dokumentarfilm

Anstellungsverhältnisse Teilnehmende Beobachtung und Poetik der Arbeit: Zu den Filmen von Klaus Wildenhahn

Von Max Linz

Klaus Wildenhahn bei den Dreharbeiten zu Stillegung. Oberhausen Mai–Juni ’87

© Absolut Medien

 

Ob ich denn auch noch wegen des Jubiläums da sei, fragt Klaus Wildenhahn, als wir uns im Dezember 2010 bei ihm zu Hause in Hamburg-Hoheluft treffen. Beschämend, dass die Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit, selbst die einer spezialisierten wie der Dokumentarfilmwochen, Verleger, Kinematheken, Filmfeuilletons sich stets von banalen biografischen Gegebenheiten aktivieren lassen muss. Auch die von Absolut Medien publizierte DVD-Sammlung mit 14 Filmen ist ja ausdrücklich aus Anlass von Wildenhahns achtzigstem Geburtstag im Juni 2010 erschienen. Dabei wird der Blick zurück gerichtet: Retrospektive. Eine Blickrichtung, die die Gegenwart oft nicht einschließt. Wildenhahns Filme – die er allesamt für das Fernsehen, den Norddeutschen Rundfunk, bei dem er von 1959 bis 1995 angestellt war, realisiert hat - haben mit dem, was heute als künstlerischer Dokumentarfilm in den allermeisten Fällen von den mindestens koproduzierenden Fernsehsendern verkauft und auf Festivals abgespielt und ausgezeichnet wird, nichts gemein. Die Person Wildenhahn aber spielt nicht die entscheidende Rolle. Seine Filmografie ist Ergebnis eines heute unvorstellbar gewordenen Anstellungsverhältnisses und Ausdruck einer selbstkritischen Medienrealität.

In Berlin aufgewachsen, kehrt Wildenhahn 1959 aus London, wo er einige Jahre als Krankenpfleger tätig war, nach Deutschland zurück und bewirbt sich mit zwei Gedichten beim NDRin Hamburg. Nach Assistenzen bei der Fernsehlotterie arbeitet er zunächst als Realisator für die Panorama-Redaktion, verfilmt journalistische Reportagen. Auf dem Festival in Mannheim begeistern ihn 1964 die Ergebnisse der amerikanischen Direct-Cinema-Methode, er erlebt dort Albert Maysles, D. A. Pennebaker und Richard Leacock und führt ihren mit Handkamera und Synchronton gedrehten Wahlkampf- Film Primary den Verantwortlichen im Sender vor. Bei einer Reportage über den Parteitag der SPD im November 1964 versucht er sich mit dem Kameramann Rudolf Körösi erstmals in der neuen Arbeitsweise; der Film wird in Oberhausen ins Programm genommen, vom NDR aber zurückgezogen und erst 1981 ausgestrahlt. Wildenhahn wechselt zum Musikredakteur Hans-Jörg Pauli ins Dritte Programm, der ihn mit dem Zweiteiler über den Jazz-Organisten James O. Smith (Smith, James O. – Organist, USA1965/66) und John Cage (1966) beauftragt. Jimmy Smiths furiosen, entgrenzten Live-Auftritten folgt Körösi mit langen, oft tiefdunklen und häufig auch unscharfen Einstellungen, für die es damals im Sender Kritik und Häme gehagelt haben soll.

Die Schaulust seiner Kameraleute, die machen können, was sie wollen, ist grundlegend für alle folgenden Filme. Jedes Bild ist aufregend, keine Einstellung ist geplant, die Kadrage variabel, Zooms überbrücken weite Räume, immer wieder zeigen sie, was am schönsten war am Fernsehen: Gesichter. Sie leuchten. Dazwischen nimmt Wildenhahn ausführliche Gespräche über das Musikgeschäft und über den alltäglichen Rassismus auf, dem sich Smith und das Dizzy Gillespie Quintet ausgesetzt sehen. Bei John Cage gelingt es Wildenhahn durch die Begleitung einer Europa-Tournee, die Cage gemeinsam mit Merce Cunninghams Company nach Südfrankreich in die Fondation Maeght führt, den heiter-optimistischen Spirit des Avantgardisten zu porträtieren. Es geht aber auch um Anerkennung für eine künstlerische Methode, denn Cage ist Begründer der «Chance Music»; die Parallelen zum von Wildenhahn propagierten «Uncontrolled Cinema», wie das Direct Cinema auch genannt wird, sind evident.

«Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Ich musste an die Schwierigkeiten mit dem Aufbau denken. Cunningham hatte sein Trikot gewaschen und zum Trocknen aufgehängt. Tropf tropf, ging es die ganze Nacht. Ich bin so geräuschempfindlich. Es war wie chinesische Marter. Die Leute sagen, du propagierst Chaos und Zufall. Dann kann dir doch alles egal sein. Sie verstehen nicht, dass ich bei den Vorbereitungen sorgsam bin.»

Wildenhahns Voice-over ist immer präzise, konkretistisch, verdichtend, egal, ob es sich wie hier um eine Übersetzung, ein Zitat von John Cage, oder einen eigenen Kommentar handelt. In ihnen teilt sich viel deutlicher als in den Arbeiten der amerikanischen Vorbilder ein poetischer Wille zur intersubjektiven Expression mit; keine Spur dagegen von der vielzitierten unsichtbaren, dennoch virtuos einen vorfilmischen Raum prätendierenden fly on the wall.

Die neue Kamera- und Tontechnik ermöglicht Wildenhahn, den physischen Bewegungen zu folgen, Prozesse vollständig nachzuvollziehen. So entwickelt er aus einer teilnehmenden Beobachtung, die den eigenen Anteil an der Darstellung nicht verschweigt, eine reflexive Poetik der Arbeit, die ihren Ausgang ausgerechnet in der Kunst nimmt. Erst danach betritt er mit In der Fremde (1967) eine Baustelle in Norddeutschland und beobachtet die Anerkennungsverhältnisse, die Lohnarbeit produziert, zwischen Polier und Arbeiter, später zwischen Konzernen und Gewerkschaften (Emden geht nach USA, 1975/76, Stillegung. Oberhausen Mai-Juli ’87, 1987) oder Sender und Produzent (Der Mann mitder roten Nelke, 1974).

1965 meldet Egon Monk Interesse an Wildenhahn an, er will ihn zum Spielfilmregisseur ausbilden, Wildenhahn assistiert bei den Dreharbeiten zu Monks Ein Tag, dem ersten Spielfilm in Deutschland, der sich mit den Konzentrationslagern befasst. Monk ist Brecht-Assistent und Regisseur am Berliner Ensemble sowie nach Verlassen der DDR Rundfunkredakteur beim RIAS gewesen, bevor er 1960 Leiter des NDR-Fernsehspiels wird. Wildenhahn beharrt Monk gegenüber auf seiner dokumentarischen Methode und wird als Redakteur fest angestellt, mit dem Auftrag, jedes Jahr einen Film für das Erste Programm zu realisieren. Er ist zu nicht mehr verpflichtet, als den Verantwortlichen in der Redaktion kurz mitzuteilen, was er vorhat, keine Exposées, schon gar keine Drehbücher, eine DINA4-Seite genügt. Vorbereitende Recherchen gibt es nicht.

Die Bedingungen sind gut: für jeden Dreh stehen Wildenhahn ungefähr 25 Stunden 16 mm-Material, zwei Monate Drehzeit mit Kameraleuten seiner Wahl und weitere zwei Monate am Schneidetisch mit einer Cutterin des NDR zur Verfügung. Den Ton nimmt er selbst auf. Oft sieht man ihn in den Filmen kurz im Bild stehen, das Mikro in der Hand, ohne Kopfhörer, um ansprechbar zu bleiben. Von 1968-72 nimmt er immer wieder Urlaub, um an der zwei Jahre zuvor gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zu unterrichten. Hier gründet er mit Michael Busse die «Gruppe Wochenschau», der unter anderem Gisela Tuchtenhagen angehört. Gemeinsam und mit Unterstützung des NDR drehen sie Der Hamburger Aufstand Oktober 1923. Eine Wochenschau, hergestellt in Hamburg, März bis August 1971. Die für die Ausstrahlung im NDR 1989 angefertigte einteilige Fassung unter dem Titel Barmbek. Der Aufstand wird abgebrochen ist der einzige auf DVD vorliegende Film aus dieser produktiven Zeit. Er deutet eine neue Fragestellung in Wildenhahns Arbeit an. Wie lässt sich die Gegenwärtigkeit des Direct Cinema zur Vergangenheit in Beziehung setzen und eine komplexere Geschichtlichkeit vermitteln?

