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Being the Stream Vier Tage beim Big Sky Film Fest in Missoula, Montana

Von Rainer Komers

 

Am letzten Festivaltag, einem Sonntag, nehme ich die Brücke über den vereisten Clark Fork River, um in der Bäckerei Le Petit Outre ein Baguette für die Rückreise zu kaufen. Im Rucksack sind fünf Päckchen Montana Beef Jerky, die ich auf der Higgins Avenue (mit dem oben abgebildeten historischen Festivalkino Wilma) bei Worden’s Market & Deli erstanden habe. Am Oberlauf des Clark Fork River liegt die ehemalige Bergbaustadt Butte. Von dort aus gelangten Arsen, Schwermetalle und andere Gifte stromab bis zum Milltown Dam. 2008 wurde mit dessen Abriss und der Entsorgung von fünf Millionen Kubikmetern verseuchter Sedimente begonnen. Szenen von diesem größten und kostspieligsten Cleanup der USA zeigt mein Film Milltown, Montana.

Missoula ist eine Universitätsstadt mit zahlreichen Büchereien. Bei früheren Aufenthalten habe ich dort in einem Antiquariat Auguries of Innocence, einen Gedichtband von Patti Smith (von ihr signiert), und bei Shakespeare & Co Catching the Big Fish von David Lynch (der in Missoula geboren wurde) gekauft. Jetzt stehe ich im Schnee wieder vor dem Shakespeare, kurz bevor er um 16 Uhr schließt. Woody Kipp, Englischlehrer am Browning Community College in der Blackfeet Reservation, hatte mir bei einem Besuch in seinem Trailer in East Glacier Richard Hugos Gedichtband Making Certain It Goes On geschenkt. Hugo, der als Creative Writing-Lehrer an der University of Montana den Lyriker Gary Snyder zu einem Gastvortrag eingeladen hatte, schrieb ihm nach dessen Abreise: «Dear Gary: As soon as you’d gone winter snapped shut again on Missoula. Right now snow from the east and last night cold enough to arrest the melting of ice. My favorite bouncer, wind, stopped throwing clouds out of the joint for being too gloomy. In short, you’re gone and we’ve gone back to being a small dreary city. Some of your grace hangs on.»

Ich frage die Buchhändlerin nach dem Lyrik-Regal. Es ist prall gefüllt. Wo anfangen, wo aufhören? Elizabeth Bishop? Ich stoppe bei No Nature – New and Selected Poems von Gary Snyder – schon etwas abgegriffen, der Umschlag geknickt, 20 Dollar. «Möchten Sie eine Tüte?» Das Buch wandert zu den Jerky-Päckchen in den Rucksack, und mit meinen Spikesschuhen klappere ich über das Parkett nach draußen in den eisigen Ostwind, der vom

Hellgate Canyon den Clark Fork River herunterweht. Gary Snyder ist, wie auch David Lynch, ein Anhänger der Meditation: «Meditation is not just a rest or retreat from the turmoil of the stream or the impurity of the world. It is a way of being the stream, so that one can be at home in both the white water and the eddies. Meditation may take one out of the world, but it also puts one totally into it.»

Ich fühle mich dem Festival, den Freunden, die ich dort gefunden habe und dem Ort in dieser dünn besiedelten, rauen Landschaft sehr verbunden. Die erste Nacht verbringe ich bei Doug Hawes-Davis, Naturfilmer und Programmdirektor des Festivals. Er zeigt mir das Geweih eines Wapiti-Elks, den er kürzlich in einer unwegsamen Bergregion geschossen hat. Er traf ihn am vierten Tag. So ein Hirsch kann 350 kg wiegen. Er muss zerlegt und meilenweit durch den Wald bis zum Truck geschleppt werden. Die beiden folgenden Tage übernachte ich bei Andy Smetanka, einem Silhouetten-Animationsfilmer in der Nachfolge Lotte Reinigers. Er arbeitet im Stopptrick-Verfahren mit einer sowjetischen Quarz Super 8-Kamera. Für seinen ersten Langfilm And We Were Young – eine Geschichte über die Maas-Argonnen-Offensive am Ende des Ersten Weltkriegs – fertigte er mehr als 250 000 Einzelbilder. Das Kampfgeschehen in den Ardennen wird in einer Intensität geschildert, wie ich es bisher nur in Célines Reise ans Ende der Nacht kennengelernt habe. Von einem abgelegenen Ort wie Missoula ein solches Mammutwerk in die Welt zu tragen, ist schier unmöglich. Diese Erfahrung hat bei Andy, Joanna und ihren drei Kindern Umzugspläne ausgelöst. 2007 hatte Andy schon einmal einen Ausbruchsversuch gewagt, als er zu Guy Maddin nach Kanada trampte und für dessen Film My Winnipeg die panische Flucht von Rennpferden aus einem brennenden Stall in den eisigen Red River animierte. Bei ihrem letzten Rennen blieben die Tiere bis zum Widerrist und zur Schulter im Eis stecken, erstarrten dort mit aufgerissenen Mäulern, um als schaurige Skulpturen und Attraktion für die Bewohner den Winter zu überdauern. Auch für Isabella Rossellini und ihre Serie Burt’s Bees hat Andy Silhouetten-Animationen gemacht. Doch wie geht es nach solchen Teilerfolgen weiter? Diese existenzielle Frage stellt sich nicht nur für ein Ausnahmetalent wie Andy.

