iffr 2022

27. März 2022

IFFR 2022 Neun Filme

Von Bert Rebhandl

Das IFFR fand dieses Jahr von 22. Januar bis 6. Februar statt. Ich war nicht vor Ort, habe stattdessen auf Festivalscope geschaut, und zwar noch bis in den März hinein. Zu neun Filmen habe ich etwas notiert

 

Freda Gessica Généus Haiti 2021

Freda («wie die Voodoo-Gottheit») ist die jüngste Tochter von Mommy Jeanette, einer Frau, die in einem Getto in Port-au-Prince einen kleinen Laden hat. Alle Konzentration gilt dem älteren Sohn Moise (Moses), der das Land verlassen soll, zum Beispiel nach Chile, um es irgendwo besser zu haben. Die Schwester Esther bleicht ihre Haut mit Cremes und lernt einen jungen, reichen Senator kennen, der sie sogar heiratet. Freda aber studiert Anthropologie, ist in politische Bewegungen (gegen Korruption) eingebunden, steht dem Voodoo näher als den christlichen Religionen. Ihr Freund Jeshua macht Kunst, und möchte sie dazu bewegen, ihm nach Santo Domingo zu folgen, auf die andere Seite der Insel, in die Dominikanische Republik. Von einer stray bullet, die in sein Zimmer einschlug, hat er eine Wunde am Bauch davon getragen. Gessica Généus arrangiert die Frauenschicksale repräsentativ entlang der Optionen, die in einer Gesellschaft bestehen, in der Privilegien (zumeist männliche) der einzige Ausweg sind: Esther schläft sich hoch, bis sie brutal in ihre Grenzen gewiesen wird. Freda bewahrt ihre Integrität, hat allerding schon einen Missbrauch hinter sich. Reflexionen über die Revolution («refaire 1804») und über das autochthone Symbolsystem (Voodoo/Creole/indigene Kunst) sind im Hintergrund präsent.

 

Eami Paz Encina Paraguay 2022

Der vielleicht bisher konsequenteste Versuch, mit den Mitteln des heutigen, digitalen Kinos die Seite zu wechseln und einen konsequenten indigenen Mythos zu – jetzt muss man aufpassen mit dem Verb: simulieren? rekonstruieren? übersetzen? reanimieren? Alle diese Aspekte spielen eine Rolle. Gesprochen wird aus der Perspektive eines Volkes, der Ayoreo, beheimatet im nördlichen Paraguay in einem bedrohten Urwald. Eami, die Figur, die wir in dieser Umgebung sehen, umgeben auch von Stimmen, von denen suggeriert wird, sie kämen mit dem Wind, dem ersten Schöpfungsmoment, ist zuleich Repräsentantin des konkreten Volks wie von dessen Kosmologie, sie ist also auch ein göttliches Wesen, göttlich meint dabei aber etwas ganz anderes, als Gottesvorstellungen aus der „abendländischen“ Metaphysik nahelegen. Die Kolonial- oder Missionsmacht wird in Eami durch eine Mennoniten-Station vertreten. Paz Encina hält konsequent in der Schwebe, was stärker ist: das indigene Vermögen, zumindest in Gedanken (und filmisch) zu fliegen, oder die Eindringlinge, tödlich auch durch eine Viruserkrankung, die Grippe. Ein unvermitteltes Videobild, datiert auf den 17. 11. 94, verweist auf einen konkreten Sitz im Leben dieses ansonsten durchaus opaken Projekts.

 

The African Desperate Martine Syms USA 2022

That’s it? Ein latent peinliches (satirisches?) Gespräch mit vier Lehrenden, die zu der Künstlerin Palace ins Studio kommen, verschafft ihr eine Qualifikation: sie ist nun MFA (Master of Fine Arts), sie hat ein Art College in Upstate New York bestanden. Der Film erzählt davon, wie Palace das (nicht) feiert, sie will eigentlich nach Hause nach Chicago, lässt sich aber noch einen Tag und eine Nacht lang treiben, landet auf Parties, auf die sie eigentlich nicht wollte, nimmt Drogen aller Art, darunter auch Ketamin, und ist schließlich für eine Weile wasted, passed out, sogar der Satz I died last night fällt einmal. Martine Syms ist selbst eine sehr erfolgreiche Schwarze Künstlerin. So ganz klar wird nicht, was sie mit The African Desperate im Sinn hat, außer einer Parade unterschiedlich queerer Art School-Figuren, die mit Texten und individuellen Inszenierungsdetails ihre Hipness und ihren politischen Ernst (?) erweisen wollen. Dazu eine handverlesene Musikliste (Lafawndah, Ten City, Jai Paul, Zutzut, ...). Von Palace wird eine Distanz zu dieser Welt suggeriert, die sie dann eine Weile lang preisgibt, bevor sie sich schließlich doch auf den Weg zurück in die Wirklichkeit (?) macht.