«Mai 1971, Hamburg. Wir stellten unsere ersten Fragen. Walter ist Rentner, Robert ist Gastwirt jetzt. Nur ein Bruchteil dieser Erinnerungen dringt zu uns, die wir heute fragen. Ein Bruchteil gemessen an ihren Erfahrungen. Wir wollen nach 1923 fragen. Aber um zu 1923 zu kommen, müssen wir zuerst noch einmal von 1933 hören. Kein Weg in die Vergangenheit führt an den Nazis vorbei.» (aus Barmbek, Der Aufstand wird abgebrochen)

Es geht um die Rekonstruktion der Niederschlagung eines kommunistischen Aufstands in Hamburg 1923, um dessen zeitgenössische Rezeption und heutige Bezeugung – und um eine gespenstische Kontinuität der Tabuisierung der kommunistischen Bewegung in der BRD. Es ist der Beginn einer essayistischen Form, die in der Drehmethode nicht von den früheren Filmen abweicht, das Material aber um zusätzliche Kommentare und Historiografisches, vor allem Fotografien, erweitert, gleichzeitig fragmentarischer wird, in langen Passagen Schauplätze der Geschichtsschreibung umkreist und so Veränderung und Fortdauern augenscheinlich werden lässt. Wildenhahn liest einen Text der sowjetischen Journalistin Larissa Reissner über Barmbek 1925, dazu montiert er Stadtbilder von 1971, eine simple, verständliche und deshalb effektive Technik, die nicht zuletzt die Aussagen der Zeitzeugen vom Individuell-Schicksalshaften der Oral History ablöst.

Geträumte Spielfilme

An der damaligen DFFB kann nebenbei auch Wildenhahns eigene Filmtheorie entstehen. «Über synthetischen und dokumentarischen Film. Zwölf Lesestunden» wird 1975 erstmals veröffentlicht, ist dann lange vergriffen und liegt nun als DVD-Bonusmaterial wieder vor. «Synthetische Filme greifen gesellschaftliches Material auf, das der Dokumentarfilm gefunden und veröffentlicht hat.» (S. 196, Frankfurt 1975) Der Spielfilm wird in Wildenhahns Vorstellung zur utopischen Form; die dokumentierten Verhältnisse sollen realistisch aufgenommen und mit den erzählerischen Mitteln des Spielfilms umgeschrieben werden können. Doch schon der erste von Wildenhahn geträumte Spielfilm bleibt Utopie, denn es wird nicht zu seiner Realisierung kommen. Gemeinsam mit Tuchtenhagen versucht er ab Mitte der 70er Jahre im NDR das Projekt «Vom dokumentarischen zum synthetischen Film» umzusetzen, vier Filme sind vorgesehen: zwei Dokumentarfilme, ein sogenannter poetischer Dokumentarfilm und schließlich ein Spielfilm. Aus den ursprünglich geplanten zwei Dokumentarfilmen wird ein Vierteiler mit dem Titel Emden gehtnachUSA, der die Basis der betrieblichen Gewerkschaftsarbeit, die IG-Metall-Vertrauensleute im VW-Werk Emden zum Gegenstand hat.

VW hatte das Werk 1964 eröffnet und war sofort zum größten Arbeitgeber in einer notorisch unter Arbeitslosigkeit leidenden Region geworden. Nun drohen Massenentlassungen, weil VW plant, ein Werk in den USA zu eröffnen, statt weiter von Emden aus zu exportieren. Uraufgeführt im Internationalen Forum des Jungen Films im Juli 1976 wird der erste Teil der Reihe (Abbauen. Abbauen.) mit einem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet, den die Intendanten von NDR und WDR jedoch lieber ablehnen würden; die Fernsehausstrahlung Ende 76/Anfang 77 provoziert heftige Reaktionen, bei der Lokalpresse, bei VW und nicht zuletzt der IG-Metall, die ihre offizielle Linie nicht korrekt dargestellt sieht. Der fünfte Film schließlich, der poetische Dokumentarfilm Im Norden das Meer. Im Westen der Fluss. Im Süden das Moor. Im Osten Vorurteile. Annäherung an eine norddeutsche Provinz, der die Situation der Arbeiter mit der Geschichte der Region Ostfriesland kontextualisiert, wird zum Politikum. Nach der Ausstrahlung am 30. Dezember 1977 in der ARD wird das Projekt vom NDR abgebrochen und nicht nur Wildenhahns Filmografie nimmt eine andere Wendung.

