serien 2010

Aus dem Bleistiftgebiet Die Verschwörungsserie Rubicon reagiert mit Entschleunigung und Erkenntnisskepsis auf das Erbe der Bush-Ära

Von Simon Rothöhler

Rubicon

© AMC

 

In den Büroräumen des «American Policy Institute» sieht es aus wie in einem idealtypisch unaufgeräumten Dozentenzimmer einer Ivy League Universität, Abteilung Erkenntnistheorie. Romantische Denkräume, Rückzugshöhlen für bookish people. Vor lauter Bücherbergen, Aktenstapeln, Zettellandschaften zeigt sich die technologische Infrastruktur nicht mehr. Keine Computer, keine Screens, sondern eine materialnah in Szene gesetzte Textur aus Papierbögen und Bleistiftspuren prägt dieses Innenleben einer Institution, deren Hauptquartier in Lower Manhattan liegt, vom East River nur durch den stets präsenten Verkehr des FDR Drive getrennt. Drinnen blättert, raschelt, knistert es; kaum einmal drängen sich akustische Signale der digitalen Gegenwart in den Vordergrund.

Und dennoch ist dieser Raum, der sich nur durch ein äußerst diskretes «API»-Schild zur Stadt hin ausweist, nicht einfach aus der Zeit gefallen, sondern vielschichtig historisch rückgebunden. Zunächst einmal als direkter Nachfahre oder Wiedergänger einer filmgeschichtlich kanonisierten Dienststelle, der «American Literary Historical Society». Robert Redford hat in den 70ern dort gearbeitet, bis Max von Sydow reinschneite und das Personal ausradieren ließ. Redford war zu dem Zeitpunkt gerade beim Bäcker, weshalb er das Massaker überlebte und später Faye Dunaway fesseln durfte. Three Days of the Condor (1975) heißt dieser Film, in dem ein unscheinbares New Yorker Townhouse eine klandestine staatliche Denkfabrik be-herbergt. Ein Film, in dem intelligence tatsächlich von Intellektuellen prozessiert wird.

The Enemy Within

Der Bezug auf (New) Hollywoods Paranoia-Klassiker von Pollack bis Pakula ist bei der gerade erst zu Ende ausgestrahlten AMC-Serie Rubicon weder äußerliche Reverenz, noch bloße Ausstattungsidee, sondern programmatisch verdichtet. Ein semiotischer Umweg, mit dem sich hegemoniale Gegenwartsbilder distanzieren lassen. Es ist vor allem die erst stilprägende, dann rasant redundant gewordene Fox-Serie 24, die Rubicon von den ersten Minuten an als zu unterlaufende Gegenfolie evoziert. Die kommunikations- und waffentechnologisch hochgerüstete Welt der Counter Terrorist Unit (CTU), in der satellitengestützte Instant-Aufklärung post-demokratischen Dauerinterventionismus provoziert, ist unter anderem raumästhetischer Antipode: Wo Rubicon eine emphatische New York City- und on-location-Serie ist, der urbane Sound in fast jedes Bild dringt, operiert die Speed-Dramaturgie von 24 immer mit einer Studiodreh-basierten Idee von virtueller Globalität, die dann allerdings praktischerweise immer wieder im entscheidenden Moment von Jack Bauer lokal eingeholt werden kann. Der unterstellte Ausnahmezustand mag qualitativ neu sein, die auf ihn reagierende Action ist eher konventionell inszeniert. Nicht zufällig ist neben dem CTU-Telefonläuten, das man auch heute noch jeden Tag in Berliner U-Bahnen als Handyklingelton vernehmen kann, vor allem Bauers zentraler Eskalationssatz erinnerlich: «I need a chopper. Now!».

Um das Rezeptionsvergnügen einschränkende Spoiler weitestgehend zu vermeiden und dennoch zu sagen, worum es eigentlich geht: Rubicon ist eine hubschrauberfreie Post-9/11-Verschwörungsserie, die von einem bundesstaatlichen Think Tank erzählt, der das Aufklärungsmaterial anderer Dienste gegenliest und intelligibel zu machen versucht. Ein Ort der Reevaluierung und Reflexion, an dem Codes dechiffriert und Verbindungen hergestellt werden. Eine institutionelle Praxis, die Kontobewegungen nachvollzieht, Netzwerke offen legt und probabilistische Szenarien entwirft.

Die Erzählung setzt mit einer Störung der Entzifferungsroutinen ein und entfaltet schnell – auch über einen zunächst getrennt etablierten Erzählstrang, der vom rätselhaften Selbstmord eines sehr wohlhabenden Unternehmers handelt – die Grundzüge einer Konspiration, die weit in den Apparat der Aufklärung hineinreicht. Nicht zuletzt diese Bewegung ist ein Topos in institutionskritischen Filmen wie The Parallax View (1974), dem pessimistischen Meisterwerk des Genres. Das feindliche Außen als stabiles Gegenüber eines um Transparenz bemühten staatlichen Innen kollabiert, eine spiralförmige dramatische Dynamik fräst sich ins Zentrum der Institution und höhlt ihre Handlungslegitimität aus; the enemy ist, natürlich, within.