 

The Lady from Constantinople (1971) von Judit Elek

© IFFR

 

The Lady from Constantinople Judit Elek Ungarn 1971

Konnte man im Kommunismus einsam sein? Die ältere Dame, die Judit Elek als Lady from Constantinople vorstellt, ist jedenfalls allein. Sie besucht zu Beginn einen Dia-Vortrag über Konstantinopel und nervt den Referenten mit pedantischen Fragen, allerdings ist ihr Spezialwissen begründet: «ich war dort mit Papa im Jahr 1928». Dieser Vater, ein Kapitän bei der Marine, ist der große Abwesende in ihrer Wohnung, die noch ganz mit Dingen voll ist, die eigentlich nicht in den Gulaschkommunismus von Ende der 60er Jahre passen, sondern in eine Zeit, in der Menschen zu Kalahari Inseln fuhren. Die Wohnung ist auch zu groß für eine Frau allein, sie besucht deswegen andere Parteien im Haus und spricht über einen Tausch, der aber nicht zustande kommt. Als ein Nachbar stirbt, gibt es eine Begräbnisfeierlichkeit – auf dem Dach! Auf dem Marxplatz gibt es eine Wohnungsbörse, auf der sich die Dame ebenfalls umsieht, mit der Ergebnis, dass sie bald die ganze Wohnung voll hat. Eine Riesenparty ist im Gang, die Gäste nehmen von der Gastgeberin nur am Rande Notiz, eine herrliche Szene mit vielen schrägen Figuren. Schließlich zieht die Dame aus Konstantinopel tatsächlich um, in eine schöne Wohnung mit großer Terrasse im Grünen. Nun ist sie wirklich allein. Manyi Kiss ist fantastisch in der Hauptrolle, die Schwarzweißfotografie meisterlich, Judit Elek erzählt von einem exzentrischen Individuum in einer keineswegs konsequent kollektivierten Gesellschaft mit Wurzeln in älteren Zeitaltern und Zeitregimen. Meisterwerk.

 

Infinity According to Florian Oleksiy Radinsky Ukraine 2022

Florian Yuryev, gestorben im September 2021, war ein Architekt und Künstler und eine Art Universalgenie. Berühmt wurde er mit der Planung des Instituts für Information, im Volksmund genannt die «Fliegende Untertasse», ein Gebäude in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv, heute ein Klassiker der sozialistischen Moderne. Das Porträt dieses vielfach interessierten Mannes (Geigenbau, Musik der Farben, Malerei etc.) gewinnt an Brisanz, weil der schon todkranke Avantgardist es mit einer sehr typischen Bedrohung seines wichtigsten Werks zu tun bekommt. Der Investor Vagif Aliyev will die benachbarte Ocean Plaza Mall erweitern, und würde das Institut für Information dafür gern zu einem Eingangsbereich umbauen. Es kommt zu komischen Begegnungen dieser beiden höchst ungleichen Menschen (der Investor hatte sein Berufungserlebnis, als er 1998 einmal vier Stunden mit Donald Trump verbringen konnte), es kommt zu Sitzungen in den einschlägigen Behörden, die kein Verständnis für Baukunst aus der Sowjetzeit haben (damals wurde Yuryev übrigens mit dem Vorwurf der abstrakten Kunst konfrontiert). Die ganze Sache hat etwas Quixotisches, das Gebäude wurde aber gerettet, und Yuryev überlebte die Prognosen seiner Ärzte um beträchtliche Zeit.

