essayfilm

Bruder Kamera Die intimen Filmtagebücher des Filmers Alain Cavalier

Von Esther Buss

Ce répondeur ne prend pas de message (1979)

© Alain Cavalier

 

Alain Cavalier war Filmemacher, dann wurde er Filmer. Der Filmemacher Cavalier (den ich nicht kenne) war Ende der 1950er für einige Zeit Assistent von Louis Malle, bevor er begann, mit eher bescheidenem Erfolg eigene Filme zu drehen: Le combat de l’île (1962) zum Beispiel, mit Romy Schneider und Jean-Louis Trintignant, oder L’insoumis (1964), ein Thriller vor dem Hintergrund des Algerienkriegs. Ein paar Jahre arbeitete er mit den großen Stars des französischen Kinos, mit Deneuve, Piccoli, Delon, dann kam seine Laufbahn fast zum Erliegen. In den 70ern drehte er kaum noch, 1978 schließlich folgte wie aus dem Nichts eine Wende ins Autobiografische: Ce répondeur ne prend pas de message. Dass ein künstlerisches Werk Brüche hat, kommt vor, bei Cavalier aber ist es ein Schnitt, der seine Produktion vom Werk des Filmemachers, der er mal war, radikal abtrennte. Bildlich gesprochen war er von einem stattlichen Anwesen mit zahlreichen Angestellten in eine bescheidene Einzimmerwohnung gezogen, und zwar nicht, weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte, sondern um sich vom Ballast des Produktionsapparats und der Professionalität zu befreien. Eine gewollte Beschränkung, arbeiten mit dem, was eh immer da ist: er selbst, seine Nächsten, der Raum und die Objekte des Alltags. Seitdem ist Cavalier Filmer. Der Filmer nimmt sich die Freiheit, zu bestimmen, was er filmt und wann er es filmt, das Script schreibt ihm das Leben, er muss nur ein wenig im Fluss sein. Einen «Bruder» nennt ihn Vincent Dieutre in seinem liebevollen Porträt Frère Alain: 5ème Exercice d’Admiration: Alain Cavalier (2017). Der Titel spielt auch auf das Mönchische seiner Arbeitsweise an.

Seit rund dreißig Jahren nun macht Cavalier (er ist gerade neunzig geworden) tagebuchartige Journale, die intime Eindrücke seines eigenen Lebens und der Menschen um ihn herum festhalten. Er benötigt nur wenige Dinge – zum Beispiel Fotos, ein knorriges Stück Holz, vergammeltes Gemüse –, um etwas Substantielles über Krankheit und Tod zu sagen (Irène, 2009; Être vivant et le savoir, 2019) oder die halbe Bibel nachzuerzählen (Le paradis, 2014). Keine Sache und kein Ort ist ihm zu nieder, auch das Klo nicht, in Lieux Saints (2007), eine Art Laudatio auf die Zufluchtsorte seiner Kindheit, filmt er monologisierend öffentliche Toiletten: in schicken Cafés und schäbigen Bistros, im Zug. Es sind tief anrührende Filme, albern, kindisch und weise, schmerzhaft und leicht, voller Unschuld und blasphemischer Streiche, dem Leben zugewandt und vom Tod besessen. Maurice Blanchots Rede vom Tagebuch als «Schutzvorrichtung gegen die Gefahr des Schreibakts» hat er verinnerlicht wie keiner, seine Arbeiten kommen ohne die nachgereichte Textebene aus, die seit Jonas Mekas den Diary Film weitgehend bestimmt (siehe cargo 17). Cavalier spricht, während er filmt, und zwar ständig, insistent, vorsätzlich penetrant. «Parler et filmer en même temps» ist das Prinzip seiner autobiografischen Praxis.

Das finstere Filmexperiment Ce répondeur ne prend pas de message ist verschlossen. Es geht darin auch um das Verschließen, sich Einschließen, im Laufe des Films werden geradezu zwanghaft Türen und Fenster zugemacht. Ein Mann mit bandagiertem Gesicht (Cavalier) zieht sich nach dem Tod seiner Frau in eine Wohnung zurück. Allein mit seinen Erinnerungen an die Verstorbene, mit ihren Fotos, Liebesbriefen und grotesken Einkaufslisten, beginnt er die Räume schwarz zu streichen, bis seine Existenz nahezu von ihnen verschluckt wird. Einige Jahre zuvor war Cavaliers Frau Irène Tunc, eine Schauspielerin und irgendwann auch mal eine Miss France, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. In dem furchtbar traurigen Erinnerungsfilm Irène, der immer wieder an den Todestag zurückkehrt und an die offene Wunde des verpfuschten letzten Moments, erzählt er, dass er kurz vor ihrem Tod ein wenig Geld aufgetrieben hatte, um mit ihr zusammen einen Film zu machen, nur sie beide als Paar in einem Hotelzimmer. Ce répondeur ne prend pas de message knüpft an diese Idee an, nur dass an die Stelle einer «Bestandsaufnahme zu zweit» der Bericht einer monströsen Selbst­isolation tritt. Der Film ist wie ein dunkler Tunnel, der mit Le Rencontre (1996) wieder an die Oberfläche und ans Tageslicht gelangt (in den Jahren dazwischen entstehen nur wenige Filme, darunter das karge Nonnendrama Thérèse, 1986). Le Rencontre, der erste seiner Ich-Filme auf Hi8, ist ein Neuanfang, eine Geburt. Cavalier, mit einer neuen Frau an seiner Seite (Françoise Widhoff arbeitet fortan auch als seine Editorin), entwickelt hier die Grammatik, die bis heute seine Videotagebücher bestimmt, auch wenn er sich bald von der Reinform des «Debuts» verabschiedet hat.

