berlinale 2009

5. Februar 2009

Imperative des Erinnerns Defamation von Yoav Shamir (Forum)

Von Bert Rebhandl

An einem langen Tisch in Kiew sitzen einander zwei Delegationen gegenüber. Ein Vertreter des ukrainischen Präsidenten Juschtschenko erhofft sich von einem Treffen mit der Anti-Defamation League Vorteile für die Beziehungen des osteuropäischen Landes zu den USA. Die ADL ist die weltweit wichtigste Organisation, die sich der Bekämpfung des Antisemitismus widmet. Sie hat ihren Sitz in New York, die Politiker der Ukraine unterstellen den jüdischen Lobbyisten exzellente Kontakte nach Washington. Ist das politische Naivität, oder selbst schon antisemitisches Klischee? Diesen und ähnlichen Fragen widmet sich Yoav Shamir in seinem Dokumentarfilm Defamation. Der Filmemacher (Checkpoint, 2003) begleitet amerikanische Juden, Sponsoren der ADL, auf ihren Reisen zu den Stätten in Osteuropa. Aus Israel reist eine Schulklasse nach Polen, um vor Ort einen Eindruck von der Shoah zu bekommen. Für Offiziere der israelischen Armee ist eine solche Reise ebenfalls verpflichtend. Die Erinnerung an Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden während der Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten muss als zentraler Bestandteil der israelischen Identität ständig aktualisiert werden. Yoav Shamir zeigt, wie Israel als Nation sich auf diese Weise immer wieder neu findet, er zeigt aber auch, dass dieses Konzept der Rückversicherung eine psychologische Kehrseite hat: Die Aufmerksamkeit auf eigene Verwundbarkeit macht taub für das Leid von anderen. In Brooklyn zeichnet er eine bemerkenswerte Szene auf: vier Afroamerikaner weisen jeden Verdacht auf Antisemitismus von sich, einer meint dann aber doch, zumindest einen gewissen «favoritism» erwähnen zu müssen. Juden wären, bei den Behörden und allgemein, besser gestellt als Schwarze in New York. Wegen des Holocaust?, wäre die implizite Rückfrage, die nicht mehr eindeutig zu beantworten ist, weil hier ethnische Differenz zu einem hochkomplexen Konkurrenzverhältnis wird, in dem von allen Seiten nach Vorteilen gesucht wird. «We gotta play that guilt trip», sagt eine amerikanische Jüdin in Shamirs Kamera. Sie weiß, dass dieser Satz anstößig ist. Das Verdienst des Films Defamation ist, dass er ausreichend Kontext schafft, um diesen Satz auf mehreren Ebenen verstehen zu können – als Selbstbehauptung und als Anmaßung, als instrumentelle Aneignung eines Traumas wie als authentisches Gedenken.