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Die Methode Neapel Vom sozialen Unten zum sozialen Oben: Über Martin Eden und Pietro Marcellos Kino der Durchlässigkeit

Von Hannah Pilarczyk

© Piffl Medien GmbH

 

Wie es für einen Film, der sich jeder klaren zeitlichen Zuschreibung entzieht, nur angemessen ist, beginnt die Vorgeschichte von Pietro Marcellos Martin Eden zwei Mal. Einen Großteil des Jahres 1906 verbringt Jack London an Bord der Ketsch «Snark», einem zweimastigen Segelboot, das er selbst entworfen hat und mit dem er die Welt umsegeln will. Der Bau des Bootes sowie der Erwerb von großen Ländereien im Sonoma Valley, Kalifornien, haben ihn an den Rand des finanziellen Ruins getrieben. Obwohl erst 31 Jahre alt, zeigt Londons Körper bereits Verschleißerscheinungen. Die Jahre, die er als Jugendlicher mit schwerer körperlicher Arbeit – erst als Austernpirat, schließlich als Matrose – verbracht hat, scheinen ihren Tribut zu fordern.

Doch London zwingt sich, an Bord der «Snark» jeden Tag 1000 Worte zu Papier zu bringen. Er erzählt kaum verholen seine eigene Geschichte, von den einfachen Verhältnissen, in denen er aufgewachsen ist, der Zeit auf See, der Begegnung mit einer jungen Frau aus dem Bürgertum, in die er sich verliebt und die in ihm den Ehrgeiz weckt, zu lesen und ein Schriftsteller zu werden, vom Ruhm, der plötzlich über ihn kommt, und der fehlenden Befriedigung, die dieser Ruhm mit sich bringt.

Der fertige Roman, Martin Eden, erscheint 1909 und fällt bei Kritik und Publikum durch. «It’s certainly sad to have one’s emotions take such unpleasant forms», schreibt ein Kritiker in The Bookman mit Bezug auf die schwierigen Zeiten, die London beim Verfassen durchmachte. Doch in der Folge gewinnt der Roman an Resonanz. Die inneren Verwerfungen Martin Edens finden in den äußeren Verwerfungen der Zwanziger und Dreißiger mehr Entsprechungen, erscheinen nachvollziehbarer, gesellschaftlich signifikanter. Bald schon wird das Buch als eines der besten des Autors gefeiert. 1914 wird es zum ersten Mal verfilmt, 1949 folgt The Adventures of Martin Eden mit Glenn Ford in der Titelrolle, RAI und ZDFadaptieren den Roman 1979 in Ko-Produktion für einen Vierteiler.

Während die vorherigen Verfilmungen alle Oakland, Londons langjährige Heimatstadt, als Spielort aus dem Roman übernehmen, verlegt Pietro Marcello Martin Eden nach Neapel, in seine eigene langjährige Heimatstadt. Die Verlagerung ist keine einfache Re-Kontextualisierung einer Geschichte unter veränderten geografischen und historischen Bedingungen: Neapel ist nicht nur Ort, die Stadt kann auch als Methode verstanden und angewandt werden.

In den 1920er Jahren ist der Golf von Neapel das bevorzugte Reiseziel von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno. Viele ihrer Werke werden in dieser Zeit von Kultur und Landschaft der Region inspiriert. Kracauer schreibt über den «Felsenwahn in Positano», Adorno, so deutet es Martin Mittelmeier in seiner Monografie Adorno in Neapel (2013) aus, hat am Krater des Vesuvs die schicksalshafte Eingebung für sein Konzept der Konstellation. Benjamin wiederum lernt auf Capri, der berühmten Insel vor Neapel, 1924 die lettische Schauspielerin und Regisseurin Anna «Asja» Lacis kennen. Kurze Zeit später schreiben sie mit Neapel einen Aufsatz, der – ihrem Sujet angemessen – in der Mitte beginnt und in der Mitte aufhört.

Ausgehend vom Tuffgestein, das in der Stadt viel verwendet wird, entwickeln sie das Denkbild der Durchlässigkeit, der Porosität. Wie das Gestein, das eigentlich abgekühltes Magma ist, das durch entweichende Wasserdämpfe und Gase löchrig wird, so porös ist für sie auch Neapel. «Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ‹so und nicht anders›.»

Emblematisch dafür ist das basso, das typische Erdgeschoss in den Häusern der Quartieri Spagnoli. In den engen und hohen Straßenzügen des innerstädtischen Arbeiter- und Armutsviertels kommt kaum Licht und Luft an die bassi. Die Bewohner lassen deshalb meist ihre Wohnungstüren offen, Straße und Wohnraum durchdringen sich so gegenseitig. «Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über», schreiben Benjamin und Lacis. «In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden.»