 

Im Norden das Meer, Im Westen der Fluß, Im Süden das Moor, Im Osten Vorurteile (1976/76)

© Absolut Medien

 

Bilder aus Ostfriesland

Formal ähnelt Im Norden das Meer … dem oben beschriebenen Verfahren, aktuelle Aufnahmen mit historischem Material zu montieren. Die im Titel angekündigte «Annäherung» impliziert eine Auseinandersetzung mit der Ostfriesland umgebenden Landschaft, die eine beispiellose Dichte von Konzentrationslagern aus der Anfangszeit des Dritten Reiches aufweist. Im KZ Börgermoor enstand 1933 das Gefangenenlied «Moorsoldaten» von Wolfgang Langhoff. In der Gedenkstätte des KZ Esterwegen filmen sie Jugendgruppen der IG-Metall, die dasselbe Lied singen.

Darauf folgt, am Beispiel von Fotografien und Texten aus lokalen Chroniken, die Geschichte der Kolonisierung der ostfriesischen Wildnis. Um drei Uhr morgens im Bus unterwegs zur Frühschicht spricht Wildenhahn mit Bandarbeitern, die unter den Arbeitsbedingungen leiden und doch eine Schließung des Emdener Werks befürchten, weil sie dann zum Geldverdienen wieder ins Ruhrgebiet gehen müssten. Am Mittag verlassen Arbeiter die Fabrik: ein surreales, an den Leichenzug in René Clairs Entr’acte erinnerndes Bild. Hunderte sprinten durch das Fabriktor, um die Busse rechtzeitig zu erreichen, die sie zurück auf die Dörfer bringen. Dort in ihren Eigenheimen treffen Tuchtenhagen und Wildenhahn die Vertrauensleute aus dem Werk. In im heutigen Fernsehen inexistent gewordener fließender und (phrasen-)freier Sprache legen sie die Interessenskonflikte dar, die zwischen ihnen und dem rasant sich globalisierenden Konzern entstehen. Der Film schließt in Sprockhövel, dem Bildungszentrum der IG-Metall im Ruhrgebiet, wo dreißig Vertrauensleute, darunter die Emdener Protagonisten, an einem Seminar teilnehmen.

Nach der Ausstrahlung kommt es zu massiven Protesten beim NDR, der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht droht mit der Aufkündigung des Rundfunkstaatsvertrages. Dieter Meichsner, Nachfolger von Egon Monk, programmiert für den Abend des 22. Januar 1978 eine Talkshow, in der sich die Autoren des Films verteidigen müssen gegen die besonders in der ostfriesischen Presse stattfindende und vermutlich mit gefälschten Leserbriefen unterstützte Kritik, die Tuchtenhagen und Wildenhahn mit demagogischem Pathos Lügen, marxistische Propaganda und Zynismus unterstellt.

«Wir vom Fernsehen wollen uns heute abend dieser Kritik stellen. Wir vom Fernsehen sind keine Halbgötter. Wenn es in der Bevölkerung gärt gegen uns, dann kneifen wir nicht.» (Anmoderation der Sendung vom 22.1.1978)

Anwesend sind je ein Presse-, Wirtschafts-und Tourismusfunktionär aus Ostfriesland, die ebenso wie der Öffentlichkeitssprecher der IG-Metall ihre Einwände gegen den Film vortragen dürfen; offensichtlich will man im Sender die verschiedenen Interessenverbände befrieden. Um den Eindruck einer paritätischen Besetzung zu erwecken, sind auch der Fernsehkritiker Manfred Delling und der Leiter der Volkshochschule Emden anwesend, die den Film verteidigen.