 

Excess Will Save Us Morgane Dziurla-Petit Schweden 2022

Eine Familiengeschichte aus Nordfrankreich, aus einer Gegend unweit der Grenze zu Belgien, im weiteren Sinn wohl auch der Heimat der Sch’tis, der französischen Ostfriesen. Die Filmemacherin dreht einen Dokumentarfilm über ihre Cousine Faustine, von der wir im Abspann allerdings erfahren, dass sie eine geschriebene Figur ist, ein Stand-in für die Regisseurin, die aber auch selbst ab und zu im Bild ist. Real aber in dem Sinn einer hybriden Erzählung sind die Mitglieder der Familie Petit: Patrick, der sich in Marie-Christine verliebt und ihr einen Antrag macht, die Hochzeit ist dann einer der Höhepunkte des Films. Sein alter Vater, und sein alkoholkranker Bruder Bernard, dazu weitere Leute aus der kleinen Kommune. Eine Feuerkatastrophe und ein Todesfall spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: gestorben ist Eve, die Frau von Bernard, die näheren Umstände klären sich im Lauf der Erzählung (vielleicht). Macrons Formulierung, dass Frankreich «im Krieg» gegen islamistische Terroristen ist, fällt in Villereau auf fruchtbaren Boden, auch wenn man hier noch nie in Gefahr war. Morgane Dziurla-Petit beschreibt einen drole de guerre, an dem aber nichts wirklich lustig ist. Unbehagen ist die Grundstimmung beim Schauen dieses merkwürdigen Films, der auch seine eigene Vorstufe in einem Kurzfilm in seine Erzählung aufnimmt. Patrick lässt sich beim Festival in Clermont-Ferrand dafür feiern. Am Ende wird alles dementiert, jedenfalls in Frage gestellt: das Wahrlügen aller Fiktionen fällt hier eventuell doch auf den unfruchtbaren Boden einer Provinzposse, die sich an ihren Ambivalenzeffekten weidet?

 

Achrome Maria Ignatenko Russland 2021

Ein junger Balte namens Maris meldet sich während des Zweiten Weltkriegs zum Dienst mit der deutschen Wehrmacht. Es ist die Zeit, in der Juden einfach erschossen und in Gräber geworfen werden, die sie selbst ausheben mussten. Die Frage «schon geschossen?» ist auch die einzige, die er beantworten muss, um aufgenommen zu werden, er beantwortet sie mit nein. Die Erzählung bleibt auf das Allernotwendigste beschränkt. Wir dürfen auf einen moralischen Konflikt bei Maris schließen, er läuft schweigend und wie traumwandlerisch durch die Tableaus, um die es Maria Ignatenko vor allem geht. Man wird nicht leicht einen Film finden, der konsequenter auf Ästhetik setzt im Verhältnis zu einer halbwegs geläufigen Narration. Tarkowski, Sokurov, Tarr, Nemes, die großen osteuropäischen Künstler oder Kunstambitionierten, an die man denken könnte, werden von Ignatenko einerseits gewürdigt, andererseits wirkt ihr Film, als wolle sie alle verschwommenen, vernebelten, verregneten, freskenhaften Visionen noch überbieten. Ein Kloster mit einem weitläufigen unterirdischen Gewölbe ist einer der wichtigsten Schauplätze. Das Halbdunkel ist ästhetisches Prinzip, zugleich ist Weiß eine Leitfarbe. Aus Gründen, die ich nicht verstanden habe, trägt Maris meistens eine Art Unterwäsche, eine weiße Kluft, auch beim Kirchgang. Einige Szenen sind wohl als Träume zu werten, anders wären die Sprünge in der Erzählung gänzlich erratisch. Einmal gibt es auch so etwas wie eine Explikation, ein innerer Monolog: Ich sah das Gesicht des Krieges, es war hässlich und grotesk, ich weiß nicht, erlebe ich einen Traum oder nicht? Der Krieg hat mich entmenschlicht (ich übersetze die englischen Untertitel). Das Schlussbild ruft geradezu nach einer Deutung: Menschen, darunter Frauen in weißer Unterkleidung, werden zur Ermordung getrieben, mit den Frauenleichen in einem Graben spielen die Deutschen ein übles Spiel, sie posieren mit ihnen in höhnischen Gelageszenen für eine Kamera, hinter der man sich einen deutschen Kameraden denken muss, die aber die von Ignatenkos Mitarbeiter Antom Gromov ist. Im Grunde machte diese Szene nur dann Sinn, wenn sie auf ein historisches Fotodokument gründen würde, wie es sie ähnlich sicher gibt, aber Ignatenko löst das so nicht auf, sondern belässt auch diesen letzten Moment ihres Films in der Spannung zwischen ihrem alles bestimmenden Kunstwillen und einer doch sehr undeutlich ins Allegorische neigenden Erzählung. Achrome ist allerdings visuell doch so stark, dass ich ihn sehr gern einmal auf einer großen Leinwand sehen und dann vielleicht auch besser verstehen würde. Die Regisseurin behalte ich auf jeden Fall im Auge.

