dokumentarfilm

Vergessene Kriege Über Vapor Trail (Clark) von John Gianvito und neuere filmische Arbeiten, die sich mit der Kolonisierung der Philippinen beschäftigen

Von Lukas Foerster

Zunächst hat John Gianvito eher Filme gezeigt, als selbst gedreht. In den Jahren nach seinem Abschluss in Film/Video am California Institute for the Arts arbeitete er hauptsächlich kuratorisch – unter anderem für das Harvard Film Archive – und als Dozent an verschiedenen Universitäten. Eigene Filme dreht er zwar schon seit den frühen 80er Jahren, das Frühwerk (The Flowerof Pain, 1983; Address Unknown, 1986; What Nobody Saw, 1990) ist allerdings fast komplett unsichtbar. Drei sehr unterschiedliche Projekte aus den letzten zehn Jahren haben deutlich mehr Aufmerksamkeit erregt, für nicht wenige ist Gianvito durch sie zu einer der zentralen Figuren des unabhängigen amerikanischen Kinos geworden.

2001 veröffentlichte er den Spielfilm The Mad Songs of Fernanda Hussein, dessen Vorbereitung große Teile der 90er in Anspruch genommen hatte. Ein wütendes, verzweifeltes, überlanges Panorama Amerikas während des ersten Irakkriegs. Das klassische Erzählkino kollabiert hier in der Konfrontation mit delirierenden Erinnerungsbildern. 2007 folgte das bislang bekannteste Werk Profit Motive and the Whispering Wind. Der Essayfilm nahm seinen Ausgang bei dem geschichtswissenschaftlichen Großwerk des Historikers Howard Zinn, A People’s History of the United States. Gianvito filmt Gräber von Aktivisten, Gewerkschaftsführern, Bürgerrechtlern aus mehreren Jahrhunderten amerikanischer Gegengeschichte und überführt die steinernen Zeichen von Widerstand und Niederlage in ein revolutionäres Traktat ganz eigener Art. John Gianvitos Filme ähneln sich zwar in ihren ideologischen Grundhaltungen und man merkt allen Arbeiten an, dass der Regisseur selbst von der Friedensbewegung der 70er und 80er Jahre geprägt wurde. Seine Hauptwerke beschäftigen sich mit der Frage, wie politische Handlungsmacht in der Auseinandersetzung mit verdrängter, unsichtbarer – oder, im Fall von Mad Songs: allgegenwärtiger, aber durch massenmediale Klischees dem Blick wieder entzogener – Geschichte entstehen kann. Gleichzeitig handelt aber jeder Film das Verhältnis zu Politik, Geschichte und zur Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit von Erinnerung wieder vollkommen neu aus.

 

Vapor Trail (Clark)

© John Gianvito

 

Sperriger Aktivismus

Vapor Trail (Clark) (2010), Gianvitos aktueller Film, entstand aus der Begegnung des Regisseurs mit einem Ort. Als John Gianvito 2006 zum ersten Mal auf die Philippinen reiste, hatte er eigentlich vor, für ein bislang noch unrealisiertes Spielfilmprojekt zu recherchieren. Schon nach wenigen Tagen im Land brach er diese erste Recherche ab und begann mit einer neuen. Das erste Ergebnis dieser Recherchen ist ein Dokumentarfilm, der sich mit den Umweltschäden beschäftigt, die amerikanische Militärbasen auf den Philippinen nach dem Abzug der Soldaten hinterlassen haben. Nicht nur sind große Areale langfristig unfruchtbar geworden, vor allem gelangten Giftstoffe in das Grundwasser. Die lokale Bevölkerung wurde nicht über die Gefahren aufgeklärt, zahlreiche Fehlgeburten, Missbildungen und schwere, teils tödliche Krankheiten waren – und sind; die Gifte haben eine hohe Halbwertszeit – die Folge. Hilfe für die Betroffenen leisten weder die amerikanische Regierung, die bislang selbst die Existenz des Problems leugnet, noch der philippinische Staat, der auf die Verantwortung der US-Armee verweist, aber wenig dafür tut, diese auch einzuklagen.