Sog der Slowness

In der Seherfahrung ist Rubicon eine völlig immersive Serie, nachhaltig spannend wie wenig, was im amerikanischen «Qualitätsfernsehen» der letzten Jahre zu sehen war. Gleichzeitig ist sie ein faszinierendes erzähltheoretisches Experiment, eine Zerreißprobe in Sachen Slow, eine Konzeptserie, die auszuloten versteht, wie weit sich erzählerische Konstruktionen von Spannung entschleunigen lassen, ohne völlig in eine bloße Metaübung umzuschlagen, die den Primäreffekt zwar reflexiv einholt, aber nicht mehr erzeugen kann. Der narrative Spezialeffekt der Serie ist hier gerade kein besonderer Moment, der den Zuschauer die schiere Smartheit einer erzählerischen Volte genießen lässt, sondern eher eine die ganze Staffel umfassende Dehnübung. Es geht um die Koppelung von Sogwirkung und Slowness, um den Nullpunkt der Spannung, der immer noch vor allem eines ist: spannend.

«You need to be able to put the brakes on the conspiracy story. If you can’t put the brakes on the conspiracy story it will lead you and it will lead you badly», fasst Showrunner Henry Bromwell – der u.a. für David Simons Homicide: Life on the Street und für Brotherhood Drehbücher geschrieben hat und Rubicon in zentraler Verantwortung übernahm, nachdem Creator Jason Horwitch wegen Differenzen mit AMC aufgab – sein dramaturgisches Axiom. Dass Rubicon von Menschen erzählt, die denken und zum Handeln – beruflich wie privat – eher gezwungen werden müssen, ist der innere Begründungszusammenhang für ein Dramaturgiemodell, das sich signifikant auch von innovativen seriellen Standards entfernt. Selbst in den großen nicht-episodisch gebauten Longue-durée-Serien der letzten Jahre wie The Wire war die kontinuierliche Erzählbewegung durch medien- sprich: fernsehspezifische Wiederholungselemente strukturiert. Mit anderen Worten: Es gab multiple Einstiegspunkte, man musste nicht jedes Detail jeder Folge gesehen und memoriert haben, um in dieser Welt als Zuschauer zurechtzukommen.

Bei Rubicon gilt jedoch die streng durchgehaltene Regel: Wer ein sekundenkurz gezeigtes Kleeblatt verpasst, wird ziemlich lang nur Bahnhof verstehen. Dass AMC mit dieser Serie an die Grenzen der eigenen Experimentierfreude geraten zu sein scheint und inzwischen wohl unwiderruflich von einer zweiten Season Abstand genommen hat, ist neben den relativ bescheidenen (aber respektablen) Quoten der Erstausstrahlung wohl vor allem damit zu erklären, dass unklar war, wie eine Fortsetzung neue Zuschauer ohne gut sortiertes Vorwissen binden soll. Zumal, wenn den bereits gewonnenen Anhängern keine Tabula rasa im Stil von 24 zuzumuten ist, wo die Verschwörung in jeder Staffel wieder erinnerungslos von neuem bearbeitet wird.

Monadische Individuen

Nicht das eigenlogische Erzähltempo macht Rubicon zur Kino-Serie par excellence, sondern die konsequent umgesetzte Idee einer dramatischen Kontinuität, die sich über dreizehn Episoden und fast zehn Stunden Erzählzeit ohne Infosammelbecken für Späteinsteiger entfaltet. Zudem stehen hier auch einige bildästhetische Signale – etwa die häufig lange Einstellungsdauer und die relative Präferenz für den medium-wide shot – auf «Kino», wobei in dem dezent ausgewaschenen rough look eben auch ein filmhistorisches Bildkorpus mitschwingt. Der motivisch stellenweise explizite Rekurs auf die Paranoia-Filme der 70er Jahre adressiert hier nicht nur den Connoisseur, bleibt nicht bloßer Zitatmodus, sondern öffnet mediale Resonanzräume und dockt an das politische Bildgedächtnis einer weiter zurückreichenden demokratischen Krise an.

Oft sitzen die Protagonisten im Halbdunkel und starren gedankenverloren auf den South Street Seaport, auf ihre mikrogrammatischen Notizen, ins Leere. Leuten beim Nachdenken zuschauen zu müssen klingt monoton, ist es hier aber nicht, weil es stets genug zum Mitdenken gibt und man schnell begreift, dass kleinste Denkbewegungen komplexe Neusortierungen der konspirativen Topografie zeitigen können. Zu dieser kammerspielartigen Intensität, die von einem feinmodulierten Minimal-Score tonästhetisch akzentuiert wird, tragen natürlich auch die Figuren bei, die alle ziemlich komplizierte, zur Introspektion neigende Charaktere sind, ohne ihre Kompliziertheit als konventionellen dramatischen Mehrwert nach außen zu kehren – etwa in der beliebten Form der «moralischen Ambivalenz» (ein Manöver, von dem selbst brillante Serien wie Breaking Bad noch relativ unreflektierten Gebrauch machen).

