dokumentarfilm

5. April 2021

Gute Nacht BRD Noir als Recherchesimulation: Der schöne Leo

Von Matthias Dell

© Lichtblick Film / ARD

 

In der ARD-Mediathek (und auch hier) ist noch bis Ende April Benedikt Schwarzers Dokumentarfilm Die Geheimnisse des schönen Leo zu sehen. Ein Film von 2018, der durch die aktuellen Korruptionsfälle in CDU/CSU in neuem Licht erscheint. Leo Wagner (1919-2006), der Großvater des Regisseurs, hatte seine große Zeit als (Erster) parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion zur Zeit der sozialliberalen Koalition. Wagner war neben Julius Steiner mutmaßlich der zweite von der DDR-Staatssicherheit bestochene CDU-Abgeordnete, der beim konstruktiven Misstrauensvotum 1972 nicht für den eigenen Fraktionsvorsitzenden stimmte und damit den Fortbestand der sozialliberalen Regierung Willy Brandts sicherte. Empfänglich für Geld und dubiose Geschäfte machte den CSU-Mann, der später Stasi-IM wurde, sein ausschweifender Lebenswandel – die Nächte, die er in Kölner Amüsierlokalen verbrachte («Chez nous»), mit anderen Honoratioren, und Geliebten, denen gegenüber er sich großzügig zeigte. Dem zuständigen Stasi-Offizier in Ost-Berlin erschien solches Verhalten «unlogisch», weshalb man im MfS anfangs fürchtete, mit Wagner vom BND einen Agenten «uffjebunden» zu bekommen.

Aus dem Jahr 2021 betrachtet, ist der Film interessant wegen solch unverfroren zur Schau gestellter Verantwortungslosigkeit. Die könnte man auch Entitlement nennen, um zu beschreiben, mit welchem Selbstbewusstsein hier ein konservativer Politiker davon ausgeht, dass ihm das alles zusteht, die Macht und das Geld. Beziehungsweise einem anderen Mann wie dem kürzlich geschassten, lange Jahre äußerst einflussreichen CSU-Spezl Alfred Sauter, über den die FAS unlängst schrieb: «Sauter hatte sich auch immer dazu bekannt [viel Geld zu verdienen], provozierend offen, wie auf die Frage im Landtag, ob er einen Nebenjob habe. ‹Ja, ich bin Abgeordneter›, war seinerzeit die Antwort, die jetzt wieder aus allen Archiven geholt wird.»

Sauter tritt in Die Geheimnisse des schönen Leo auf, 1969 wird er Wagners Mitarbeiter. Über das politische Ende seines einstigen Chefs erzählt Sauter: «Da gingen halt dann die Fragen los, was seine finanziellen Verhältnisse anbelangt. Da hat er lange Zeit, nach meiner heutigen Kenntnis, nicht mit offenen Karten gespielt, hat sich's viel mit Parteifreunden verscherzt, weil er denen Informationen gegeben hat, die so nicht Stand gehalten haben. Und es ging dann Stück um Stück, und ist dann alles zusammengebrochen, und dann war's das Ende.» Was nicht ohne Ironie ist, weil das Sätze sind, die Sauter seit ein paar Wochen auch über sich selbst sagen könnte, als Nachfolger von Wagner in Wahlkreis Günzburg.

Davon konnte Benedikt Schwarzers Dokumentarfilm freilich nichts wissen, wobei man auch sagen muss, dass er das gar nicht wissen will. Die Geheimnisse des schönen Leo hat keinen Sinn für Macht, für Politik, für das Strukturelle am Stoff, für die Frage, inwiefern Leo Wagner eben nicht ein schillernd-trostloser Einzelfall ist, sondern was an dieser Figur im engsten Umfeld von Franz Josef Strauß symptomatisch ist für den Begriff von Amt und Korrumpierbarkeit, wie ihn gerade die CSU mit ihrem jahrzehntelangen Alleinvertretungsanspruch pflegt. Und diese Ignoranz hat mit der Form zu tun.

