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Episode Perry Mason: «The Case of the Jaded joker» / «The Case of the Lost Arct»

Von Hanns Zischler

Als Ende der 50er Jahre in den USA für das neue Massenmedium Television ein Featureformat von knapp 45 Minuten erfunden wurde, verzichteten die Produzenten erstaunlicherweise auf den Einsatz technisch ausgereifter elektronischer Kameras, sondern bedienten sich der Technik des 35 mm-Schwarz-Weiß-Films. Ausdrücklich und fast stolz wird in jedem Abspann der Perry-Mason-Serie vermerkt, dass der Fernsehbeitrag «in den Studios von Hollywood gefilmt» wurde.

Der hohe technische Standard der Bilder – er kann paradoxerweise erst heute auf DVD bzw. Blu-ray hinreichend gewürdigt werden – musste für eine Betrachtertotale eingesetzt werden, für die es kein Vorbild gab. Das Projektions- bzw. Emissionsformat des Fernsehschirms lag ziemlich genau in der Mitte zwischen den Comics (der Tageszeitungen) und der Kinoleinwand.

Der close-up en miniature trat auf den Plan – und ließ die gefilmten Köpfe ungefähr ebenso groß erscheinen wie die der Zuschauer vor dem Apparat. Man befand sich, um das mittlerweile überstrapazierte Bild heranzuziehen, «auf gleicher Augenhöhe» mit den Protagonisten hinter den Spiegeln. Gegenüber dem traditionellen Comicbild ein enormer Fortschritt, eine gigantische Bildsteigerung.

Tatsächlich ist es angemessener, diese TV-Serien mehr als eine sehenswerte Katalyse des Comics denn als Film zu lesen. Die Autoren dünnten die textlastigen Comicvorbilder aus, während die Regisseure und Editoren das Kunststück fertigbrachten, die Reste einer Film-noir-Ästhetik auf den Bildschirm zu implantieren – mit unvermeidlichen Verlusten im Text- wie im Bildbereich. Doch ist nach wie vor beeindruckend, wie gut dieser neue Typus der TV-Erzählung auch heute noch funktioniert. Bezeichnenderweise hat dies neben den stärker und häufiger eingesetzten Großaufnahmen – Totalen dienen lediglich als Bildflächen für dramatische Musikstenogramme – auch mit der schieren Länge (45 Minuten), mit anderen Worten mit der Physiologie der Wahrnehmung zu tun: der Blick in die Glühlampe (und die Braunsche Röhre ist ja nichts anderes) ermüdet den Betrachter sehr viel mehr als die hypnotische Hingabe an die lichtvolle große Projektion.

Milieu: Tweed, Tailleur und Fantasy

Die Mehrzahl der Fälle, die der Strafverteidiger Perry Mason zu lösen hat, spielen in der gehobenen Mittelklasse (und darüber). Mit großer Sorgfalt und gewiefter Rasanz werden die Einrichtungen, die Kostüme und die Sprache der Protagonisten dem Raster dieses Milieus angepasst. Mason trägt fast immer dunkle Anzüge, der mit ihm assoziierte Privatdetektiv Paul Drake hellen Tweed oder, mit einem Anflug verwegener Devianz, Wildseide, während die Damen in korrekt geschneiderten, dezenten Kostümen auftreten, durchgehend fabelhaft geschminkt sind und nur in wenigen Fällen sich zu modischen Frechheiten hinreißen lassen. Der Fall einer solchen, aus dem Kostümkanon herausragenden Extravaganz ist Joanne Gilbert, die in The Case of the Lost Last Act die Geliebte eines zwielichtigen Drehbuchautors spielt. Sie trägt über einem hellen, seidenen Hosenanzug ein bodenlanges, weißes Tüll-Negligé. Ein Textil, das in diesem Zuschnitt sie zu einer Unberührbaren, zu einer falschen Braut macht. Sie stellt, im Sinn der herkömmlichen Modestrategien, nicht ihre Reize aus, sondern die Mode (enger, körperbetonter Hosenanzug) unter der Reizwäsche. Dieses Kostüm kontrastiert auffällig mit dem Kostüm ihres älteren Freundes, dem sie in Untreue ergeben ist, trägt dieser doch – ein sehr seltener Fall in Perry Mason – ein kariertes Hemd ohne Krawatte, wodurch er sofort stigmatisiert ist.