Der verschlossene Analyst und Held der Handlung Will Travers (James Badge Bale: ja, er war Chase Edmunds in 24, dort allerdings mit militärischer Kurzhaarfrisur und ohne Wittgenstein in der Ledertasche), der intellektuell wie modisch flamboyante Kale Ingram (Arliss Howard), der bis zur letzten Sekunde genauso unausrechenbar bleibt wie die übergeordnete Motivlage von Truxton Spangler (Dramatiker und Pulitzer-Preisträger Michael Christofer, der heimliche Star der Serie, mit einer unvergesslichen Melodie in der Stimme) – sie alle machen immer wieder zu, geben Rätsel auf, sind sich selber eines. Als monadische Individuen, die Identifikationsmomente abwechselnd zulassen und verunmöglichen, stehen sie einem Verschwörungsplot gegenüber, der sie als eigenrechtliche Charaktere nie hinwegspült: Sie sind die «brakes», von denen Bromwell spricht, schieben aber als Ensemble beim Ausbremsen immer zugleich auch was Anderes, Neues an.

Alternative Geografie

Während 24 als phantasmatisch aufgeladene Serienfiktion auf die Bush-Rhetorik des globalen War on Terror reagierte (und in der drastischen Ausbuchstabierung einer Ära, die durch die Anschläge auf das World Trade Center und die Patriot Act-Gesetzgebung, insbesondere der Aufhebung des Habeas Corpus-Grundsatzes historisch markiert ist, vielleicht sogar ein nicht-affirmatives Moment freisetzte), verweist der gegenwartsdiagnostische Index von Rubicon auf das daraus resultierende Erbproblem der Generation Obama, die realiter schon wieder dabei ist, in Resignation zurückzusinken. Die tiefgreifenden Flurschäden des staatlich gebilligten Gegenterrors werden in der achten Episode von Rubicon («Caught in the Suck») denn auch konkret zum Thema gemacht, als die beiden labilsten Mitglieder aus Travers’ Team von höherrangigen CIA-Agenten in eine «classified location» dienstverpflichtet werden. Nach einem dreizehnstündigen Flug sehen sich der hochintelligente wie hypernervöse Miles Fiedler (auch toll: Dallas Roberts) und Tanya MacGaffin (Laura Hodges; wie leider oft, investiert auch Rubicon in die weiblichen Figuren weniger Drehbuchintelligenz), die noch ihr gegenkulturelles Nachtclub-Outfit trägt, einer schwer erträglichen Folterverhörpraxis gegenüber, womit der Entkoppelung von Reflexionskompetenz und Entscheidungshandeln eine Grenze gesetzt ist.

Von einer «alternativen Geografie der Vereinigten Staaten» sprach die Washington Post in einem diesen Sommer veröffentlichten Dossier, das in zweijähriger Recherche entstanden war und den Versuch darstellt, die unter George W. Bush völlig aus dem Ruder gelaufene Welt der mehr oder weniger geheimen Dienste zu überblicken. Die Journalisten fanden 1271 Regierungsorganisationen und 1931 private Unternehmen, die auf den Feldern «Homeland Security» und «Counter Terrorism» tätig sind und ein Budget beanspruchen, das seit dem September 2001 um das zwanzigfache, auf 75 Milliarden Dollar pro Jahr gestiegen ist. Dass der legitimitätstheoretische Rubikon in dieser chaotisch verflochtenen Sphäre unwiderruflich übertreten ist, wäre mit Blick auf die amerikanische Demokratie eine deprimierende Einschätzung, für die es gute Gründe gibt. Rubicon erschöpft sich auf dieser Ebene aber gerade nicht in der letztlich bequemen Konstatierung einer allumfassenden Konspiration als Symptom einer weitflächig korrumpierten Landschaft nur noch formal demokratischer Institutionen, sondern behält auch deren ursprünglich legitime Rationalitätskerne im Blick – wenn auch in einem historischen Moment ihrer Preisgabe.

In Rubicon gründet das effiziente Gelingen der Verschwörung nicht zuletzt in der politisch geschaffenen Unübersichtlichkeit dieser «hidden world» (Washington Post), auch wenn die jüngste Hysterie um die nationale Sicherheit aus Sicht der konspirativen Akteure letztlich nur eine austauschbare Kulisse für ein sehr viel älteres Spiel darstellt. Das geheimbündische Züge tragende Old Boys Network war schon lange vorher installiert, eine Frage des Stalles, aus dem man kommt, vielleicht sogar eines hochcodierten politisch-moralischen Elitismus, dem eine Ideologie des «greater good» anhängt (hier, bei diesen im Finale offen gelassenen Optionen eines Reframings der Konspiration, hätte wohl die zweite Staffel angesetzt). Will Travers, beiläufig etabliert als unmittelbares 9/11-Opfer ohne traumatisch grundierten Revanchismus, reagiert auf die versteckten Welten der Dienste und des alten Geldes zwar mit einer Erkenntnisskepsis, die an Melancholie grenzt, verzichtet aber doch nicht auf die hermeneutische Praxis des Spurenlesens, den Anspruch kritischen Deutens. Deshalb ist er ja schließlich auch Analyst, Decodierer, Aufklärer geworden: «There’s always a pattern.»

 

Rubicon

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