Vapor Trail (Clark) ist nun in mancher Hinsicht das bisher ehrgeizigste Projekt Gianvitos. Mit den beiden Vorgängern teilt der neue Film das Paradox eines aktivistischen Gestus, dessen sperrige Ausformulierung eine Instrumentalisierung für politische Agitation eigentlich von Anfang an ausschließt. Schon die Länge des Films – beinahe viereinhalb Stunden – dürfte ihn für das Abendprogramm von Attac-Veranstaltungen u.ä. disqualifizieren. Auch andere Aspekte des Films sind mit starken Vermittlungsideen inkompatibel. Nicht nur das Ergebnis der Recherche, auch die Recherche selbst bleibt in Vapor Trail (Clark) sichtbar: als Bewegung, als eine Folge von Begegnungen und als Selbstinvolvierung. Gianvitos Film sammelt, anstatt zu ordnen, greift aus, anstatt zu verdichten. Die unterschiedlichen Materialien – Gespräche, Naturimpressionen, historisches Bild- und Videomaterial, literarische Zitate – stehen oft unbehauen nebeneinander. Die Interviews mit Betroffenen und Aktivisten, die große Teile des Films einnehmen, sind weder stark durch Fragen gesteuert, noch werden sie hinterher im Schnitt gewaltsam in größere Argumentationsketten eingepasst. Eine zentrale Szene ist der ungeschnittene Monolog einer älteren Intellektuellen, die in einer guten Viertelstunde ihre Lebensgeschichte als politische Erziehung des Herzens ausbreitet und dabei eine Kontinuität herstellt vom Widerstand gegen die Marcos-Diktatur (1972-1986) zu den gegenwärtigen Protesten gegen die Umweltverbrechen.Von konventionelleren dokumentarischen Formen entfernt Vapor Trail (Clark) jedoch vor allem Gianvitos Entscheidung, die Recherche in der Gegenwart um eine Chronik des Philippinisch-Amerikanischen Kriegs zu ergänzen, der von 1899-1902, auf einigen Gebieten des Inselstaats sogar bis 1919 stattfand und in mehreren Jahrzehnten amerikanischer Kolonialherrschaft resultierte. Zwar ist diese Bezugnahme durchaus naheliegend. Aber es geht Gianvito weniger (wenngleich sicher auch) um die Behauptung einer Kontinuität imperialistischer Politik, sondern vor allem um eine Kontinuität des Vergessens. Weniger um eine Verbindungslinie, denn um ihre Brüche.Im Jahr 1900 machte Mark Twain bei jeder Gelegenheit seinen Abscheu gegen den amerikanischen Eintritt in den Kolonialisierungswettlauf öffentlich. Von seinen Zeitgenossen wurde der Konflikt wahrgenommen, diskutiert, kritisiert. Das Vergessen begann allerdings bereits, als die Kämpfe noch im Gang waren.

Offiziell war der Krieg zwar nach drei Jahren vorbei, in einigen Bereichen des Inselstaats, vor allem im muslimisch geprägten Süden des Landes, den schon die Spanier nie vollkommen unter ihre Kontrolle bringen konnten, hielten die Rebellen jedoch bis 1918 durch. Die von Twain mitbegründete «American Anti-Imperialist League» hatte zu diesem Zeitpunkt bereits jegliche Bedeutung verloren. Heute taucht der Philippinisch-Amerikanische Krieg in Schulbüchern höchstens als zu vernachlässigender Wurmfortsatz des primär um Kuba ausgefochtenen Spanisch-Amerikanischen Kriegs 1898 auf. Die Sieger schreiben nicht einfach nur die Geschichte; vor allem kontrollieren sie, was in sie eingeht und was nicht.Die Filmgeschichte vollzog diese Bewegung nach. Das frühe Kino produzierte wie selbstverständlich jede Menge Newsreels über die Ereignisse: amerikanische Truppen schiffen sich ein, amerikanische Truppen landen auf den Philippinen, amerikanische Truppen in der Schlacht, Alltagsbilder aus den Philippinen und so weiter. Doch der Bilderfluss versiegt rasch. Henry Hathaways The Real Glory (1939), ein technisch herausragender, schamlos kolonialistischer Abenteuerfilm, in dem Gary Cooper eine muslimische Revolte niederschlägt, blieb lange der einzige größere amerikanische Film, der zumindest die Existenz des Konflikts anerkannte (gewidmet ist der Film perfiderweise «those heroic men – members of the Philippine Constabulatory – who ‹always outnumbered – never outfought› – struggled valiantly to wrest their independence from forces that sought to enslave them»; gemeint sind selbstverständlich nicht die Rebellen, sondern die Kollaborateure).

Gegen-Reenactments

Auch in der philippinischen Filmgeschichte war, zahlreichen romantisierenden Darstellungen des Widerstands gegen die spanischen Kolonisatoren zum Trotz, die Fortsetzung des Unabhängigkeitskrieges als Kampf gegen die amerikanischen Besatzer meist ein blinder Fleck. Erst gut hundert Jahre und eine gesamte Filmgeschichte später beginnt sich dies zu ändern. Durch einen sonderbaren Zufall, der höchstwahrscheinlich keiner ist, sind in den letzten Jahren in beiden Kinematografien gleich mehrere außergewöhnliche Filme entstanden, die sowohl den Kolonialkrieg als auch dessen Unsichtbarkeit im öffentlichen Diskurs thematisieren.Die meiste Aufmerksamkeit wird aller Wahrscheinlichkeit ein Film auf sich ziehen, der erst dieses Jahr auf dem Cinemalaya, dem wichtigsten philippinischen Festival, Premiere feierte: Amigo, der neue und dem Vernehmen nach eher misslungene Film von John Sayles, sucht im Philippinisch-Amerikanischen Krieg wohl in erster Linie Parallelen zu aktuellen Konflikten in Afghanistan und im Irak. (Sayles’ großer Roman zum selben Thema, A Moment in the Sun, erscheint im nächsten Jahr bei McSweeney’s.)

