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Grand Tour ins Ich Wer reist, will etwas (von sich) erleben: Über Bernd Stieglers Reisender Stillstand

Von Robin Celikates

Im Jahr 1794 machte Xavier de Maistre aus der Not eines mehrwöchigen Hausarrests (wegen unerlaubten Duellierens) eine Tugend, begab sich auf Reisen und verfasste darüber einen Bericht. Einen Reisebericht? Tatsächlich etablierte de Maistre mit seiner Voyage autour de ma chambre ein neues Genre der Reiseliteratur just zu jenem Zeitpunkt, zu dem nicht nur die Aufzeichnungen weitreisender Abenteurer (Captain Cook & Co.), sondern auch die tendenziell repetitiven Erlebnisberichte von der obligaten Grand Tour höchste Popularität genossen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Zimmerreise – diese Form des «Reisens ohne zu reisen» – als exzentrische Parodie, als fast schon subversive Performance. Auf den ersten Blick jedoch bleibt sie ein paradoxes Unterfangen, denn wer reist, der will was erleben und kann es dann berichten, und was gibt es in den eigenen vier Wänden schon Unerwartetes zu entdecken? Eine ganze Menge, wenn man den Spuren folgt, die von de Maistre bis in unsere Gegenwart führen und die Bernd Stiegler nun in Reisender Stillstand nachgezeichnet hat.

Stiegler, früher für das Wissenschaftsprogramm des Suhrkamp Verlags verantwortlich, heute Professor für Literaturwissenschaft in Konstanz, ist ein Lektor im emphatischen Sinn: ein Leser, der nicht zuletzt deshalb schreibt, weil er seine Leser am Gelesenen teilhaben lassen möchte. Ihn und uns führt das in diesem Fall in einundzwanzig relativ lose aneinander anschließenden und doch gekonnt verwobenen Etappen in die Archive der vergessenen literarischen Versuche, an die Ränder der Gegenwartsliteratur, in die Anthropologie und zumindest per Abstecher ins Internet und ins Kino.

Nahlektüren, Lehnstuhlreisen

De Maistres Close Reading seiner unmittelbarsten Umgebung ist in unzähligen Variationen fort- und weitergeführt worden, unter denen Sophie La Roches beinahe tausendseitiger Reisebericht Mein Schreibetisch (1799) und Alphonse Karrs Voyage autour de mon jardin (1845) zu den literarisch interessanteren Experimenten gehören, die anonym verfasste Voyage dans mes poches (1798) wohl eher zu den Kuriosa. Natürlich geht es in all diesen Entdeckungsreisen immer auch um das Ich, dem das Zimmer, der Schreibtisch, der Garten und die Taschen gehören. Diese Erkundung der eigenen Subjektivität ist aber weder notwendig narzisstisch noch auf die Methode der Introspektion beschränkt. La Roche etwa liest den «Grundriß von meinem Kopf und meinen Neigungen» aus den auf ihrem Tisch versammelten Gegenständen und Papieren heraus, und auch sonst nimmt die Miniaturreise im und um das Zimmer herum häufig die Form einer Geschichte derjenigen Dinge an, durch die Welt und Geschichte in das Zimmer eindringen und dieses zu einem Ort der «Verflechtung von Mikro- und Makrokosmos» machen.

Freilich ist die Zimmerreise als ziemlich lokale Form der Erkundung eines vermeintlich vertrauten Erfahrungsraums schon bald in verschiedene Richtungen ausgeweitet worden. Das Prinzip, dem zufolge es sich nicht um imaginäre (oder virtuelle) «Lehnstuhlreisen», sondern um wirkliche Reisen im physischen Sinn, nur eben in die allernächste Nähe handelt, ist schon lange vor Google Street View durch die «voyages photographiques» (Benjamin) aufgeweicht worden, jene visuellen Reisen ohne zu reisen, die sich der Erfindung der Photographie verdanken. Zugleich kam es zu einer allmählichen Entgrenzung des Prinzips des Zuhausebleibens, zunächst durch das Fenster, diese veritable «Seh-, aber auch Bild- und Geschichtsmaschine», dann durch das Flanieren als «Entdeckungsreise in die Nähe», mit der die Stadt sowohl zu einem ausgedehnten Zuhause als auch zu einem durch die «Lektüre der Straße» (Hessel) zu dechiffrierenden Palimpsest wurde.

