Text und Leben
B. hasst Alain. Alain ist Anwalt in einer Komödie von Yasmina Reza. B. könnte Alain vergessen, wenn er nicht bereits seit sechs Wochen proben müsste, diesen Anwalt darzustellen und schon das Wort darstellen scheint B. ein zu gewichtiges Wort im Zusammenhang mit der schalen Witzfigur Alain. Wenn das Schauspiel durchhängt und das geschieht ihm ziemlich häufig, erreicht Alain ein Telefonanruf auf seinem Mobiltelefon und er muss den gewieften Anwalt eines Pharmaunternehmens geben. Bei seinem Gegenspieler läutet mehrfach das Telefon und die Mutter ist am Apparat. Schon diese Gegenüberstellung von Staranwalt und Muttersöhnchen findet B. auf eine Weise abgeschmackt, dass er ins Telefon brüllt, worauf er von dem kreuzbraven Regisseur um mehr Contenance gebeten wird. Dass ein minderbemittelter Regisseur B. um Contenance bittet, macht B. matt und müde und führt tatsächlich zu einer Beruhigung auf der Bühne. Alains Frau ist Vermögensberaterin und ihr Gegenüber ist eine hysterische Schriftstellerin, die sich für Afrika engagiert. Die Vier kommen zusammen, um über eine Rangelei ihrer Söhne zu verhandeln, die Verhandlung eskaliert, es wird gekotzt und gezetert. Das wahre Theater ist viel zuckender, es ist viel verrückter, Krampfzustand des offenen Herzens, das alles dem gibt, was nicht existiert, hatte B. damals mit Begeisterung gelesen in den letzten Schriften zum Theater. Darf ich Artaud zitieren als gäbe es eine Verbindung? Der Anwalt Alain behält Recht, wenn er am Ende des Stückes verkündet, er habe immer schon an den Gott des Gemetzels geglaubt.
An einem freien Abend geht B. in ein Stück Dokumentartheater, bei dem ein Hilfsarbeiter von seiner Kindheit erzählt und von seiner alkoholkranken Mutter. Im Hintergrund tanzt ein Tänzer und B. entscheidet, dass er kein Schauspieler mehr sein will, sondern eine Ausbildung zum Ergotherapeuten beginnen wird.
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Comiczeichner. Mit 9 Jahren konnte A. sicher sagen, was er einmal werden wolle. Sein Vater war Grafikprofessor, A. zeichnete, seine Bildergeschichten wurden in der Lokalzeitung abgedruckt. Mit 15 wollte er Gitarrist werden, er spielte virtuos und verehrte John Scofield, seine Mitschüler nannten ihn Genius. Nach dem Abitur studierte er Physik, weil er sich in der Kunst nichts vorschreiben lassen wollte. Er nahm psychedelische Drogen und verbrachte Forschungsaufenthalte in Paris und Tokio. Er interessierte sich für Kybernetik und Buddhismus und war begeistert von Beck und Cage. Je komplexer das Muster wurde, desto größere Schönheit ließ es erkennen.
Inzwischen ist A. 33. Seine Dissertation über Zeit als Operator ist ins Stocken geraten, an der Universität sieht er keinen Platz für sich. Er hatte auf Assoziation und Experimentierlust gehofft und was er erlebt, sind Profilneurotiker in einer ängstlichen Bürokratie, zu lange schon, um sich noch aufregen zu können wie am Anfang seiner Studienzeit, als er es ihnen noch zeigen wollte mit einem Streich. Um die Distanz zu seiner Umwelt nicht zu groß werden zu lassen, lässt A. sich gehen in der Nacht zur Musik in ehemaligen Industrieanlagen. Sobald man die wechselseitige Durchdringung von Raum und Zeit erkennt, werden Objekte eher als Geschehnisse denn als Dinge erscheinen. A. staunt gerne, auch wenn sein Staunen ihm inzwischen gelegentlich routiniert erscheint.
Seit einem schlechten Trip nimmt er kein LSD mehr, das Zeichnen hat er aufgegeben, seine Musik bewegt sich nach seinen eigenen Worten weiterhin jenseits der Kategorien. Plattenfirmen melden sich nicht auf seine Einsendungen. Sein Aufsatz zur Komprimierung von Quanteninformation ist abgelehnt worden. Das Buch, das ihn zur Physik gebracht hat, liest er nach 15 Jahren noch einmal und wirft es in den Müll: Das neue Denken von Fritjof Capra. Ohne Mitgefühl kann es keine Weisheit geben, also muss Wissenschaft von sozialem Empfinden begleitet sein.
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Früher hatte es ihm geholfen. L. las Luhmann, um sich anzustacheln gegen die Gemütlichkeit. Der überlegene Gestus der Texte forderte ihn zum Widerstand auf oder dazu, etwas anzufangen am Schreibtisch oder raus zu gehen an die frische Luft. Denn eine Ethik würde sich selbst sabotieren, würde von ihr verlangt werden, dass sie Unterscheidungen macht und zugleich reflektiert, dass sie es ist, die diese Unterscheidungen macht.
Heute kann sich L. nicht mehr vorstellen, wie ihn solche Sätze aufregen konnten. L. arbeitet in der Sportredaktion einer Berliner Zeitung. Theoretische Texte liest er kaum noch, auf Sportfragen seiner Freunde und Bekannten verweigert er die Antwort. Was als Witz begann oder als ironische Geste, sich einem Provinzverein zu verschreiben oder Fan zu werden eines walisischen Snooker-Profis, ist zu einer Arbeit verkommen, auf die L. in seiner freien Zeit nicht angesprochen werden will. Er kocht gerne für Freunde nach den Rezepten berühmter Köche. Wenn man Gäste hat und ihnen Wein einschenkt, wird man nicht plötzlich auf die Idee kommen, die Gläser seien unerkennbare Dinge an sich und möglicherweise nur als subjektive Synthese vorhanden.
Gegen sein Wissen stellt sich L. in den letzten Tagen immer wieder die Frage, wie es dazu kommen konnte. Er schämt sich der Frage und rettet sich in Arbeit an Texten zum Sport. Das Problem des unendlichen Regresses stellt sich nur bei der Suche nach Letztbegründungen und dazu hat das Mediensystem ohnehin keine Zeit.