fundbüro

12. März 2022

Alfred Edel, Praxisforscher

Vignette zu Fundstück #3

Von Ralph Eue 

 

Meinen folgenden Text ‹entdeckte› ein Studierender in einem gemeinsamen Seminar zum Oberhausener Manifest. Ich selbst hatte über die Jahre nie wieder dran gedacht, aber die Umstände, ihn zu schreiben waren gleich wieder präsent.

2004 machten Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen als Herausgeber eine Reihe von Menschen ausfindig, um in einem Büchlein, das am Ende Das Edelbuch hieß und im Verbrecher Verlag erschienen ist, an den Darsteller und Menschen Alfred Edel zu erinnern.

Ich hatte eigentlich nur eine einzige Direkterfahrung mit Alfred Edel während seiner späten Lehr-und Wanderjahre im Schatten der Frankfurter Schule, wo es ihn (und mich) in die Donnerstagsvorlesungen von Professor Alfred Schmidt, dem Nachfolger von Max Horkheimer und Jürgen Habermas getrieben hatte. Es war eine der großen sinnstiftenden Erfahrungen meines Studiums, Alfred Edel und Alfred Schmidt über die Grundannahmen der Kritischen Theorie disputieren zu hören. Und dort erst ging mir auf, dass er ja ebenso der ‹Titelheld› aus dem CASANOVA PROJEKT (1981) von Agthe/Eilert/Gernhardt/Waechter war, wie jener Kleindarsteller, der Anita G. als ‹Uniwersideetsassisdent› eine sagenhaft machistische Studienberatung verabreichte (in ABSCHIED VON GESTERN [1966]) und der dann halt auch Willi Tobler in Kluges aberwitzigem WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER SECHSTEN FLOTTE (1971) verkörpert hatte. Seither versetzte mich jeder Film, in dem dieser «dienstälteste Mitarbeiter des Neuen deutschen Films» auftauchte, in kribbelige Vorfreude – insgesamt sind’s an die 200, von Christoph Schlingensief über Monika Treut und Roland Klick zu Werner Biedermann und Danièle Huillet/Jean-Marie Straub.

Da es unter den Beiträgern zum Edelbuch aber in hohem Maße befugtere Menschen gab, um sich über die Frankfurter (oder noch früher) Münchener Abenteuer dieses Wesen mit «waffenscheinpflichtigem Charme» zu äußern (u.a. Simone Borowiak, Eva Demski, Bernd Eilert, Rainer Friedrichsen, Gisela Geier, Alexander Kluge, Ronny Loewy) fiel es mir zu, mich als Fan von WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER SECHSTEN FLOTTE zu outen.

Als Alternative hätte noch diese Episode aus Edgar Reitz’ DIE ZWEITE HEIMAT (1992) – Edels letztem Film – zur Wahl gestanden, wo er als Geschöpf der Schwabinger Bohème einen tragischen Kältetod stirbt, was mir einerseits wie ein verqueres Menetekel auf seinen realen Tod erschien, wie auch als Hinweis auf Hans Christian Andersens Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Ich weiß noch, wie ich schreiben wollte, dass er «wie ein Zitat von Andersen im Schneegestöber wegstirbt». Dann hätte ich darüber extemporiert, ob denn ein Zitat wegsterben kann und wäre zum Schluss gekommen: «Oh ja, Alfred Edel kann! Denn er hinterlässt in ‹seinen› Filmen Momente – und seien es nur klitzekleine – , die wie Meteoriten einschlagen und darin stecken bleiben wie kryptische Botschaften aus der Welt des reinen Geistes.» Jedenfalls so ähnlich! Da DIE ZWEITE HEIMAT aber, wenn ich mich recht erinnere, bereits vergeben war (obwohl dann schließlich doch nicht vorkommend, selbst in der Filmografie des Buches nicht!), fiel mir eben der WILLI TOBLER zu. Fandom obsiegte! Gut so!

Am 12. März 2022 würde Alfred Edel 90 Jahre alt geworden sein.

 

© Alexander Kluge / Edition Filmmuseum

 

«Darüber hinaus bin ich auch Praxisforscher – Alfred Edel und Willi Tobler

 

«Wer auf dünnem Eis Schlittschuh läuft, wird nur dann nicht einbrechen, wenn er so schnell wie möglich weiter läuft.»

 

In der dominanten Kinematographie – also der amerikanischen – würde ein Projekt wie WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER 6. FLOTTE wohl «Starvehikel» genannt werden. In anderen Filmen – ausgenommen natürlich DAS CASANOVAPROJEKT [1981] – wirkt Alfred Edel wie ein Enzym, das der Fermentation dient, sie auslöst oder immerhin beschleunigt. In diesem Film des Regisseurs Kluge ist Alfred Edel bzw. die Figur des Willi Tobler jedoch die Substanz des Ganzen, um die sich alles dreht.