Neapels Porosität als Denkfigur findet in Marcellos Version von Martin Eden ihre Anwendung aufs Kino. Auch sie setzt zwei Mal an: Mit der Verlagerung von Oakland nach Neapel haben Marcello und sein Co-Autor Maurizio Braucci Martin Eden thematisch durchlässig gemacht, noch bevor die Handlung ihres Films bei einem Tanz auf einem der wenigen offenen Plätze der Quartieri Spagnoli einsetzt. Vor Ort machen sie Porosität schließlich selber zum inszenatorischen Stoff: In der Kleidung der Figuren gehen die Dekaden durcheinander, seidene Schluppenblusen gemahnen an die Siebziger, grobe Arbeiterkleidung an die Zwanziger, schmale Lederjacken an die Achtziger.

Sprachen vermischen sich, Martin Edens Verlobte Ruth wird in Elena umgetauft, sein Gönner Russ Brissenden behält dagegen seinen Namen. Sozialisten versuchen, die Arbeiterschaft vor Ort zu agitieren, aber ob vor oder nach der russischen Revolution? «All that can be said with any certainty is that the story is set in the 20th century», vermerkte der Hollywood Reporter spürbar enerviert nach der Premiere von Martin Eden in Venedig 2019. Und selbst diese Zuschreibung erscheint nicht ganz exakt: In zwei Bildern sind afrikanische Migranten zu sehen, einmal auf einem Feld, einmal am Strand, ganz so, als läge Lampedusa und nicht Capri vor Neapel.

Hinzu kommt das Spiel mit dem Filmmaterial. Zwischen das taktile 16mm bzw. Super-16mm-Material seiner Originalaufnahmen mischt Marcello immer wieder historische Szenen. In Schwarzweiß sind einmal unvermittelt Arbeiter, die auf Booten zwischen den Docks von Neapel kutschiert werden, zu sehen. Wie Puncta im Sinne Roland Barthes’ stechen diese Bilder in die tatsächliche Geschichte durch und lösen den Titelhelden – und mit ihm seinen Film – für einige Momente aus der Verantwortung, pars pro toto zu sein.

Andere Szenen sind wiederum durch Farbfilter und niedrigere Bildwechselfrequenz so bearbeitet, dass sie wie historische Aufnahmen wirken. Sie stoßen in die verschiedenen psychologischen Tiefen von Marcellos Erzählung vor: Manchmal illustrieren sie Martin Edens eigene Gedanken, etwa Erinnerungen an seine entbehrungsreiche Kindheit, die nun ein hohläugiger Bub durchlebt. Manchmal skizzieren sie die großen erzählerischen Bögen des Films wie etwa der Viermaster, der anfangs triumphal in See sticht. Erst viel später ist das Schiff wieder zu sehen. Doch nun scheint es mit Wasser vollzulaufen, innerhalb von Sekunden sinkt es ab und wird vom Meer begraben.

Die Uneinheitlichkeit des Filmmaterials erinnert an die Anfänge des Neorealismus. Für Roma, città aperta musste Roberto Rossellini 1945 noch notgedrungen auf drei verschiedene Arten Filmmaterial, darunter auch abgelaufenes Zelluloid, zurückgreifen, um seinen Film fertigstellen zu können. Marcello hat für Martin Eden ebenfalls abgelaufenes Filmmaterial verwendet, der Mix enthält bei ihm darüber hinaus noch einen autobiografischen Verweis: Marcello begann zunächst als Dokumentarist und drehte Filme wie La bocca del lupo (2009) oder Il silenzio di Pelesjan (2011). Erst 2015 wandte er sich mit Bella e perduta der Fiktion zu, mischte aber auch hier dokumentarisches Material zwischen Re-Enactments und reine Spielszenen.

 

Bella e perduta (2015)

© The Match Factory

 

Gruppiert ist Bella e perduta um den echten Hirten Tommaso Cestrone, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den bourbonischen Palast von Cartidello in Kampanien persönlich vor dem Verfall zu bewahren, da keine staatlichen Mittel mehr für dessen Erhalt zur Verfügung gestellt werden. Für welche lohnenderen Projekte Steuergelder ansonsten eingesetzt werden, ist nicht ersichtlich. Seit Jahrzehnten plagt die Region eine zutiefst korrupte Müll- und Entsorgungswirtschaft, der die Politik nichts entgegenzusetzen hat. Illegal entsorgter Giftmüll, den die Mafia angezündet hat, hat Kampanien auch den Namen terra dei fuochi, Land der Feuer, eingebracht.

