theater

27. Februar 2024

René Pollesch (1962 – 2024)

Von Matthias Dell

© Literaturforum im Brecht-Haus

 

René Pollesch ist am 26. Februar gestorben. Im Alter von 61 Jahren, also viel zu früh, was einerseits den Schock erklärt, den diese Nachricht verbreitet (andererseits: dass vielen Menschen Polleschs Theater viel bedeutet hat, dass es geliebt wurde, wie selbst Theater nicht so oft geliebt wird, aber dazu später). Dabei war René Pollesch gleichzeitig eigentlich zu alt («schon» um die 60) – das Theater, das er gemacht hat, wollte dazu nicht recht passen, weil es für eine ungeahnt-lustvolle Verjüngung von Schauspiel, Bühnenhandeln und Dramentext stand. Und das sehr lange.

Das mit dem nun in beide Richtungen irritierenden Alter hat auch damit zu tun, dass Pollesch spät zu Ruhm und Bekanntheit gefunden hat. 1962 in Hessen geboren, kam Pollesch nicht als Akademikerkind zur Kunst (der Vater war Maschinenschlosser und Hausmeister, die Mutter Hausfrau). Er studierte in den 1980er Jahren an Andrzej Wirths Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, dem Ort, aus dem das «postdramatische Theater» kam (Hans-Thies Lehmann, der das Standardwerk dazu geschrieben hat, war da auch), Gruppen wie She She Pop und Rimini-Protokoll (und in jüngerer Zeit nur Joana Tischkau). In Gießen erfuhr René Pollesch seine entscheidende Prägung in einem Workshop des US-Amerikaners John Jesurun (geboren 1951), der im Vergleich zu anderen Gastdozenten wie Heiner Müller oder Robert Wilson hierzulande weitgehend unbekannt ist. Jesurun hatte beim Fernsehen gearbeitet (u.a. für The Dick Cavett Show), ehe er in New York Theater machte. Ein Theater, das vom spezifischen US-amerikanischen Fernsehen informiert war: Chang in a Void Moon hieß Jesuruns serial play, eine Bühnen-Soap, ein nicht enden wollender Dramentext, für den in kurzem Takt immer neue Episoden geschrieben und zur Aufführung gebracht wurden. 2004 war Jesurun mit Folge 57 von Chang in a Void Moon zu Gast bei den Berliner Festspielen sowie mit einer Aufführung von Shatterhand Massacree, und wer die Arbeiten damals gesehen hatte, konnte Pollesch, der dem deutschen Theater mit einem zuvor nie gesehenen Spaß Leben eingehaucht hatte, für einen cleveren Epigonen halten.

Das Frühwerk von Pollesch war bis hin zu Rollennamen wie Bambi Sickafossee von Jesuruns weirdem popkulturellem Amalgam beeinflusst – zuerst durch den Bezug auf Filme (Jesurun gilt als Erfinder eines «kinematografischen Theaters»), den schon zahllose der eigenwillig-eingängigen Pollesch-Stücktitel herstellten. Die Trilogie etwa, mit der Pollesch dann endlich Ende des 20. Jahrhunderts seine Arbeit als Autorenregisseur aufnahm, zitierte heiter Filmtitel durch: Heidi Hoh (Norma Rae von Martin Ritt, 1979), Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr (Alice doesn't live here anymore von Martin Scorsese, 1974) und Heidi Hoh 3. Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat (Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat von Bernhard Sinkel, 1975). Das Luzerner Theater, damals geleitet von Barbara Mundel, der heutigen Intendantin der Münchner Kammerspiele, war die Bühne, die Pollesch eine Chance gab.

In diesen Arbeiten formulierte Pollesch seinen an Jesurun geschulten Stil: schnelles, repetitives, sloganhaftes Sprechen auf Anschluss, das sich mit kalauerhaft-einfachen Spielszenen abwechselte – in Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr (das in Berlin seinerzeit im Podewil aufgeführt wurde, dem einstigen Haus der Jungen Talente, das lange keine Off-Bühne mehr ist) wurde die Geschäftspraxis des im Jahr 2000 noch neuen Business Amazon.com dargestellt, indem die drei Performerinnen Bücher in die Federung von Gastro-Tellerwagen drückten, damit diese in mehr oder minder großen Bogen über die Bühne flogen.

Dazu Popmusik, deren Auswahl sich in den ersten Arbeiten auch als (chronologischer) Gang durch die Popmusikgeschichte lesen ließ – von den sonnigen kalifornischen Beach Boys-Idyllen (Wouldn't it be nice) im zweiten Teil von Heidi Hoh bis in die Progrock-Trübnis von Der Kandidat (1980). Sie leben! (2003 – auch zwei Filmtitel). Und natürlich: Theorie, Diskurs. Die Heidi Hoh-Trilogie handelte von der Verzweiflung an neoliberalen Arbeitsbedingungen, von der Fron des Servicedienstleistens (Insourcing des Zuhause. Leben in Scheißhotels von 2001 spielte auf die entsprechende Lingo der Zeit an), die ersten Arbeiten im Prater wie Stadt als Beute, den Pollesch als Nebenspielstätte der Berliner Volksbühne zur Saison 2000/01 übernahm, auf jenen verwertungsgetriebenen Stadtumbau (der Potsdamer Platz war fertig), den Florian Opitz in der Dokuserie Capital B – Wem gehört Berlin? gerade historisiert hat.

