dokumentarfilm

Störung geht vor Alle haben ihre Auftritte und Rollen: Über Herr Bachmann und seine Klasse

Von Kathrin Peters

© Grandfilm

 

Die Schüler*innen betreten den Klassenraum zweimal: Weil eine beim Reinkommen spricht, werden alle wieder vor die Tür geschickt. Das Draußen liegt im Morgengrauen. Sie üben es noch einmal: schweigend eintreten, sich sammeln, Stühle von den Tischen und setzen. Die Klasse, die Maria Speth sechs Monate lang begleitet hat, wird mit diesem doppelten Eintritt eingeführt. Es ist zugleich ein Auftritt. Ein Klassenraum ist ja immer auch eine Bühne, auf der etwas vorgeführt und aufgesagt wird, auf der man sich in Szene setzt oder unweigerlich Teil einer Szene wird, dem Blick der anderen und dem des Lehrers ausgesetzt, der hier in dieser frühen Szene im Film das Hereinkommen aus dem Off beobachtet und unterbricht. Zu einer Bühne wird dieser Klassenraum der 6b in der Georg-Büchner-Schule in Stadtallendorf, Hessen, noch dazu durch das Filmteam, das ebenfalls im Off anwesend ist. Herr Bachmann und seine Klasse stellt so gleich zu Beginn eine Nähe zwischen dem Arbeiten in der Schule und dem Arbeiten am Film her, denn auch ein Film entsteht über Unterbrechungen, Schnitte und Wiederholungen.

Auf der Bühne des Klassenraums kann man nicht nur glänzen, man läuft auch Gefahr, vorgeführt zu werden. Manche tauchen da lieber ab. Den Kopf auf den Tisch zu legen ist ein häufiges Bild im Film. Um die Affekte zu beruhigen, Worte und Blicke zu unterbrechen, hat Dieter Bachmann, der Lehrer, das kollektive Abtauchen wie das gemeinsame Schweigen zu einem Ritual gemacht. Als Bachmann zum ersten Mal im Film auftaucht, erzählt er eine Geschichte von einem Tisch, der sich in eine schillernde E-Gitarre verliebt hat, und um sie zu gewinnen, schenkt er ihr einen mit Juwelen besetzten Gitarrenständer. Die Geschichte ist offenbar eine Improvisation, als gemeinsame jam session angelegt, in die die Schüler*innen nur widerwillig einstimmen. In der letzten Reihe halten sich beim Wort Ständer die ungefähr 13-jährigen Jungen grinsend die Hände vors Gesicht, aber Bachmann bekommt es nicht mit oder will es nicht mitbekommen. Es geht ihm um die Moral dieser kleinen Geschichte, und als Carolin erklärt, manche würden nicht nachdenken, sondern sich bestechen lassen, da meint Bachmann, das hätte er jetzt nicht besser sagen können. Bachmann ist vielleicht gerade deshalb ein besonderer Lehrer, weil er die Unterrichtsgestaltung auch entlang seiner persönlichen Interessen, besonders der Rockmusik, ausrichtet. Nicht pädagogische Strategie, sondern ein aufrichtiges Interesse an den Dingen und den anderen bestimmt sein Lehrersein. Als Bachmann einem Kollegen in der Mitte des Films erzählt, dass er zuweilen Zweifel habe, ob die Schüler*innen neben Jonglieren und Gitarrespielen genug lernten, dann möchte man ihn damit beruhigen, dass das Wichtigste am Unterrichten ohnehin ist, die Bälle möglichst lang in der Luft zu halten.

