filmkritik

31. März 2021

Merkwürdig geschlungene Bäume Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (30): Heft 03 1971

Von Bert Rebhandl

In Erinnerung an Hans Schifferle

 

«Vielen Filmen sieht man jetzt schon an, daß ihre Macher öfter vor dem Fernseher gesessen haben als vor der Kinoleinwand», schreibt Wolf-Eckhart Bühler in Movie pictures, einem Journal-Text, in dem er in loser Form Notate zum Kino versammelt. Der Satz verdient eine kurze Überlegung. Denn er beruht auf einer Annahme, dass sich in die Phantasie von Filmschaffenden das Format des Bildmediums einträgt, dem Anregungen entnommen wurden. Meine eigenen Erinnerungen deuten eher auf das Gegenteil. 1971 war ich von meinem ersten Kinobesuch noch einige Jahre entfernt, es gab aber (seit einem Jahr) einen Fernseher, und ich meine, dass die «kleinen» Bilder sich in meiner Vorstellung so weit entgrenzt haben, dass ich eine sehr konkrete Vorstellung von Fremdheit und Andersheit hatte, bevor ich überhaupt verstand, was Bilder sind. Die entstanden sowieso eher beim Lesen, damals noch vor allem von Jugendbuchschmökern.

Bühler sitzt hier für meine Begriffe den Versuchungen des Aphoristischen auf. Würde man seinen Satz in unsere Gegenwart übertragen, wie müsste er dann lauten? «Vielen Filmen sieht man jetzt schon an, daß ihre Macher:innen öfter Serien gebeamt haben, als ins Arsenal zu gehen?» Fernsehen ist natürlich nicht nur ein technisches Kleinformat (trotz der heutigen Superscreens), sondern auch eine Chiffre für Vorstellungen im Kleinformat, und häufig sehr zu Recht. In Bühlers Logik müsste es allerdings heute längst ein Kino geben, dem man das Quality TV ansieht, mit dem wir in den letzten zwanzig Jahren so viele Stunden verbracht haben.

Besser klappt die Aphoristik bei diesem Satz: «Und die wahre Natur der vielzitierten Traumfabrik ist die: daß niemand anders uns so vergessen machen kann, daß wir uns einsperren lassen, um Filme zu sehen – daß wir, um eine Ahnung von Freiheit zu sehen, erleben, träumen zu können, uns einpferchen lassen in dunkle stickichte Räume.»

Der Bundesvorstand der Jungsozialisten hat in Bremen ein Papier zur Entwicklung der Massenmedien beschlossen, das die Filmkritik auf sechs Seiten abdruckt. «Die Bewußtseinsindustrie wächst stürmischer als alle anderen Industrien», heißt es eingangs, vielfach wird «Kommunikation durch Distribution ersetzt». Der Film ist unter den traditionellen Massenmedien das «privateste» (so meinte das wohl auch Bühler: im Stickicht der Säle sind wir von Leibern umgeben ganz bei uns), in Deutschland dominiert allerdings ein «Schnulzen-Kartell» den Kinobetrieb. «Das Kapital hat immer wieder versucht, den reinen Profitfilm gegen die lästige Phantasie durchzusetzen.»

Interessant sind Überlegungen über ein Oligopol einiger Konzerne bei der «hochindustriellen Verbreitungsform» Kassette (das Buch ist demgegenüber frühindustriell). Gemeint sind wohl Tonband-Kassetten, die Existenz von Video-Kassetten wird bereits antizipiert, zugleich auch das Phänomen Audiobuch. In jedem Fall zeichnet sich eine Medienordnung ab, bei der man mit wenig Geld nicht mehr so leicht mithalten kann wie mit Büchern: «Es ist einleuchtend, daß diese neu entstehende Branche nur von wenigen Finanzgiganten durchgehalten werden kann.» Allerdings hat sich auch diesbezüglich vieles unerwartet entwickelt: heute publizieren viele von uns unabhängig im Inneren von Monopolstrukturen.

Enno Patalas hat sich (wieder in Wien, der Filmpilgerstadt) die frühen Filme von Dreyer angesehen. Ich notiere mir eine Passage zu Blade of Satans Bog (1921), und meine mich dabei zu erinnern, dass das mein erster Dreyer war, auch im Österreichischen Filmmuseum: «Ein dunkler jüdischer Jesus, wie Dreyer ihn sich später für den Christusfilm vorstellte, mit den Jüngern im Garten Gethsemane wandelnd und lagernd beinahe wie bei Bunuel; sehr merkwürdig geschlungene Bäume, durch deren Blätter flirrendes Licht auf die Apostel fällt, die da Siesta halten. Ein Trupp Römer mit Fackeln, die wie kleine Öfen aussehen, an Stangen über der Schulter getragen. Nur bei Mizoguchi hat man wie in Dreyers historischen Szenen das Gefühl, wirklich in Vergangenheit entrückt zu werden.» Von ganz fern ist da ein blasphemischer Ton zu hören, wenn Patalas von einer «Siesta» der Apostel spricht, wo es doch in der Szene eigentlich darum geht, dass Jesus seinen Tod ahnt und in seiner Angst allein bleibt, weil die Jünger nachts in Garten Gethsemane einfach wegpennen.

Guter Satz dann en passant in den Bemerkungen zu Du sollst dein Weib ehren (1925): Ein kleinbürgerlicher Haustyrann findet abends seine Frau nicht vor, die ist verreist, stattdessen führt ihm eine Näherin den Haushalt. «In ihr findet er seinen Meister.» Da sorgt das generische Maskulinum für eine Ironie, die gendergerechte Sprache nie entdeckt hätte.

Notiert habe ich mir auch noch den Auftragsfilm Shakespeare og Kronborg, aber den scheint es wirklich nirgends zu geben.

Frieda Grafe schreibt über There Was a Crooked Man (Zwei dreckige Halunken) von Joseph L. Mankiewicz: «Dem deutschen Verleih muss der Film so unheimlich geworden sein, dass er aus dem einen Gauner im Originaltitel in der Übersetzung zwei Halunken gemacht hat. Aber es gibt keine zwei, es gibt nur den Punkt, an dem aus Pitman Lopeman wird.» Auch schon wieder ein Projekt: alles von Joseph L. Mankiewicz anschauen.