Als Vorreiter eines ganz persönlich verstandenen Widerstands gegen die Verhältnisse gefeiert, stirbt l’angelo di Cartidello, wie Cestrone von der Regionalpresse genannt wird, jedoch während der Dreharbeiten zu Bella e perduta. Marcello improvisiert und lässt ein Büffelkalb, gesprochen von Elio Germano (Vole vonascondermi), an dessen Stelle durch den Film führen. Selber ein Abfallprodukt einer globalisierten Agrarwirtschaft, die zur Herstellung von mozzarella di bufala nur Verwendung für die milchgebenden Büffelkühe hat, durchschreitet das Kalb vom südlichen Kampanien bis nach Norditalien ein Land, das seine Verbindung zur eigenen Geschichte und Kultur verloren hat. Hochromantische Bilder von diesig-verhangenen Wiesen stoßen auf Fernsehaufnahmen von Demonstrationen gegen den Einfluss der Camorra. Allein ein Pulcinella, eine Kasperfigur aus dem neapolitanischen Volkstheater, die eine hohe weiße Mütze und eine schwarze Schnabelmaske trägt, steht dem Kalb bei seiner Reise zur Seite. «O mia patria, si bella e perduta», singt der Gefangenenchor in Giuseppe Verdis Nabucco.

Obwohl als Literaturverfilmung und ambitionierte Großproduktion angelegt, teilt Martin Eden seine Grundanlage in wesentlichen Zügen mit Bella e perduta. Wie bei seinem Vorgängerfilm erzählt Marcello eine einfache Geschichte mit einer klaren Stoßrichtung vor einem extrem materialreichen, dicht collagierten Hintergrund. Dieser Hintergrund ist als solcher stets sichtbar, wirkt jedoch nicht auf die Geschichte ein, sondern entlastet sie, indem er die Auslassungen des Drehbuchs ergänzt und kontextualisiert.

Während das Büffelkalb von Süden nach Norden strebt, zieht es Martin Eden vom sozialen Unten zum sozialen Oben. Weil er den Sohn der reichen Familie Orsini vor einer Schlägerei bewahrt, wird er als Dank zum Essen ins Familienanwesen eingeladen. Umgeben von Ölgemälden und Gedichtbänden, vor allem aber angesichts der delikaten Schönheit von Tochter Elena (Jessica Cressy), entwickelt Martin Eden (Luca Marinelli) ein dringendes kulturelles Begehren: Er will einer von ihnen werden, ein Bildungsbürger. Und beschließt, dafür Schriftsteller zu werden, obwohl er nicht einmal die Volksschule beendet hat.

Wie für Elena ist Martin Edens Bestreben, als Schriftsteller zu reüssieren, auch für die Zuschauerin schwer nachvollziehbar. Doch ein anderes Begehren hebt die Distanz zu ihm auf: Martin Eden ist unwiderstehlich anzuschauen. «Che bello, no?», ist der erste Satz des Films, gesprochen zwischen zwei Freundinnen, die Martin während einer Tanzveranstaltung unter offenem Himmel bewundern. Später wird er mit einer von ihnen das Fest verlassen und mit ihr an Deck des Frachters, auf dem er bislang angeheuert hatte, zwischen dicken Tauen und Öllachen schlafen.

Die Freude des Films an der physischen Schönheit seines Hauptdarstellers ist einfach und grundlegend. Immer wieder setzt die Kamera von Alessandro Abate und Francesco Di Giacomo an, um Marinellis imposante Nase aus einem anderen Blickwinkel wirken zu lassen, seine Haartolle in Szene zu setzen und sich aufs Neue davon überraschen zu lassen, was für helle Augen unter seiner bulligen Braue erstrahlen.

Marcellos Begeisterung für seinen schneidigen Helden ist nicht ohne Humor – dafür stellt sie sich selbst viel zu sehr aus. Sie ist aber ohne Ironie, denn sie steht dafür ein, dass in einer Geschichte über sozialen Aufstieg, die Verfehlungen des Individualismus und die Unrettbarkeit der Bourgeoisie auch visuelle Lust befriedigt werden darf. So gehört zu Pietro Marcellos Kino auch, dass es vermeintlich widerstrebende cinephile Begehren zusammen bringt: den Wunsch nach einem maximal durchdachten Umgang mit Stoff, Material und Filmgeschichte sowie die Sehnsucht nach Schönheit.

Während Martin Eden bei Jack London Suizid begeht und sich im Meer ertränkt, endet seine Geschichte bei Marcello nicht so eindeutig und unbedingt. Mit der letzten Szene im Film könnte sich ein Kreis schließen oder eine Wiedergeburt beginnen, sich Martin Edens Geschichte an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wiederholen.

Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ‹so und nicht anders›.