experimentalfilm

Der Himmel wird überschätzt Sanfte Liminalität: Apichatpong Weerasethakuls Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives ist ein Film der selbstverständlichen Präsenz von Gespenstern und Zwischenwesen in Übergangszuständen

Von Ekkehard Knörer

© trigon-film

 

Ein Filmemacher schreibt einen Brief an Uncle Boonmee, in zwei leicht variierten Anläufen, Voiceover. Wir sind in Nabua, Nordthailand, die Kamera fährt in langsamen Bewegungen das Innere mehrerer Häuser ab. Man sieht Fotos an Wänden, anderes, Innenausstattung materiell nicht sehr reicher Leben. Es ist dunkel, ein Dämmerzustand, aber Licht fällt herein durch offen stehende Fenster. Ich habe Geld aus England bekommen, ich will einen Film über Dich machen, Uncle Boonmee. Zu hören ist das Flispern des Winds in den Bäumen, das lauter wird, das zum Rauschen wird, als die Kamera auf eines der Fenster zufährt und zoomt und zoomt, bis der Rahmen aus dem Bild verschwunden ist: Nur noch Grün, Bäume, Rauschen. Die Kamera bewegt sich freier, auch draußen jetzt. Soldaten liegen herum, es ist unklar, wo sie herkommen, ob sie gegenwärtig sind, wirklich, oder nur eingebildet, vergangen. Fast gegen Ende des rund viertelstündigen Films sieht man die Zeitmaschine, die Apichatpong mit den Bewohnern von Nabua gebaut hat, Rauch steigt auf. Ein Rind ist im Bild, ein Hund. Die Zeitmaschine kennt man aus Primitive, der Kunstinstallation, die Uncle Boonmee Can Recall His Past Lives vorausging, ebenso wie A Letter to Uncle Boonmee, der tastende Brief in Tönen und Bildern an den verstorbenen Protagonisten eines künftigen Films.

Uncle Boonmee gab es und das Buch über die Leben, an die er sich erinnert, gibt es tatsächlich. Es ist 1983 im Verlag eines Klosters erschienen, das erfährt man im Abspann. Jener Uncle Boonmee ist und ist nicht der dieses Films. Der im Film erinnert sich gar nicht richtig an seine vergangenen Leben, aber an das eine eigene, das nun wiederkehrt, in Szenen und Geistern. Statt an vergangene Leben erinnert sich dieser Uncle Boonmee aber an die Zukunft, in einer Vision spät im Film, als er im Sterben liegt, als der Film, der sich vor allem an dieser Stelle an A Letter to Uncle Boonmee erinnert, auf die Soldaten zurückkommt und auf die Zeitmaschine. Uncle Boonmee berichtet von einer Zukunft unter einem totalitären Regime, dessen Sicherheitsoffiziere Menschen aus der Vergangenheit mit Lampen aufspüren und das Leben dieser Menschen auf ihrem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft auf Leinwände projizieren: «Und sobald diese Bilder erschienen, ‹verschwanden› diese vergangenen Menschen.» Dazu sieht man Fotografien, Jugendliche, die man aus anderen Filmen von Apichatpong zu kennen meint, Soldaten in freundlicher Runde mit einem Geisteraffen, Fotografien als Freeze Frames, und wer will, denkt zurück an das, was Uncle Boonmees Sohn Boonsong, als er am Tisch des Vaters erschien, erzählt hat; davon, wie er zum Tier, zum Geist, zum anderen Wesen geworden ist: In einem Foto, das er gemacht hat, sah er einen Affengeist und ging hinaus in den Wald und paarte sich mit dem Affengeist und wurde so selber einer. Jetzt sitzt er, mit der vor vielen Jahren verstorbenen Mutter und deren Schwester und Tong, der später zum Mönch wird, auf der Veranda. Es ist zu hell für einen Affengeist mit Zottelfell und leuchtend roten Augen. Man löscht das große Licht, man betrachtet Fotografien. Boonmee weiß, dass er sterben wird.

Ein Zitat aus dem Buch des realen Boonmee steht dem Film voran: «Im Angesicht des Dschungels, der Hügel und Täler || erstehen meine vergangenen Leben als Tier und als andere Wesen vor mir.» Dämmerlicht bestimmt die ersten Bilder des Films, man sieht den Dschungel, die Hügel und Täler und einen Ochsen, der ausbüchst, querfeldein, in den Wald. Ein Mann fängt ihn wieder ein, aber das dauert eine Weile, führt ihn zurück. Zwischendurch sieht man, ein Affengeist-Vorleuchten, einmal rote Knopfaugen im Wald. Es ist nicht unmöglich, in dem Ochsen Uncle Boonmee zu sehen, seine Existenz in einem früheren Leben; weniges überhaupt ist unmöglich in diesem Film, der mit sehr schöner Sanftheit seine Figuren, die Menschen, die Tiere und die anderen Wesen über Grenzen und Schwellen führt, solche zwischen Wirklichem und Geträumtem, Gegenwärtigem und Vergangenem und Kommendem, Dunklem und Hellem, zwischen früheren Filmen des Regisseurs und diesem (und zukünftigen sicher auch), zwischen Märchen und Politparabel, Trauer und Trost und natürlich Leben und Tod. Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives ist, mit einem Wort, ein Film der selbstverständlichen Präsenz von Gespenstern und Zwischenwesen in Übergangszuständen. Es ein Film über das Liminale.