Die späten Ausläufer der Zimmerreise, die Stiegler in unserer Gegenwart ausmacht, sind denn auch eher Belege der Zerfaserung als der Langlebigkeit dieses doch recht speziellen Genres. Peter Handkes fotografische Expedition in den Pariser Vorort La Défense, Timm Ulrichs endoskopische Reise in den eigenen Körper, der Urlaubsaufenthalt im virtuellen 3D-Hotel vuedesalpes.com und Cortázars und Dunlops Inspektion der Autobahn Paris-Marseille teilen mit de Maistre und La Roche allenfalls noch den alltagsethnologischen Grundimpuls, den Schleier zu zerreißen, den die Gewohnheit über die Dinge legt, und daraus etwas über sich selbst und über uns zu lernen. Nach dem Motto «Gewohnheit macht blind, Reisen hingegen öffnet die Augen» soll der ver- und entfremdende Blick des Ethnologen das vermeintlich Bekannte erst wieder in den Bereich der Sichtbarkeit überführen. Die genaue Beschreibung wird zu einem Medium der Distanzierung. Aber wer distanziert sich hier von was?

Bürgerliche Subjekte im inneren Exil

Mit der proto-soziologischen Ausrichtung spätmoderner literarischer Reflexion, die ja stets auch eine Lebensform inspiziert, tritt immer deutlicher die Krise jener alteuropäischen Gestalt der Subjektivität hervor, die sich mit ihren Zimmerreisen auf die Suche nach dem eigenen Ich begeben hatte. Ihre Zeugnisse ähneln aus der Distanz kuriosen Erlebnisaufsätzen, verfasst von bürgerlichen Subjekten, die zwar glauben, die Welt schon zu kennen, und sie deshalb für keiner Reise würdig befinden, die sich in Wahrheit aber einfach nicht aus dem Zimmer (dem Viertel, der Stadt, Europa) trauen oder sich einfach vom Feindbild des Massentouristen abgrenzen wollen, der «ohne Herz, ohne Augen und ohne Ohren» eigentlich der «Erkundung und Affirmation von Ordnungen» diene, während deren radikale Destabilisierung erst mit Huysmans’ Protokoll des stets misslingenden Versuchs, sich einzurichten, in den Blick komme, ist ein Hinweis Stieglers, dem weiter nachzugehen sich lohnen würde, zumal auch diese Art des inneren Exils letztlich eine spezifisch bürgerliche Form des Zuhausebleibens zu sein scheint.

Die durch diese Umschlagsbewegung indizierte kultur- und sozialtheoretische Ausweitung des literarischen Blicks nimmt Stiegler in seinem ebenso leichtfüßigen wie materialgesättigten Essay freilich nur andeutungsweise vor. Dabei hätte man gerne mehr darüber erfahren, unter welchen Bedingungen die durch Reisen in die Nähe initiierte reflexive Selbstdistanzierung emanzipatorische oder sonstwie positive Wirkungen entfaltet und wann sie in die narzisstische Selbstbespiegelung verunsicherter Subjekte zurückzufallen droht. Einen guten Ansatzpunkt hierfür hätte vielleicht auch jenes von Stiegler selbst angeführte Medium abgegeben, das einst angetreten ist, um unsere Sichtweise auf die Welt zu revolutionieren und von dem Benjamin meinte, dass es mit dem «Dynamit der Zehntelsekunde» unsere «ganze Kerkerwelt» aufsprengt. Dziga Vertovs Versprechen «So dechiffriere ich aufs neue die euch unbekannte Welt» ist jedenfalls geblieben – und wer hörte darin nicht zugleich den Zauberer und den Revolutionär?

 

Bernd Stiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum (S. Fischer Verlag 2010)