Die Kritik hat sich lange schwer getan, weil sie schnell gelangweilt war von diesem Theater, das einem keine Geschichte erzählte und dabei spielte, sondern einem entweder wissenschaftlich anmutende Sätze um die Ohren schmiss oder eben bewusst alberne Handlungen, die nie auf Perfektion hinauswollten (War es Schmeiß dein Ego weg von 2011 oder eine andere Volksbühnenarbeit, in der, eigentlich viel zu krass, der Anschlag aufs World Trade Center 2001 als Kinderspiel nachgestellt wurde – ein Mädchen hebt ungelenk den kleineren Bruder oder umgekehrt in die Waagerechte, damit der mit ausgestreckten Armen Flugzeug spielen kann und in zwei Anläufen schelmisch von den beiden Twix-Riegeln abbeißt, die jemand im Vordergrund in die Kamera hält). Das mit der Überforderung der Darstellerinnen kalkulierte (deshalb saß irgendwann die Schauspielerin Tina Pfurr als Souffleuse gut sichtbar einfach mit auf der Bühne in Berlin), und das in diesem Pollesch-Ton, der anfangs klang wie die aufgekratzt-dümmliche deutsche Synchronisation von US-amerikanischem Teleshopping-Kanälen (noch mal: Jesurun). Deshalb schickten die Feuilletons eine Zeit lang wechselnde Leute aus der eigenen Redaktion in die neuen Stücke in der Hoffnung, dass das wechselnde Personal dann was anderes in den Arbeiten entdecken würde, weil die doch eh immergleich waren («Diskurs-Pop» oder wie blöd die Labels damals waren).

Das mit dem «immergleich» stimmte natürlich irgendwie, verkannte aber auch, dass Polleschs Arbeitsweise sich dem Originalitätsschwachsinn und Geniegetue, die im deutschen Theater viel gelten, pragmatisch entzog (materialistisch gedacht: schon einfach um Geld zu verdienen, wenn es läuft). Und das bedeutete dann, dass der Text von Notti senza cuore – Life is the new hard (Berlin, Dezember 2005) noch in Wann kann ich endlich in einem Supermarkt gehen und kaufen was ich brauche allein mit meinem guten Aussehen? (Stuttgart, April 2006) Verwendung fand, weil Pollesch im Grunde an einem langen Stück schrieb.

So kam – ein Beispiel für die popkulturelle Übersetzungsarbeit, die Pollesch leistete – Harald Schmidt zu seinem Bühnen-Comeback (auch in Stuttgarter Pollesch-Arbeiten, wenngleich als Fremdkörper). Denn in beiden Arbeiten zitierte Pollesch, vermittelt durch den Schauspieler Bernhard Schütz, ausgiebig aus einer legendären Videoarbeit der Hamburger Künstlergruppe Reproducts, die sich lange vor Kulenkampffs Schuhe mit der unausgesprochenen Schuld aus der NS-Zeit im westdeutschen Unterhaltungsfernsehen beschäftigt und diese schon Anfang der 1990er Jahre durch die Montage mit zwei Videorekordern essentiell verdichtet hatte: die zweifelnde, immergleiche Überbringung der Todesnachricht in der ZDF-Serie Der Kommissar (1969-1976), zu dem das Waffen-SS-Mitglied Herbert Reinecker die Drehbücher schrieb, der seinen Teil an der Vernichtung von Menschen immer wieder nicht fassen können wollte: «Ihr Mann wurde erschossen.» – «Erschossen?» Schmidt erzählte nach dem Theaterbesuch fasziniert davon in seiner Show, stellte die Dialoge nach («Hallo, hier ist bei Dr. Steiner, zu wem wollen Sie denn, Dr. Steiner ist nicht da») und holte, spürbar verzückt, einen der Stuttgarter Pollesch-Schauspieler, Christian Brey, in seine Sendung.

Das war die Zeit, Mitte der nuller Jahre, als Pollesch durchgesetzt war, das Publikum auf den Premieren glamouröser wurde, als große Schauspielnamen mit ihm arbeiten wollten (bis hin zu, eben, Harald Schmidt). Dabei bestand die Schönheit des Theaters von René Pollesch als dem Mann, der von unten kam, lange Zeit auch darin, in Gesichter von Frauen zu schauen (und es waren anfangs fast ausschließlich Frauen), die in den alten Dramentexten weniger Entfaltungsmöglichkeiten hatten: Susanne Abelein, Anja Schweitzer und Elisabeth Rolli, Claudia Splitt und die damals noch unbekanntere Caroline Peters, Christine Groß, die wohl am häufigsten bei Pollesch aufgetreten ist. Dazu noch Nina Kronjäger, deren Abgeschminkt-Fame wie ein stranges Echo wirkte. (Und genau genommen kann selbst ein Deutsche-Beziehungskomödie-Star wie Thomas Heinze als Pollesch-Schauspieler gelten, weil der in der frühen Fernseharbeit Ich schneide schneller mit von der Partie war.)