Um Grenzen und Schwellen geht es und die Passagen hindurch und hinüber. Im Grenzgebiet zwischen Thailand und Laos spielt der Film, ein Laote ist es, der den nierenkranken Boonmee pflegt, der Hand an ihn legt, ihn umsorgt, ein Mann von jenseits des Mekong, des Grenzflusses, der Laos und Thailand trennt – aber unklar trennt, es gibt Ansprüche beider Seiten auf einzelne Inseln und deshalb keinen rechtsverbindlich festgeschriebenen Grenzverlauf; eine Grenze, denkt man, nach dem Geschmack dieses Films. Jaai, der Mann, der mutmaßlich illegal arbeitet, spricht eine andere Sprache, aber keine ganz fremde. Boonmee und Jen verstehen ihn, Tong versteht ihn nicht. Jaai wird zurückkehren nach Laos, über die Grenze, eine Frau wartet auf ihn in seiner Heimat. Sie sind in Kontakt in Telefonaten und Fotografien, weil keine Trennung ohne Trostmedium und Trostgespenst bleiben darf in diesem Film. Trost ist aber, darum bleibt der Schmerz, etwas anderes als Heil. In einem Gespräch mit Huay, dem Geist seiner Frau, fragt Boonmee sie danach, wie es ist jenseits der Grenze, die der Tod markiert, wie er sie dort finden kann. Die Geister erfährt er, verkehren nicht miteinander. Sie hängen an den Lebenden, suchen deren Nähe, nicht die der anderen Toten. «Der Himmel wird überschätzt.» Der sterbende Boonmee und seine verstorbene Frau umarmen sich innig, in Trost und Schmerz, wie zwei, die wenig Hoffnung haben, einander je wiederzusehen.

Von «rites de passage» spricht die Ethnologie, hergebrachten Ritualen, die mit festen Abläufen Hilfe leisten beim Überqueren von Schwellen, die dem Dunklen und Unklaren Klarheit und Helligkeit zu geben versprechen, indem sie dem im Leben des Menschen Unverständlichen den Schein des Selbstverständlichen geben. Uncle Boonmee zeigt nun allerdings eine deshalb durchaus moderne Welt, in der Riten dieser Art eigentlich nicht recht existieren, eine Welt, in der meist der Dämmer regiert und das Dunkel (aber dann ist es auch wieder taghell), eine Welt, in der es keine eindeutigen Wege von hier nach da, durch die Grenze, über die Schwelle mehr gibt. Dafür unerwarteten Grenzverkehr, ein Harren und Tasten und Wiederkehren, den Versuch, sich einzurichten aufs Sterben, sich einzurichten oder neu anzufangen im Leben: Boonmee legt sich hin zu sterben; Tong dagegen wird ein Mönch, wie es der Mann einmal war, der ihn spielt. Es gibt das Suchen nach Pfaden hinein in die bestirnte Höhle, die auch ein Mutterleib ist, und vielleicht nicht nur für die, die nicht gestorben sind, führen Pfade wieder hinaus. Kein Weg ist versperrt, eher schon ist alles zu durchlässig, zu offen, die Zone des Liminalen hat keinen fest umrissenen Anfang und kein klares Ende. Diesseits und Jenseits sind kaum geschieden, und es ist diese Ungeschiedenheit, in der das Herumlungern auf Schwellen und das Über schreiten von Grenzen möglich sind, die Uncle Boonmee Who CAN RECALL His Past Lives vor Augen führt ohne Erklärungsbedarf.

Eine solche bei Lichte besehen unbedingt wahnsinnige Durchlässigkeit will mit großer Lässigkeit in Szene gesetzt sein. Und darin liegt, von Film zu Film mehr, Apichatpongs große Meisterschaft. So kunstvoll wie scheinbar aufwandlos entfaltet er eine Wirklichkeit, die sich für vieles, für alles Mögliche öffnet. Kein anderer Formalist ist so fähig zu anrührender Einfachheit. Kein anderer Naiver ist so ausgefuchst experimentell. Über fast gar nicht spürbare Schwellen geleiten die Filme von Apichatpong den Betrachter einfach von hier nach da. Man merkt kaum, dass man plötzlich anderswo und erst recht begreift man nicht (und will aber auch gar nicht begreifen), wie man dorthin nun gelangt ist. So liegt in der einen Einstellung jemand, Jaai vielleicht, in der Hängematte im Dämmerlicht auf der Veranda, so sieht man in der nächsten den Wald, und gleich darauf raschelt zwischen den Bäumen eine von halbnackten Männern getragene Sänfte mit einer Märchenprinzessin heran. Wir sehen der Prinzessin Gesicht nicht, denn es ist verborgen hinter Schleiern und Schleiern. Wir sehen in einer Subjektiven, wie sie auf den Hinterkopf eines der Träger blickt, sein Haar streichelt, ihre Hand auf seine Schulter legt, und wir sehen, wie er in einer zärtlichen Geste ihre Hand berührt und zurückblickt.