Edel in WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER SECHSTEN FLOTTE, das ist, frei nach Eilert und Henscheid die präzise Schnittstelle zwischen Kompetenz und absoluter Inkompetenz, zwischen Rokoko und Science Fiction, Zeit und Raum. Wo die Übergänge so exakt bezeichnet und damit zum Verblassen gebracht würden, da stellten sich zwar mit Sicherheit Verwirrung und Chaos am Ziel des langen Marsches ein, aber doch auch – ebenso frei, aber jetzt nach Heinrich von Kleist – Unschuld. Und Anmut.

WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER SECHSTEN FLOTTE, entstanden zwischen 1969 und 1971, ist eine belastbare Momentaufnahme vom damaligen Zustand des Neuen deutschen Films. Wir befinden uns sechs Jahre nach Godards ALPHAVILLE, von wo der Gestus stammt, einen Science-Fiction Film zu machen, der mit ehrlichen, aber systemfremden Antworten operiert, und kurze Zeit nach den Beatles Album Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band. Von dessen Cover scheinen die operettenhaften Kostüme der Militärs im Film entlehnt zu sein. Die männlichen Zivilisten hingegen haben Joppen übergezogen, die womöglich aus dem Fundus eines Bauerntheaters stammen. Und während die eine Frau (Natalie Bowakowa), die zum Ausspionieren auf den regierenden Admiral (Hark Bohm) angesetzt ist, nur ihre Nacktheit zu Markte trägt, ist die andere Frau, Toblers Gattin (Helga Skalla), in Kostümen zu sehen, die an jene Zeit erinnern, da die Entwürfe von Mary Quant gerade in den Kollektionen von C&A und der großen Versandhäuser angekommen waren: wo also das Ende der Swinging Sixties und der Anfang der schlimmen Siebziger begangen wurde.

Der Film steuert ohne Umwege auf die intendierte Bedeutung zu. So kann ein Heizungskeller etwa das Innere eines Raumgleiters aus der Zeit um 2040 bedeuten und sich dennoch offen als ein gegenwärtiges Gebäudeteil von 1971 zu erkennen geben. Was das heißt? «Nirgendwo Design, keine Spur von 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM eher schon von À LA CONQUÊTE DU PÔLE, LE VOYAGE DANS LA LUNE, oder LE VOYAGE Á TRAVERS L’IMPOSSIBLE. Méliès revisited.» Das hat Wolfram Viertel 1972 in der Filmkritik geschrieben.

Wie geht das alles los in WILLI TOBLER? Tobler heißt eigentlich Lerchenberg – wie der Ortsteil von Mainz, in dem sich das Hauptquartier des Zweiten Deutschen Fernsehens befindet. Lerchenberg ist auf dem Planeten Graf Grafenbeer geboren. Er ist verheiratet mit Dora Steinbach und hat drei Kinder. Selbstverständlich wäre er bereit seine Heimat zu verteidigen – wenn es aussichtsreich erschiene. Lerchenberg ist Kybernetiker und hatte 20 Studenten, denen er Wissen vermitteln durfte. Kurz bevor Grafenbeer am 27. April 2040 von einer der drei galaktischen Parteien angegriffen, erobert und zerstört wurde, konnte sich Lerchenberg mit Frau und Kindern in Sicherheit bringen. Es war knapp, mussten sie doch mit schwer beladenen Pappkoffern durch bereits zerstörtes Land, durch Steinbrüche und Baustellen, zu ihrem Raumgleiter hasten. Dessen Triebwerk wollte fast nicht anspringen, da es muckte wie bei diesen alten Motor-Rasenmähern, wo man auch immer mindestens dreimal die Anlasser Schnur ziehen musste, bevor sich auch nur die Andeutung einer Zündung abzeichnete...

Die Flucht ist turbulent. Im Raumgleiter ist es eng. Es geht zu wie bei einer kinderreichen Familie am ersten Ferientag im Stau auf der Autobahn auf dem Weg in den Bayerischen Wald. Im Raumgleiter, also im Heizungskeller, sitzt Lerchenberg-Tobler-Edel am Steuerknüppel und späht durch den Ausguck. Kurz vor dem Asteroiden Kanopus wollen seine Frau und die Kinder auch mal schauen. Seine Reaktion: überspannt, übertrieben, stiernackig. Sermon. Tirade. Schwadronierend schwülstiges Ereifern. Brachialdadaismus. Und zugleich die Ideal-Inkarnation des überforderten Sonntagsfahrers. In die Scheiße gelangt und Gold draus gemacht: «Nein, nein, nein, nein! Also lass mir hier das jetzt… Lass mir das machen!! Und gib du auf die Kinder, jetzt gib bitte mal auf, jetzt gib bitte mal auf die Kinder acht und lass, jetzt lass mich endlich mal in Ruh!! Wir sind doch verheiratet, was willst du denn von mir?!?!»