Ich habe 2014 für Theater der Zeit mal viel Zeit aufgewendet, um eine Landkarte aller – damals 76 in 15 Jahren – Pollesch-Inszenierungen zwischen Berlin, Hamburg, München, Hannover, Zürich, Wien zu erstellen. Damals stand das Besetzungsverhältnis bei 60 Frauen zu 50 Männern, was nicht häufig vorkommen dürfte in den Arbeitsbiografien deutscher Theaterregisseure. Der schwule René Pollesch war neben Christoph Schlingensief jemand, der identitätspolitisch gedacht hat, bevor der Begriff geläufig war (und dafür gleich mit Abwertung bestraft wurde), weil er seine Sprecherpositionen reflektierte; dass das, was in einem Dramentext steht ohne weitere Angabe, automatisch als «männlich, weiß und heterosexuelle markiert ist». Die Arbeiten sind deshalb gut gealtert, wie Black Maria (2018) am Deutschen Theater belegte, weil für Pollesch Theater nicht ohne Repräsentationskritik zu denken war. Zentral dafür war das Interesse für Theorie (Donna Haraway über alles!), auch wenn das in späteren Arbeiten fauler auch mal bei dumpfen Lifestyle-Kritikern wie Robert Pfaller landen konnte, der sich Philosoph nennt, nur weil er die Einführung der Light-Zigarette und von Coke Zero nicht verkraftet hat.

Die klassische Phase in Polleschs Werk begann mit L'affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenetre, Caroline! Le marriage de Spengler. Christine est en avance von 2006, dem Bootleg einer Boulevardkomödie im Großen Haus der Volksbühne (schlimmer Verdacht: weil Castorf der Nebenkaiser im Prater zu erfolgreich geworden war), das die beste Kritik am Henckel von Donnersmarck-Kitsch Das Leben der Anderen gewesen ist («Das Leben der Anderen, was könnte das sein?» – «Das Volk von Tansania kommt nicht vor»). Entscheidend, und damit vielleicht die wichtigste Prägung nach Jesurun, war aber die Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs. Der hatte schon in Stadt als Beute (2001) mitgewirkt noch in der Gruppe, bestritt die beiden kanonischen Arbeiten Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! (2010) und Kill your Darlings! Streets of Berladelphia (2012) dann aber alleine (beziehungsweise mit Variationen von Gruppen, die man szenische Chöre nennen könnte). Hinrichs’ verschmitzt-lamentierende Sprechweise, die wirkt wie Deklamation im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit, als gurgele jemand Ulrich Wildgruber-Pathos im Wissen darum, dass es das nicht mehr geben kann, hat Polleschs Stücke verlangsamt, in einem klassischen Sinne: theatraler gemacht. Wenn der Text vorher eine Fläche war, öffnete sich nun ein von Hinrichs souverän beherrschter Raum, in dem das Drama wohnt, das Existentielle, das Einsame, das sich nicht mit anderen zu verbinden vermag.

Die Zeit als Intendant, der Pollesch nach der Austreibung des Castorf-Geistes durch das Dercon-Scheitern dann doch geworden ist, mag nicht die erfolgreichste gewesen sein (wie auch für einen, der kein Haus leiten, sondern an seinem Text schreiben will). Aber René Pollesch ist in seinen arbeitsreichen Jahren gelungen, was wenige Theaterleute von sich behaupten können – er hat die Art und Weise verändert, wie wir Theater denken, wie Theater gespielt werden kann, was Theater ist. René Pollesch hat das politische Theater neu erfunden, das in Deutschland lange auf einen anstrengenden Namen wie Agitprop gehört hat. Der Trick ist die Sprechweise – die heitere Verzweiflung von Leuten, die zu viele Probleme haben und sich, wenn sie sich darüber beklagen, eher zu wundern scheinen. Darin steckt etwas Subversives, Entwaffnendes, das öffnet etwas und ist zugleich unterhaltsam, selbstironisch, das ist das Gegenteil des Rumgeopferes, mit dem sich die Rechten in den letzten Jahren in die öffentliche Debatte gejammert haben.

Ich kenne drei Menschen, die in Kill your Darlings waren und, bei allem Unterhaltenwordensein, danach auf je verschiedene Weise gedacht haben, dass sie ihr Leben oder zumindest etwas daran ändern müssen: «Das reicht doch nicht, da fehlt etwas.» Mehr kann Theater nicht erreichen; das Theater des René Pollesch hat das geschafft. Nun fehlt er.

 

© Matthias Dell