Der Lehrerfilm (in der männlichen Form) ist ein Topos des Kinos. Häufig wird, besonders im deutschen Film, der ewige Feuerzangenbowle-Plot durchgespielt, mit sogenannten Streichen, in denen die Ohnmachtsgefühle und Ängste, die Schulen produzieren, kathartisch überwunden werden, aber letztendlich in Kraft bleiben. Dann gibt es Filme, die um charismatische Lehrerfiguren organisiert sind, Lehrer, die mit ihren Schüler*innen um die Weitergabe der Kulturtechniken geradezu ringen. In Être et avoir (2002) von Nicolas Philibert sind Zahlen und Buchstaben unangenehme Einheiten, die kleinste Kinder in intensiver Zwiesprache abgefragt bekommen; der Lehrer der Dorfschule spricht hier überhaupt nur im rhetorischen Fragemodus mit den Kindern. Oder Entre les murs (Regie: Laurent Cantet, 2006), der die Arbeit des Lehrers mit seinen migrantischen und sozial deprivilegierten Schüler*innen in der banlieue als zermürbenden Kampf inszeniert. Zwar legt der Titel Herr Bachmann und seine Klasse ein ähnliches Narrativ nahe, in dem der gute Lehrer – der maître, Meister oder Professor – einer Kohorte von Kindern und Jugendlichen gegenübersteht. Tatsächlich stellen Dieter Bachmann, der Lehrer, und Maria Speth, die Regisseurin, etwas ganz anderes her: einen Raum voller Körper, die ihre Affekte und Beschwerlichkeiten, ihre Vorlieben und Abneigungen, ihre Lust und ihre Langeweile in eine Gruppe hineintragen, die dadurch überhaupt erst zu einer Gruppe wird. Die Lehrer*innen sind Teil dieser Szene, auch sie bringen ihre Geschichten mit. Die Klasse 6b wird nicht nur von Bachmann unterrichtet, sie hat – gemäß Konzept der Georg-Büchner-Gesamtschule – auch eine Lehrerin, Aynur Bal. Einmal spricht sie im Unterricht über Zugehörigkeit, und als Aymen von der Migrationsgeschichte seiner Familie erzählt, die von Marokko über Italien bis nach Stadtallendorf, Deutschland, reicht, wendet sie sich ab, weil ihr die Tränen kommen. Sie sei schwanger, führt sie als Erklärung für den Gefühlsdurchbruch an, und die Schwangerschaft spielt hier sicher nicht nur hormonell eine Rolle. Den Mädchen jedenfalls, die eben noch ihre eigentliche Zugehörigkeit zur Familie in der Türkei erklärt haben, fällt dann das türkische Wort für Heimat nicht ein. Das sagt vor allem etwas über die postmigrantische Gegenwart aus, in der Heimat so etwas wie eine deutsche Landschaft sein soll, Stadtallendorf für seine Bewohner*innen aber nur ein Durchgangsort ist.

Die Schüler*innen sind die tragenden Charaktere, sie halten den Film und liebend gern würde ich ihnen noch viel länger zuschauen als die dreieinhalb Stunden, in der der Film sie entwickelt. Alle haben ihre Auftritte und Rollen, im sozialen wie im filmischen Sinn. Rabia, die mit Mobbingerfahrungen aus einer anderen Schule gekommen ist, kann wieder Vertrauen fassen sowie ihre Mutter überzeugen, nicht noch einmal den Wohnort zu wechseln. Steffi spricht zunächst wenig Deutsch, dafür drei andere Sprachen, sie kann singen und backen und vor allem ihre Interessen verteidigen. Anders als Ferhan, die immer wieder abtaucht, nicht zuletzt in ihren Mänteln und Kapuzen, aber auch ihre Momente bekommt mit einem umwerfenden Lächeln und ihrer Freundschaft zu Ilknur. Wenn Ilknur sich probeweise das Kopftuch bindet, das Ferhan sich unter der Kapuze vom Kopf gezogen hat, sieht Ilknur schön aus, wie Ferhan findet, und auch Bachmann muss zustimmen. Anastasia, der Klassen­besten, geht alles gar nicht so leicht von der Hand, wie man meint. Wie sie geht auch Aymen nach der sechsten Klasse in den gymnasialen Zweig der Gesamtschule. Hasan spielt im Klassenorchester Schlagzeug, boxt und berichtet Bachmann von der Klassenliege aus, dass er Friseur werden will. Bachmann sitzt neben ihm und scheint zu spüren, dass er mit seiner Anregung, auch über andere Berufe nachzudenken, nicht durchdringen wird. Und Jamie, der im Film zunächst als Weißer auftritt, der nicht dauernd auf die Lernschwierigkeiten der anderen Rücksicht nehmen möchte, wird schließlich auf der Klassenfahrt zum Schuljahrsende als aufmerksamer Konfliktschlichter erkennbar.

Aber was heißt schon weiß? Alle haben hier eine Migrationsgeschichte. Jamies Vater ist als Siebenbürger aus Rumänien gekommen; Bachmann selbst erzählt, wie der Familienname seiner Großmutter, Kowalski, im Nationalsozialismus durch einen deutscher klingenden ersetzt wurde, Bachmann eben. Stadtallendorf war im zweiten Weltkrieg ein Standort der Rüstungsindustrie, in der Zwangsarbeiter beschäftigt wurden, darunter Kinder, ausschließlich aus Polen, Russland und Belarus. Dass gerade die deutsche Beschäftigung mit Rassismus die lange Geschichte der Rassifizierung von Osteuropäer*innen zur Kenntnis nehmen muss, und weiß eben keine Hautfarbe ist, erfahren die Schüler*innen und wir mit ihnen in der Gedenkstätte über Zwangsarbeit, dem DIZ Stadtallendorf. In den 1950er Jahren haben sich große Firmen, die Eisengießerei Fritz Winter und der Süßwaren­hersteller Ferrero, angesiedelt und Arbeitsmigration in großem Stil angereizt, besonders aus der Türkei und aus Italien. Dies sind die Arbeitgeber auch der Eltern – wenn sie denn Arbeit haben. Die Kamera von Reinhold Vorschneider setzt immer wieder städtische Szenen zwischen das Klassengewusel: das Fachwerkstädtchen, das Stadtallendorf einmal war und in Heimatfiktionen noch ist; aus Tarnzwecken mit Bäumen bewachsene ehemalige Fertigungshallen; Fabrikarbeit; Geschäfte und Geschäftsstraßen; Nachkriegsmietshäuser in gleißendem Frühlingslicht mit qualmenden Schornsteinen im Hintergrund. Herr Bachmann und seine Klasse ist auch ein Film über Stadtallendorf und (west-)deutsche Einwanderungsgeschichte. Oder anders: Von Schule lässt sich nicht erzählen, ohne die Geschichte der Orte, an denen sie stattfindet, zu entfalten.