Aber das ist erst der Anfang von WILLI TOBLER, also bevor Tobler zu Tobler wurde, kurz bevor er seine Familie «anderweitig unterbrachte» und bevor er sich im Spannungsfeld der Mächte als Opportunist und Spezialist, Suspendierter und Rehabilitierter, Funktionär und Deserteur, Verräter und Vasall zu bewähren hatte. Also als durch und durch vielfaches Talent.

Dem Admiral auf Krüger 60 stellt sich Willi Tobler so vor: «Melde mich von Graf Grafenbeer kommend auf Krüger 60 zur Stelle. Wie telegrafisch angekündigt, biete ich meine sämtlichen Dienstleistungen im tertiären und quartären Bereich Ihnen an. Bin erstens Informationstheoretiker, zweitens Kybernetiker, drittens Systemanalytiker, viertens Systemforscher, fünftens Prognostiker, Mathematiker, Erkenntnistheoretiker, Logistiker, Logiker. Darüber hinaus bin ich auch Praxisforscher. Als Praxisforscher bin ich in der Lage, auf einfache Formen der Arbeitsteilung überzugehen, besonders auf Arbeiten, die psychisch entlasten, wie Hemden waschen, Schuh butzen, Socken waschen». Edel gibt in dieser Szene zugleich das Wunschbild und die Horrorvision eines jeden Personalchefs: einen, der irgendwo zwischen Kompetenz und Impertinenz, Loyalität und Unterwürfigkeit entgleist ist, einen, der sich hoffnungslos verirrt hat, das Gerippe eines Bauhelms auf dem Kopf. Ein heiliger Irrer.

Edels Artikulieren und Gestikulieren: Das eine ist Katalysator für das Andere. Et vice versa. Er rollt das «R», dehnt einzelne Silben oder verkürzt sie, und er verhärtet Konsonanten, die schon hart sind. Immer gegen den Realismus gerade gegen Ihn. «City-Planeten» werden bei ihm zu «Ziddi-Planeedn», und entsprechend ist auch der «Flanknangrifff die Kreatiwideet der Kriegskunnsd.»

Alfred Edel ist kein Schauspieler. Er ist Darsteller. Hanns Zischler hat die grundsätzliche Trennungslinie zwischen Darsteller und Schauspieler einmal so erklärt: «Schauspieler sind durch ihre Ausbildung in der Lage, ein sehr großes Spektrum an Literatur und überhaupt jeder Form von Fiktion sich anzueignen und vorzuzeigen. Damit verbunden ist auch eine Form der Anverwandlung, vielleicht auch Unterordnung unter bestimmte Regie Konzepte, die sehr total ist. Darsteller dagegen sind nicht professionell ausgebildet. Sie verkörpern eher ein Einüben in Erfindungen. (…) Der Darsteller hat eine andere Form des Selbstbewusstseins. Dadurch, dass er nie so weit in der Ausformung geht wie der Schauspieler, immer ein distanziertes Verhältnis zu der Figur hat, wird die Figur anderes vorgeführt. Man merkt dem Darsteller an – das behaupte ich jetzt mal –, dass er nie vollständig in der Figur auf geht, ein Rest ‹Selbst› da ist, ein ‹Neben-der-Figur-Stehen›.

Was der Edel eigentlich macht in WILLI TOBLER? Grundsätzlich zu viel. Er produziert Überschuss. Einmal soll er einen Einstellungs-Eid nachsprechen – einfach nur Nachsprechen! Dieser Eid verpflichtet ihn auf dieses und jenes, zum Beispiel die Verfassung zu achten und die Lieferfristen einzuhalten. Edel steht in dieser Szene da, die Augen ganz doll zusammengekniffen, um bloß alle Worte korrekt zu memorieren und nichts zu vergessen – ein Mimen von Konzentration, Anstrengung, dem aber der unverbrüchliche Ehrgeiz zur vollständigsten Pflichterfüllung in die Quere kommt – , und so kann es eben auch gar nicht anders sein, als dass er die Lieferfristen nicht nur einhalten wird, sondern dass er sie bedingungslos (!) einzuhalten gedenkt. Den Tobler führt der Edel vor, in dem er ihn nicht spielt, sondern indem er mit ihm spielt. Bedingungslos. Restlose Plan-Soll-Erfüllung. Allen aktuellen Normvorschriften bedingungslos Rechnung tragend und allen künftigen schon immer weit voraus. Die Dinge erkennen am Schein der Dinge, weil der Schein der Dinge die Schwäche der Dinge ausdrückt.

Kurz vor 16 Uhr irgendwann 2040: «Da ich mich bis 16 Uhr entscheiden muss, zu welcher Seite des Bürgerkrieges ich mich schlage, habe ich soeben das Studium der Philosophie aufgenommen. In extremen Gefahrensituationen ziehe ich mich zurück in Bibliotheken und studiere Grundlagen – Bücher zu denen ich während der letzten 30 Jahre nicht gekommen bin.»