Interessanter sind Filme, die nicht auf antiimperialistische Gemeinplätze, sondern auf konkrete geschichtspolitische Interventionen hinaus wollen. Memories of a Forgotten War (2001), ein Dokumentarfilm, an dem die in den USA lebende Exil-Filippina Sari Raissa Lluch Dalena und die Wissenschaftlerin Camilla Benolirao Criggers gemeinsam arbeiteten, trägt sein Programm bereits im paradoxen Titel. Sein Abspann ist unterlegt mit Interviews, die die Ahnungslosigkeit sowohl amerikanischer als auch philippinischer Passanten über die gemeinsame Geschichte aufdecken. Der Film selbst kombiniert collageartig historisches Bildmaterial – darunter auch propagandistische Reenactments, die die US-Regierung bei Thomas Edison in Auftrag gegeben hatte – mit selbst produzierten Gegenbildern, Gegen-Reenactments, zum Beispiel von Massakern der amerikanischen Truppen an der Zivilbevölkerung. Das etwas dick aufgetragene Pathos dieser Szenen kann man dem Film kaum übelnehmen, schließlich speist es sich aus hundert Jahren verdrängter Geschichte. Gianvitos Film setzt an dieser Stelle auf das Pathos der Lücke. Wo Bilder (historisch) fehlen, lässt er die Leinwand schwarz.

 

 

Independencia (2009)

© Memento Films International

 

Der Regisseur, der sich zur Zeit am intensivsten mit dem kolonialen Erbe der philippinischen Geschichte auseinander setzt, ist der 26-jährige Filippino Raya Martin. Martin verlässt sehr dezidiert dokumentarische Anordnungen und transformiert das Paradox einer Erinnerung an etwas Vergessenes in ein Problem der Ästhetik, auf das jeder seiner im weiteren Sinne historischen Filme eine neue Lösung vorschlägt. Neben Autohystoria (2008), einer experimentellen Reflexion auf die Hinrichtung des philippinischen Unabhängigkeitskämpfers und Nationalhelden Andrés Bonifacio auf der einen und die modernen Todesschwadronen der Gegenwart auf der anderen Seite, sind insbesondere die beiden bislang vorliegenden Teile einer geplanten Trilogie über die drei konsekutiven Kolonisationen der Philippinen (durch Spanien, die USA und Japan) in dieser Hinsicht von Interesse. A Short Film About the India Nacional (2007) inszeniert die Erfahrung der spanischen Besatzung im Stil des frühen Kinos: stumm gedrehte, narrativ nur lose ineinander verwobene Vignetten, neugierige Blicke in Richtung Kamera, krude Trickfilmpassagen; wenig Bilder von Aufständen, dafür viel tote Zeit; ein Kino der Attraktionen, aus dem die Weltgeschichte die Attraktionen gelöscht hat.Auch Independencia (2009), der zweite Teil der Trilogie, stellt aufwändig historische Filmästhetiken nach und landet dabei nicht beim Pastiche, sondern bei einer Form, die ihre absurde Historizität mitkommuniziert.

Ästhetische Vorlage ist vorderhand das klassische Hollywoodkino der frühen Tonfilmära: Independenciaentwirft seine Geschichte um eine Mutter, ihren Sohn und eine junge Frau, die sich zu dritt vor den Amerikanern im Dschungel verbergen, vollständig in einem kleinen Studio, komplett mit gemalten Hintergrundbildern und dramatischen Lichteffekten: die Fantasie eines Fensters, das es nie gegeben hat, auf eine Welt, die zu weiten Teilen aus Pappmaschee und bemaltem Karton besteht. Allerdings widerstrebt nicht nur eine faux-Newsreelsequenz, die den Film in zwei Episoden teilt und einen kolonialen Blick emuliert, der klassischen Form. Wie A Short Film About the India Nacional konstruiert auch Independencia keinen Helden, der in einem Akt politischer Selbstermächtigung zu einer in gewisser Weise ahistorischen Verkörperung des real gescheiterten Widerstands und damit zum Protagonisten einer affirmativen nationalen Allegorie werden könnte. Die Figuren bei Martin träumen statt dessen und sie pflanzen sich über ihre Träume fort; oder sie erzählen sich – das zieht sich durch das gesamte Werk – gegenseitig Geschichten, die gerade dann fiktional sind, wenn sie von ihnen selbst handeln. Der Film abstrahiert, je weiter er fortschreitet, zunehmend von seiner ohnehin nur rudimentär vorhandenen Erzählung und sucht uneigentliche Bilder, konstruiert unreine, hochartifizielle Erfahrungsräume, in denen die vergessene Geschichte sich schließlich nur noch als Gespenst materialisieren kann.

 

Vapor Trail (Clark) (John Gianvito, USA 2010) | Independencia (Raya Martin, PH 2009)