Es werden viele Zigaretten geraucht, mehr als eine halbe Stunde vergeht, bis Wildenhahn das erste Mal das Wort zu seiner Verteidigung erteilt wird. Obwohl verantwortlicher Produzent des zur Debatte stehenden Films, hält Dieter Meichsner über neunzig Minuten den Kopf gesenkt und sich selbst aus der ganzen Sache offensiv raus. Statt sich mit seinen Autoren zu solidarisieren, nutzt er «die Gelegenheit, nachzuweisen, dass wir nicht der unverrückbare Fels sind, der sich nicht rührt, wenn die Zuschauer sich wehren». Zum Schluss erfolgt die Ankündigung dass, «der NDR noch in diesem Jahr eine Produktion in das Gemeinschaftsprogramm einbringen wird, in dem das Bild Ostfrieslands in einer umfassenderen Weise dargestellt werden soll».

Nie wieder ist seitdem ein Film von Wildenhahn in der ARD gezeigt worden. Für ihn beginnt nun die Reise durch die Redaktionen des Dritten Programms, damals noch kein quotenfixiertes Provinzialitätsmedium. Am Ende arbeitet er für die Redaktion «Religion und Geschichte». Auf Dieter Meichsner folgt 1991 die im September 2009 über ihr Betrugssystem gestolperte und seitdem entlassene Seifenopern-Produzentin und Tantiemenschleicherin Doris J. Heinze. Von brechtscher Analytik zum Hardcore-Schwachsinn der ARD-Reihe «Wilde Herzen» sind es zwar ein paar Jahre, aber nur wenige Personalien. Statt einer profilierten Intellektuellen übernimmt eine gelernte Betriebswirtin aus der Filmförderszene einen der einflussreichsten Posten in der deutschen Film- und Fernsehproduktion. Das Verhältnis von Kino und Fernsehen, das für die Filmarbeit in Deutschland bestimmend ist, lässt sich von hier aus neu betrachten. Die wirtschaftliche Filmförderung hat nicht nur das Kino, seine Festivals und die Filmhochschulen, sondern auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen fest im Griff. Im Norden das Meer … ermöglicht am Beispiel der Lohnarbeit einem Grundkonflikt der kapitalistischen Ordnung die Anerkennung, weil der Film es sich erlaubt, den gesellschaftlichen Konsens entschieden in Frage zu stellen, ohne selbst eine Lösung, eine alternative Erzählung anzubieten. Unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit versucht das öffentlich-rechtliche Fernsehen und mit ihm das Kino, diese Infragestellung grundsätzlich auszuschließen.

Wildenhahn lässt sich für ein Jahr vom NDR beurlauben, über einen Kontakt kommt er beim Hörfunk des WDR unter. Von Köln aus entdeckt er das Ruhrgebiet, wo er im Laufe des folgenden Jahrzehnts zahlreiche Filme dreht und die ersten Jahre der Duisburger Filmwoche begleitet. Zunehmend schreiben sich autobiografische Aspekte in seine Filme ein. Frühes Spätwerk wenn man so will. Mit Ein Film für Bossack und Leacock erweist er seinen maßgeblichen Vorbildern Jerzy Bossack und Richard Leacock eine Reverenz und schließt an die Künstlerportraits der 60er Jahre an.

Nocheinmal HH4: Reeperbahn nebenan, eine Kompilation aus Kurzbeiträgen für die Hamburger Abendschau, wirkt wie ein Briefroman in Abschiedsbriefen, eine Rekapitulation des hier gelebten Lebens und der dabei gedrehten Filme. In Beziehung zu den Filmen der 70er gesehen, tritt aber vor allem Stillegung. Oberhausen Mai-Juli ’87 hervor. Ein weiteres Mal beschäftigt ihn hier der Arbeitskampf an der Basis der Gewerkschaften. Obwohl dieser erst in dramatischen Sitzungen endgültig verlorengeht, entsteht der Eindruck, dass er nie hätte gewonnen werden können. Die Stilllegung der Oberhausener Thyssen-Hüttenwerke ist beschlossene Sache, 5 900 Entlassungen folgen, Neukundschaft für den privaten Rundfunk, im Radio läuft Eros Ramazotti. Bis zu seiner Pensionierung 1995 arbeitet Wildenhahn weiter im NDR, dreht fast jedes Jahr einen Film. Sein Wunsch: dass mal jemand Einflussreiches die fatale Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems thematisiert, diesem «weltweit einmaligen Geschenk der Alliierten».

Die DVD-Box Klaus Wildenhahn Dokumentarist im Fernsehen 14 Filme 1965-1991 ist bei Absolut Medien erschienen