 

Inferno Rosso – Joe D’Amato on the Road of Excess Manlio Gomarasca Massimiliano Zanin Italien 2021

Joe D’Amato war einer der großen europäischen Schundfilmemacher. Bürgerlicher Name Aristide Massacceci (1936-1999), Lebensertrag rund 200 Filme, davon gut 170 in unterschiedlichem Maß als Sexfilme zu bezeichnen. Über sein Schaffen und seine Bedeutung sprechen in diesem relativ kurzen Porträt eine Menge Mitstreiter:innen sowie als Promi der Amerikaner Eli Roth (Green Inferno), und als Diskursleiter und Schwadronierer der französische Kritiker und Kurator Jean-Francois Rauger, der an der Cinémathèque francaise eine Retro zu D’Amato organisiert hat, und das erwartbare Begriffsgewitter ablässt (desir, choc, pipapo). D’Amato war der Entdecker von Laura Gemser, der Schwarzen Emanuelle (wichtig ist die Schreibweise mit einem m, die Plagiatsvorwürfe von seiten des global erfolgreichen Emmanuelle-Franchises verhindern sollte). Das Label eines «Roger Corman italiano» trifft auch einiges. Interessant fand ich den Hinweis, dass D’Amato die pre-sales seiner Filme häufig vor allem aufgrund der (damals noch von Hand gemalten) Plakate organisierte, die ein eigenes Genre sind (Eli Roth zeigt sich diesbezüglich auch als Sammler). Als diese Märkte zusammenbrachen, begann D’Amato, richtige Pornos zu drehen, also Hardcore mit dem jungen Rocco Siffredi (Marco Polo: Die nie erzählte Geschichte). Das ruinierte seine Reputation, die wiederherzustellen es aber diesen Film wohl nicht gebraucht hätte. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf die konkreten Filme (die meist in Montagesequenzen verschliffen werden) hätte nicht geschadet.

 

CE2 (Third Grade) Jacques Doillon Frankreich 2021

Claire ist acht Jahre alt. Sie geht auf eine Schule in einer kleinen Stadt in der Nähe von Clermont-Ferrand. Kevin ist ein Jahr älter, er belästigt Claire, greift ihr unter den Rock, sie will danach nur mehr mit Hose in die Schule. Ist Kevin ein «prédateur», und Claire ein «victime»? Die Sache ist nicht ganz so einfach, denn Doillon inszeniert die Übergriffe von Kevin so halb wie einen Tanz, und auch wenn die Buben Claire in den Mittelpunkt eines Spiels stellen, bei dem sie von allen geohrfeigt wird, so bleibt das doch deutlich auf einer Ebene, die (noch) nicht traumatisierend wirkt. Es geht schließlich auch vor allem darum, hinter Kevins aggressiver Zuneigung eine Geschichte zu erfahren. Beide Kinder gehen nach der Schule zu sich nach Hause, das sind dann zwei entgegengesetzte Welten: Claire wächst behütet auf, mit einer gesprächsbereiten Mutter, der Vater ist Soldat und im Mali; Kevins Mutter trinkt, sein Vater lebt weiter weg in einem umgebauten Bus. Das ist zuerst einmal ein bisschen schematisch, wird dann aber durch Begegnungen vertieft und differenziert, und niemals zu Sozialkitsch: Kevins Vater taucht bei Claires Mutter auf, auch das lässt Doillon wieder halb choreographiert wirken. Die Gendarmerie wird so richtig nicht gebraucht. Kevin findet für Claires Ängste (vor Monstern) eine Lösung, die mit den Alltagsgegenständen in einer Welt zu tun hat, die mit Jagd und Militär konnotiert ist. Das Drama, das hier auch denkbar gewesen wäre, löst sich auf in einer schönen Variation von Motti (devises), wie sie Soldaten mit in den Kampf (um Frieden) nehmen. Dass Claire und Kevin überhaupt gemeinsam in eine Schule gehen, erweist sich bei allen Problemen als wesentlich: Billom (so heißt der Ort, an dem gedreht wurde) kennt keine Gettos.

 

CE2 (Third Grade) von Jacques Doillon

© IFFR