serien 2021

The Paradox of Education Dear White People

Von Cristina Nord

© Netflix

 

 

Was ist ein Hotep? Wer die zweite Staffel der Netflix-Serie Dear White People schaut, erfährt es. In der fünften Folge lernt die Studentin Joelle einen Kommilitonen kennen – ausgerechnet an einem Seziertisch, während der Anatomiestunde. Er macht ihr den Hof, und alles geht seinen romantischen Gang, bis sie ihn mit in ihr Wohnheim nimmt. Kaum angekommen, beginnt er mit ihren Mitbewohner*innen und Freund*innen zu streiten. Er beleidigt Sam, die Tochter einer Schwarzen Mutter und eines weißen Vaters, als «mutt», hält eine Eloge auf Schwarze Maskulinität und klassische Geschlechterrollen, und schimpft über eine lesbische Figur in einer TV-Serie, die gerade läuft. Der junge Mann ist ein Hotep. Ursprünglich der Name eines Pharaos, bezeichnet der Begriff Schwarze Menschen, die Ägypten idealisieren, sich als afrozentrisch begreifen und rückwärtsgewandte Vorstellungen von Gesellschaft und Familie pflegen.

Die Szene ist nicht die einzige, in der Dear White People den Charakter einer Blackness-Enzyklopädie annimmt. Sei es ein Zitat von James Baldwin zum Auftakt («The paradox of education is that as one begins to become conscious one begins to examine the society in which he is being educated»), seien es Verweise auf die Underground Railroad, sei es die Diskussion um die richtige Art, grits, also Maisgrütze, zum Frühstück zu essen (mit salzigen oder süßen Beilagen?), seien es erfundene TV-Shows, die wiederum in der Realität existierende TV-Shows mit Schwarzen Protagonist*innen imitieren: Justin Simien, der Showrunner, lädt mit Dear White People zu einem Crashkurs in den Fächern Schwarze Kultur, Schwarzer Pop und Schwarze Geschichte ein. In ihren besten Momenten ist die Serie wie eine mit Mainstream-Glasur überzogene Version von Ephraim Asilis unabhängig produziertem Debütfilm The Inheritance (2020 – siehe cargo 50): Ein vielgestaltiges Erbe wird geborgen, durchgearbeitet und auf seine Bedeutung für die Gegenwart befragt, jenseits des Kanons liegende kulturelle Ausdrucksformen verlangen und erhalten Aufmerksamkeit, ein Kollektiv konstituiert sich.

Schauplatz ist ein fiktives Ivy League-College namens Winchester, und damit ist ein wesentlicher Unterschied zu The Inheritance benannt: Während das Kollektiv bei Asili die in den 70ern und 80ern in Philadelphia aktive Move-Kommune zum Vorbild nimmt und Autonomie zur Grundlage seines Selbstverständnisses macht, ist die Gruppe der Schwarzen Student*innen in Dear White People eingebunden in einen mehrheitlich weißen Campus. Von Autonomie fehlt jede Spur. Die Serie schaut diesen Student*innen zu, wie sie sich ihrer selbst gewahr werden und sich zu politisieren beginnen. Über die Konsequenzen dieses Prozesses macht sie sich wenig Illusionen. Spätestens in der vierten und letzten Staffel, seit Herbst 2021 im Netflix-Angebot, wird deutlich: Je näher der Studienabschluss rückt, umso weiter rutscht das Ringen um social justice in den Hintergrund, umso wichtiger wird die Aussicht auf eine möglichst glänzende Karriere. Und so wie die Figuren die Sorge um das Gesellschaftliche und das gemeinsame Denken und Handeln zugunsten ihres individuellen beruflichen Fortkommens aus den Augen verlieren, so lässt auch die Serie ihren ursprünglichen Impuls, die Aporien eines Bildungswesens zu erkunden, das sich liberal und offen wähnt, doch in Wirklichkeit auf Rassismus gründet, aus den Augen. An seine Stelle tritt der übliche Netflix-Budenzauber: Spuren eines Dekaden alten, Schwarzen Geheimbunds werden in düsteren Kellern entdeckt, ein Musical wird einstudiert, dazu kommt eine Prise Science Fiction, kurz, es gibt mehr von allem und dann noch mehr obendrauf.

Vorher kann man dem Paradox von Bildung, das Baldwin beschreibt, bei der Arbeit zuschauen. Blackfacing, Polizeigewalt, colorism, sexualisierte Gewalt, Debatten um Meinungsfreiheit, Cancel Culture und verwehrte Lebenschancen: All das spielt unentwegt eine Rolle, wenn auch deutlich vergnüglicher, nuancierter und ambiguitätstoleranter, als es diejenigen, für die US-amerikanische Universitäten Vorhöllen zensorisch-aggressiver wokeness sind, glauben und verbreiten. Über die Figurenzeichnung stellt Simien viele, sich immer wieder ins Wort fallende Arten, Schwarz zu sein, vor: etwa die aktivistische, scharfzüngige, witzige Sam White, die beim College-Radio die Sendung «Dear White People» lanciert und ein Sprachrohr von wokeness ist. Die in Armut groß gewordene Coco, deren Aufstiegswunsch unbändig ist. Den anfänglich konservativen Troy, der versucht, es seinem Vater recht zu machen, und daran scheitert. Den politisierten Reggie, der das Erbe der Bürgerrechtsbewegung unerschütterlich aufgreift und fortträgt. Joelle, die Over-Achieverin. Kelsey, eine sehr feminine junge lesbische Frau. Lionel, der mit seinem Coming-out hadert und erste Schritte als Reporter unternimmt. Rashid, der aus Kenia kommt und mehr als einmal verwirrt bis genervt vom Treiben seiner amerikanischen Kommiliton*innen ist.

Schon diese Umkehrung – welche Figuren haben viele Facetten, Widersprüche und eine reiche Subjektivität? welche werden in den Hintergrund, ins Klischee gedrängt? – rief harsche Reaktionen hervor, nachdem die Serie 2017 gelauncht worden war. Es kam zu einer Social-Media-Kampagne gegen Dear White People, der Vorwurf des umgekehrten Rassismus wurde laut. Simien reagierte, indem er den Handlungsbogen der zweiten Staffel um einen Troll und hate speech herum organisierte. Insgesamt neigt Dear White People dazu, sich zu den Geschehnissen der Gegenwart gefräßig zu verhalten. In der vierten Staffel zum Beispiel wird eine in der Zukunft liegende Zeitebene eingezogen und das Leben mit einer nicht näher benannten Pandemie entworfen (mit extravaganten Kostümen und nicht minder extravaganten Maskenmodellen). Auch um sich selbst und den Netflix-Kosmos kreist Dear White People gerne – etwa dann, wenn Sam in der dritten Staffel beim Betreten eines Kellergewölbes sagt, das erinnere sie an eine typische dritte Staffel in einer typischen Netflix-Serie. Ob das nun Selbstmarketing oder Selbstreferentialität oder beides in einem ist, gehört zu den Fragen, die Dear White People in den Raum wirft, ohne sich um die Eindeutigkeit einer Antwort zu scheren.

 

Dear White People (Creator: Justin Simien) | 4 Seasons | Netflix 2017–2021