Schwarzers Großvater-Recherche ist ein Familienfilm, der als Clou mit einer Neuordnung der verwandtschaftlichen Linien aufwartet. Und der animiert von Filmhochschulen und Förderinstitutionen, Fernsehredaktionen und Festivals die eigene Geschichte wie eine Presenter-Reportage anlegt. Was hier schon deshalb keine gute Idee ist, weil Schwarzer so untercharismatisch ist, dass sich nicht allein das Publikum unwohl fühlt bei den pflichtschuldigen Kamerablicken auf ihn, die den zu ihm hingeredeten Auskunftstext illustrieren sollen, sondern der Filmemacher selbst eben auch. Sinnbild von solch fehlgeleitetem method acting am eigenen Stoff ist der BMW 1800, Baujahr 1970, mit dem sich der Regisseur durch den Film bewegt, weil es einen schwarzweißen Wahlwerbe-Clip gibt, der den Opa in einem ähnlichen Modell zeigt. Wenn man versucht, sich den Sinn zu erklären, den diese automobile Referenz herstellen soll, landet man fix bei einer Schnapsidee. Aber soll halt gut aussehen.

Und an dieser Stelle, wo eine aufs Äußerliche statt die Geschichte bedachte Entscheidung getroffen wird, sagen sich dann zwei gegenwärtige Debatten «Gute Nacht». Zur Frage, inwieweit CDU/CSU-Politik spezifisch offen ist für Korruption, liefert Die Geheimnisse des schönen Leo leider nur Material, und das tut er, weil der hiesige Dokumentarfilm ein Problem mit der Darstellung hat. Benedikt Schwarzer inszeniert zwar augenscheinlich nicht wie im gerade diskutierten Fall Lovemobil Leute, die vor der Kamera Rollen spielen. Aber eben doch die Art und Weise der Erzählung, und zwar auf die stumpfen und kunstfeindlichen Vorstellungen hin, die unter deutschen Förderern, Fernsehsendern und Festivals beim dokumentarischen Erzählen verbreitet sind – als eine  Recherche mit dem Autor als Schauplatz des Erzählens, damit der angenommenen Betrachterin der Zugang zum Thema erleichtert wird, sie sich in den Erzählerregisseur so einfühlen kann wie der sich mit dem Auto in seinen Großvater.

Dass die Recherche in Die Geheimnisse des schönen Leo nicht nur blind für Systemisches ist, sondern in ihrer privatistischen Beschränktheit eben nur simuliert wird, kann an einer Stelle leich nachvollzogen werden. Schwarzer redet aus dem Off zu Schnittbildern von BMW auf Autobahn, Weltzeituhr und Fernsehturm: «Der Bestechungsverdacht durch die Stasi lässt mich nicht los. Ich fahre noch mal nach Berlin zu Doktor Müller-Enbergs». Um im nächsten Bild mit dem Experten in der exakt gleichen Anordnung und Kleidung zu sitzen, wie beim ersten Mal 20 Minuten früher im Film. Jedes Kind kann sehen, dass das Ringen mit der inneren Stimme («lässt mich nicht los») hier reine Behauptung ist, um die Erzählung einer Recherche, die schon lange gemacht worden ist, mit Action und Dramatik zu pimpen.

Das ist das Verlogene an solcher Art von deutschen Dokumentarfilmen: Wo im Exposé schon aufgeschrieben sein muss, was hinten für ein Produkt rauskommt, tut dieser Film dann so, als ließe er sich von spontanen Bewegungen leiten. Wo das Budget für die Drehtage effizient kalkuliert sein will, versucht einem der Filmemacher zu erzählen, er würde für zwei 70-sekündige, inhaltlich benachbarte Auskünfte jedes Mal eigens Fernreisen unternehmen.

So verpasst diese dominante deutsche Form von Dokumentarfilm nicht nur das Spannende am Stoff (Korruption in der Politik). Sie macht sich dafür auch selbst noch was vor.