Es ist wirklich ein Verdienst sowohl Bachmanns als auch Speths, die schulische Arbeit so sehr über die affektiven Ebenen und subjektiven Geschichten zu verstehen. Die im Klassenraum hin und her wogenden Übertragungsgefühle sind sehr schön beobachtet. Übertragung, also die Annahme oder Unterstellung, der oder die Andere wisse, was für eine*n gut ist, wisse mehr oder sogar alles, findet ja nicht nur seitens der Schüler*innen auf die Lehrer*innen statt, sondern auch umgekehrt. Auch die Lehrer*innen wollen etwas, was nicht bloß Lernerfolg ist. Aus Cengizhan, der in Film und Klassenraum ständig präsent ist, geradezu überflutet ist von der Kopräsenz der anderen, bricht es einmal heraus: Er liebe seine Klasse, und später zu seinem Lehrer gewandt: Ich habe Sie lieb. Wie könnte man das besser sagen? Die meisten Beziehungen spielen sich ohnehin zwischen den Schüler*innen ab, von Freundschaftsbekundungen, Berührungen, über Kämpfe und Verletzungen bis hin zu Liebesbeziehungen in einem (noch) offenen Sinn.

Etwas stört es daher, dass Bachmann in diese flottierenden Liebeslagen immer wieder ein gendering hineinträgt, die schönen Haare und Augen der Mädchen betont oder nach Paarbildungen und Heirat fragt. (Warum es gerade das Mann-Frau-Klassengespräch in den Trailer geschafft hat, ist wohl nur mit dem zu begründen, was Heteronormativität genannt wird. Es ist eine der wenigen Szenen, die ich als übergriffig und beschämend empfunden habe.) Viel Diffuseres und Offeneres spielt sich im Klassenraum ab. Regina ist mal wieder abgetaucht, als sie nach ihrer Meinung zu schwuler oder lesbischer Liebe gefragt wird, und murmelt nur, das sei ihr egal. Das ist die richtige Antwort, auch, weil sie sich auf die Frage selbst bezieht, lass mich in Ruhe mit euren Kategorien.

Herr Bachmann und seine Klasse kommt ins Kino, wenn das Schuljahr wieder angefangen hat und bis auf Weiteres so getan wird, als ob das sicher gut geht, trotz Pandemie und einem anderthalbjährigen Auf und Ab der Schließungen und Öffnungen. Der Film ist nicht in diesem Wissen entstanden, seine Produktionszeit hing vielmehr an der baldigen Pensionierung von Dieter Bachmann. Und doch macht der Film deutlich, dass sich Lernen in Kopräsenz abspielt und dass Schule einen physischen Raum braucht, selbst wenn der so abgerockt ist, wie städtische Gesamtschulen es in Deutschland wohl sind. Unterricht ist kein Kurs, den man besteht oder nicht, sondern eine gemeinsame Anstrengung. Nicht, dass digitale Räume von Affekten nicht überlaufen können, ganz im Gegenteil, das passiert ständig, und ganze Plattformen sind auf dem Umstand errichtet, dass Gefühle explodieren, gerade weil es kein Gegenüber gibt. Der Lehrer Bachmann ist zuletzt im leeren, von seinen Unterrichtsmaterialien wie Liege, Gitarren und Bibliothek entledigten Klassenraum zu sehen, er trägt die selbstgestrickte Mütze, die Hasan ihm zum Abschied geschenkt hat. Es ist klar, dass einige der in Speths schönem und klugen Film vorgestellten Kinder nicht zum Zuge kämen ohne die Unterbrechung von Familienpflichten und Familienerwartungen, die ein Schulbesuch eben auch darstellt.

 

Herr Bachmann und seine Klasse (Maria Speth) D 2021 | Kinostart am 16. September 2021