 

LE RENCONTRE (1996)

© Alain Cavalier

 

Le Rencontre ist das intime Dokument eines Paares über den Zeitraum eines Jahres. Jedes Bild erzählt eine kleine Episode aus seinem Leben. Am Anfang sieht man einen leblosen Fisch. Cavalier sagt im Voiceover: «Du hast diesen Fisch gekauft». Daraufhin Widhoff: «Das ist eine Dorade». Cavalier: «Wie viel hat sie gekostet?» – «Soundsoviel Francs». Jetzt kommen Objekte mit mehr «Gewicht» ins Spiel, Objekte, die mit Erinnerungen und Gefühlen behaftet sind: «Das ist mein erstes Geschenk an dich, ein Kieselstein, das ist das zweite, ein Blatt …» In einer Reihe von Standbildern legt der Film das gemeinsame Leben der beiden in Form von Gegenständen und Körperteilen aus, wie auf einem Tisch: ein Foto ihres verstorbenen Vaters, ihr Fuß, den Cavalier massiert und mit Öl einreibt, seine Brille, ihre Brille (es gibt anrührende Objektpaarungen), ein elektrisches Zahnreinigungsgerät («Wie lange putzt du die Zähne?»), ihre beiden Armbanduhren, die sie tauschten, als sie sich kennenlernten. Über die Dinge ensteht ein Dialog, fröhlich, verspielt und mitunter auch ein wenig regressiv, der morbide Ton, der in Cavaliers letzten Filmen immer bestimmender wird, ist dabei kein Störgeräusch, er ist dem Heiteren vielmehr ein treuer Gefährte.

Mit Le Filmeur (2004), entstanden zwischen 1994 und 2005, gibt Cavalier den strengen Minimalismus auf. Seine Kamera greift nach den Dingen, ist vorsätzlich übergriffig, auch im Blick auf seine Nächsten, manchmal schleicht er sich an seine schlafende Frau heran wie ein Einbrecher in der eigenen Wohnung. Cavalier ist das Kind, das alles anfassen und bezeichnen muss: Das ist mein Bett, das ist meine Lampe, das ist die Katze, das ist ein Marmeladenglas, Françoise hat es drei Tage nicht angerührt, ich bin im Badezimmer im 2. Stock, meine Eltern schlafen im 1. Stock, es ist vier Uhr morgens, ich bin müde, ich kann nicht schlafen etc. Er zählt auch gerne auf, was wieviel kostet – und ist zufrieden, wenn er auf einer Festivalreise in einem teuren Hotelzimmer absteigt, wo der Film doch nur zwei Centimes gekostet hat.

Cavalier macht eigentlich ständig Inventur. Dabei genießt er es, die scheinbare Banalität der Dinge zu überreizen, etwa wenn er in einem Hotelzimmer in Rouen den Toilettenpapierhalter filmt und die Aufschrift auf der Rolle abliest wie einen bedeutsamen Buchtitel: «Colgate-Palmolive Professional». Das unermüdliche Zeigen und Benennen ist mehr als ein semiotisches Spiel, es geht darum, die verborgene Sprache der Dinge zu ergründen, hinter ihre Oberfläche zu schauen, in ihren zeitlichen Raum hineinzublicken – auch ein Twix hat seine Geschichte. Am liebsten wohl würde Cavalier in die Menschen und Dinge hineinkriechen, in ihre Haut schlüpfen und die Welt von dort aus betrachten. Seine Stimme, weich, leise, machmal fast flüsternd, konspirativ, auch ein wenig creepy, ist buchstäblich eindringlich. Durch das gleichzeitige Filmen und Sprechen (und Atmen) werden Stimme und subjektive Kamera (er nennt sie eine «brüderliche» Kamera, «une caméra fraternelle») zum Teil des Körpers bzw. der filmischen Apparatur. Als Widhoff von einem MRT zurückkehrt, sagt sie, das müsse für ihn ja wohl der perfekte Traum sein: «Man steckt eine Kamera in deinen Körper und du kannst alles sehen.»

