischt werden, um endlich einen preiswürdigen Film zu produzieren?