In einem anderen, sehr bemerkenswerten Fall The Case of the Jaded Joker verlässt die Serie das Milieu (und die damit assoziierte Mode) und taucht in das nach herkömmlichen Standards leicht zwielichtige Milieu der Entertainer ein. Zu den Freunden eines Solokabarettisten gehört ein mit existenzialistischen Accessoires ausgestatteter Beatnik namens Buzzie (Zigarette im Mundwinkel, schmaler Bart à la française, Pullover), der entweder schweigt oder ohne Rücksicht auf Gäste auf dem Flügel so hochbegabt klimpert, als wäre George Shearing sein Lehrer. Er verkehrt in einer finsteren, verrauchten Kneipe («Spelunke» wäre das Wort aus der Stummfilmzeit dafür). Als Perry, der in diesem Milieu in jeder Hinsicht over-dressed wirkt, Buzzie zum Reden bringt, werden wir Zeuge der seltenen Begegnung zweier Kulturen bzw. Diskurse, die in den späten 50er Jahre in den USA an der Tagesordnung waren und in der Regel einander ausschlossen. Buzzie hebt zu einem melancholischen Monolog in freien Rhythmen an: «The cool ones take the tail out of their faces/The lost tribe of rejects …» . Es klingt wie Ginsberg, und ist, weil von Earl Stanley Gardner, eine perfekte Parodie. (Und, weil Parodie, auch eine kleine Reverenz an die Beatniks). Es ist eine der ganz wenigen Szenen, wo Perry Mason nur noch die Façon wahrt, aber nicht mehr weiß, welches Facework in diesem Milieu auch nur andeutungsweise angemessen wäre.

Abraham Lincoln

Masons Diskurs hingegen bewegt sich in dem riesigen Text des Corpus Iuris Secundum, jener Sammlung von amerikanischen Rechtsfällen, die bis heute die Grundlage der Rechtssprechung ist. Drei dieser Bände sind in jedem Vorspann zu sehen.

Das geheime Vorbild für Masons makellose Auftritte und seine bezwingende Rhetorik ist niemand anderer als Abraham Lincoln. Wie dieser ist er unkorrumpierbar und (fast) unfehlbar. Dies hat aber auch zur Folge, dass sein Widersacher vor Gericht, vor allem Staatsanwalt Tragg, als ein sehr bescheidenes Licht bezeichnet werden muss. Diese etwas einseitige Rollenverteilung hat die Staatsanwaltschaft von Kalifornien in den 60er Jahren veranlasst, Perry Mason als dem Rechtsgedanken abträglich zu bezeichnen, während die Vereinigung der Rechtsanwälte in Perry Mason einen Hoffnungsträger sah, der Justizirrtümer vermeiden und den Glauben an die letzten Endes erweisliche Unschuld stärken helfe.

Containment

Perry Masons Welt ist beschaffen wie sein Büro. Immer aufgeräumt, mit wenig Schmuck an den Wänden und immer einsatzfähig. Schwarz-Weiß, wie sich eine funktionierende Gesellschaft in den Grafiken Otto von Neuraths abgebildet sah. Das Verbrechen ist zwar allgegenwärtig, aber bezwingbar. Ähnlich wie seinerzeit die Vorstellung vom Kommunismus als der Bär unter jedermanns Bett.

Erstaunlich bleibt, dass die unverhohlene Idealisierung des Anwaltsberufes, der, um es milde auszudrücken, mittlerweile erheblich an Glanz eingebüßt hat, auf einem rhetorisch derart hohen Niveau hat etabliert werden können.

In Perry Mason wird sehr viel und extrem argumentativ gesprochen, es gibt nur selten Abschweifungen in Smalltalk und Hintergrundspsychologie. Die heute für die Serien unverzichtbare und immer verblüffender eingesetzte Dramaturgie der action – ganz zu schweigen von der extremen Ausdehnung der Milieus und der Verbrechensformen – fehlt bei Perry Mason vollständig. Ein Mord wird nicht gezeigt, sondern hat stattgefunden. Die Allgegenwart der Gier ist wahrscheinlich die einzige Konstante in den TV-Serien von den 50er Jahren bis heute. Der rettende Engel aber ist verschwunden. Wie man in der überwältigenden TV-Serie The Shield sieht, schlägt das Herz des Verbrechens jetzt in einer gewaltdurchsetzten Polizei.

 

Perry Mason, The Case of the Jaded Joker (Erstausstrahlung 21. Februar 1959) und The Case of the Lost Last Act (Erstausstrahlung 21. März 1959)