Cavalier hat schon komische Ideen, etwa wenn er seine Geburt (Steißlage) anhand einer halb ausgehöhlten Wassermelone demonstriert, in die er ein hartgekochtes Ei hineinlegt, das er dann mit einer Grillzange wendet und mühsam wieder herausholt. Diese Bilder sind bei aller Albernheit aber auch total ergreifend. Alles wirkt so offen und verletzlich. Mir fällt kein filmisches Werk ein, das so gründlich vom Tod durchdrungen wäre wie das von Cavalier, der Übergang vom Lebendigen zum Leblosen, zu Starre und Verwesung ist seinen Arbeiten wesentlich. In Le Filmeur filmt er den Leichnam des Vaters, einen verrotteten Vogelkadaver, tiefgefrorenes Fleisch, verfaultes Obst, das Gebiss der Mutter, ihre ranzige Puderdose. Ein totes Eichhörnchen lässt ihm keine Ruhe, bevor er nicht seinen kleinen Körper mit der Kamera festgehalten hat. Er selbst wird im Laufe der Jahre mehrfach am Gesicht operiert, wo sich ein Hautkrebs ausbreitet, auch Françoise erkrankt an Krebs, vor der Operation filmt er ein letztes Mal ihre Brust.

 

Le Filmeur (2004)

© Alain Cavalier

 

Als er einen Dialog zwischen einer frischen und einer verfaulten Frucht inszeniert, fragt er sich, ob er in den Augen seines Enkelkindes wohl so aussehe wie die verfaulte. Ständig errichtet Cavalier Gräber, Altäre, Gedenkstätten und Reliquienschreine. Die Wände seiner Wohnung sind gepflastert mit Fotos, Zeitungsausrissen und Fundstücken, überall stehen Kürbisse (bevorzugt der Sorte Butternuss, weil die so gut auf ihrem Hinterteil sitzen) in den verschiedensten Stadien der Verrottung herum. In diese verfaulten Landschaftsbilder stellt er archaische Figuren, Holzscheite oder Äste, aus denen er Kruzifixe bastelt.

Eine große Lust an der Entweihung ist am Werk, die katholische Erziehung spielt ständig mit und verlangt nach Überwindung. Cavalier lässt heimlich eine Hostie aus der Kirche mitgehen und freut sich wie ein Kind über das begangene Sakrileg, gleichzeitig bricht er angesichts des Leibs Christi in seiner Hand in gespielte Panik aus. Le Paradis ist ein Dialog zwischen dem Mystischen und dem Profanen und eine Suche nach der Unschuld des Kinos. Cavalier erzählt Geschichten aus dem Neuen und Alten Testament aus der ersten Person, als seien sie ihm gerade eben erst passiert, als habe man noch nie im Leben von ihnen gehört: «Gestern beim Abendessen nahm ich ein Stück Brot …». Nichts ist ihm heilig oder eher: Alles ist ihm gleich heilig, gleich wert. Im Film erinnert sich Cavalier auch an die erste Kommunion und das innere Leuchten, das ihn dabei durchströmte. Ein ähnliches Gefühl habe er danach nur noch einmal erfahren: beim Verzehr eines Rollmopses bei Monoprix.

Auch die Porträts sind intime Begegnungen. In den Six portraits XL 1–6 (2017) filmt Cavalier unter anderem einen Schauspieler, einen Konditor, einen Schuster kurz vor der Pension und eine langjährige Freundin, die im Haus ihrer verstorbenen Eltern Schränke und Schubladen öffnet und Erinnerungen daraus hervorholt. Être vivant et le savoir, sein ich hoffe nicht letzter Film, ist der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Emmanuèle Bernheim gewidmet, mit der ihn seit dreißig Jahren eine tiefe Freundschaft verbindet. Cavalier möchte Tout s’est bien passé, ihr Buch über den verlangten Freitod ihres Vaters verfilmen (was nun François Ozon gemacht hat), mit ihm in der Rolle von André Bernheim. Doch dann muss sich die Freundin einer Krebstherapie unterziehen, und der Film wird zu einer flüchtigen Aufzeichnung von Spuren, Vanitasarrangements und Abschieden. Cavalier legt sich minutenlang aufs Bett und stellt sich vor, wie es wäre, einen Schlaganfall zu erleiden. Auf einen kleinen Altar, den er errichtet hat, legt er neben eine Kerze und eine Zeichnung zwei Schokoriegel, eine Freundin hatte sie ihm bei seinem letzten Besuch als Proviant für die Zugfahrt mitgegeben. Bernheim stirbt, er filmt in ihrer Wohnung, die noch ganz belebt ist von ihren Sachen, dann schaut er sich die Aufnahmen an, die er von ihr gemacht hat, sie ist wieder da, er kann sie begrüßen. «Wir Filmemacher, die Filmer, wir sind Primitive, wie diese kleinen romanischen Kirchen auf dem Land, die tausend Jahre alt sind», hat Cavalier in einem Gespräch einmal gesagt. Seine Filme sind nicht kompliziert, das ist wahr, aber den Begriff der Intimität hat er doch noch mal ganz neu gedeutet. 

 

Ce répondeur ne prend pas de message ist via derives.tv frei streambar; Irène ist auf YouTube zu finden; die DVD-Box Intégrale autobiographique de Alain Cavalier (u. a. Le Filmeur, Le rencontre) ist in Frankreich bei Pyramide erschienen