Die beiden sind Liebende oder sind es gewesen. Die Sänfte hält an, die anderen Männer sind verschwunden und die Prinzessin, deren Gesicht entstellt ist, kann die Liebe des Sänftenträgers nicht mehr ertragen. Sie wendet sich dem Wasser zu, dessen Oberfläche ganz glatt ist, obwohl im Hintergrund ein spektakulärer Wasserfall rauscht, so glatt, dass sich ihr Gesicht darin spiegelt. Aber nicht, wie es wirklich ist, sondern in unentstellter Prinzessinnenschönheit. Ein Wels ist der Herrscher dieses Gewässers und er lockt die Prinzessin hinein, ins Wasser, zu sich. Sie entledigt sich Stück für Stück ihres Schmucks, eine Reihe von Gaben, sie legt sich auf den Rücken im Wasser, öffnet ihre Beine und hat Sex mit dem Wels, so wie Boonsong Sex mit dem Affengeist hatte und so selbst einer wurde. Die Durchlässigkeit ist nicht nur eine der Räume und Zeiten, sondern auch eine der Wesen. Kein Mensch ist nur Mensch, kein Tier ist nur Tier, kein anderes Wesen ist nur anderes Wesen. Nach dem Sex zwischen Prinzessin und Wels taucht die Kamera unter Wasser, zum herabsinkenden Schmuck, auf den Boden, ein Sprudeln, ein Glucksen und gleich darauf sind wir schon wieder anderswo, auf der Veranda, im Dunkeln, wo Jen mit einer elektrischen Klatsche zu kurz aufsirrendem Brutzelgeräusch herumschwirrende Insekten erledigt.

Ich werde bestraft, sagt Uncle Boonmee, früher, oder später, zu Jen in der Honighütte, weil ich zu viele Kommunisten getötet habe und auch zu viele Insekten auf meiner Farm. Aber deine Absicht war gut, die gute Absicht ist das, was zählt, erwidert Jen. Zuvor lässt er seine Schwägerin einmal vom Honig kosten, den die Bienen auf seiner Farm aus Mais und Tamarinden gewinnen. «Süßsauer», sagt er, lächelnd, und gleich darauf spricht er mit Jen in der Honighütte über die Bürde der Krankheit, und Jen erzählt von ihrem Vater, der auch Kommunisten getötet hat und der in den Wald ging, um die Tiere zu jagen und so lange blieb, bis er mit ihnen zu sprechen gelernt hat. Die Passagen von hier nach da und der Verkehr mit anderen Orten und Wesen, all das kehrt in diesem Film wieder wie auch viele der Darstellerinnen und Darsteller (Jen, Tong) aus Apichatpongs früheren Filmen. Nicht nur die Episoden des Films, das ganze Werk des Regisseurs ist von dieser charakteristischen Durchlässigkeit. Jaai erinnert an Min aus Blissfully Yours, der illegal im Grenzgebiet zu Burma arbeitete, und ganz am Ende von Uncle Boonmee taucht als Jens Tochter eine Figur Roong auf, die von der Roong-Darstellerin Kanokporn Tongaram ebenfalls aus Blissfully Yours gespielt wird.

Was auch wiederkehrt, ist das Thema Krankheit, von Min mit seinen Hautausschlägen bis zu den Krankenhaus-Schauplätzen von Syndromes and a Century und jetzt Boonmee mit seinem Nierenleiden. Das hat gewiss seine biografischen Gründe darin, dass Apichatpongs Eltern Ärzte sind, aber zugleich ist die Krankheit selbst eine Art Urbild liminaler Zustände als jene Verfassung von Körper und Geist, die den Betroffenen aus dem normalen Leben auf eine Schwelle entrückt, ein kleineres oder größeres Stück näher an Fieber, Fantasie, Traum und Tod. So ist nicht nur der Protagonist selbst, sondern auch Uncle Boonmee, der Film, vom Zustand der Krankheit befallen, aber er stellt sich das, obwohl das Leid und der Schmerz keineswegs verschwiegen werden, nicht als etwas durchweg Schreckliches vor. Die Menschen, die Tiere und die anderen Wesen eilen herbei, nicht zur Rettung, denn Boonmee muss, wie alle anderen Menschen, alle anderen Tiere und möglicherweise auch alle anderen Wesen, tatsächlich sterben. Aber der in einen Affen verwandelte Sohn, die zum Geist gewordene Ehefrau, der Mann von jenseits der Grenze, der andere Mann, der dann Mönch wird, sie alle eilen und gleiten und schleichen herbei, mit leuchtenden Augen im Dunkeln oder als erscheinender und verschwindender Geist, um Boonmee zu trösten und bei ihm zu sein. Uncle Boonmee ist kein Film über Wiedergeburt, erst recht natürlich kein Film über das Wunder einer Auferstehung, aber es ist doch etwas daran, das ein wenig über den Verstand geht: Uncle Boonmee muss sterben und am Trost, den der Film ihm und uns in seiner leisen Feier der Zwischenzustände spendet, ist nichts falsch.