Michael Galinsky hat in der Lower East Side, in Williamsburg und in anderen Teilen von Brooklyn gelebt. Dort hat er zusammen mit seiner Frau Suki Hawley Battle for Brooklyn gedreht, einen Film über das milliardenschwere Atlantic Yards-Projekt des Investors Bruce Ratner, und wie sich Mieter und Wohnungsbesitzer gegen dessen Abrisspläne zur Wehr setzen. Nach Missoula hat er The Commons mitgebracht. Der Film dokumentiert eine monatelange Kampagne von Collegestudent*innen in Chapel Hill, North Carolina, wo Michael aufgewachsen ist und jetzt wieder lebt. Die Aktivist*innen fordern die Beseitigung eines «Silent Sam» genannten Konföderierten-Denkmals, das 1913 von Verfechter*innen der white supremacy auf dem Campus errichtet wurde. Mit einem Trick und einem Seil gelingt es den Protestierern, den Bronzesoldaten unter den Augen der Polizei vom Sockel zu stürzen. Nach Big Sky 2019 wurde The Commons auch auf dem angesagten True/False Film Fest gezeigt.

Blowin’ up von Stephanie Wang-Breal steht ganz in der Tradition von Frederick Wiseman. Beobachtet werden Prozesse in einem Gerichtssaal in Queens, wo Frauen ohne Papiere wegen Prostitution angeklagt und mit Gefängnis oder Ausweisung bedroht werden. Richterin, Staatsanwältin und Verteidigerin stehen gemeinsam an der Seite der Frauen und bemühen sich nach Kräften, innerhalb eines bizarren Strafsystems menschliche Entscheidungen herbeizuführen bzw. zu fällen. Blowin’ up hat den konventionellsten Look der hier vorgestellten Festivalfilme. Gestartet wurde er in Tribeca, gefolgt von Hot Docs, AFI Docs und der Full Frame Film Series – eine Festivalserie, die Verkäufe verspricht.

 

Pariah Dog (2019)

© Jesse Alk

 

Jesse Alk hat mit Pariah Dog seinen Erstlingsfilm vorgelegt und bei dessen Weltpremiere in Missoula gleich den Best Feature Award gewonnen. Die Geschichte handelt von Straßenhunden in Kolkata und ihren eigensinnigen Beschützer*innen. Der exzellent vom Regisseur selbst über eine Strecke von 2 ½ Jahren fotografierte Film ist eine empathische Ode auf das Hundeleben, Sterben und Überleben im bengalischen Großstadtdschungel. Die Website des Films ist ähnlich perfekt gemacht wie die von Blowin’ up, doch bei Jesse ist am Ende zu lesen: «Pariah Dog is currently seeking festival and distribution opportunities.» Der Weg zum Box Office im Kino und zu den Slots der TV-Sender ist für so anspruchsvolle und eigenwillige Filme wie die von Andy und Jesse weit, und besonders weit von Missoula aus. Tausende machen sich jedes Jahr auf den Weg, darunter die Besten und Talentiertesten – um ihre Filme am Ende zu streamen wie Travis Wilkerson.

Travis Wilkerson, diesem ästhetisch wie politisch extrem unruhigen Geist, ist eine Masterclass und eine Retrospektive in Missoula gewidmet. An Injury to One (2002) schildert den letzten Einsatz des radikalen Gewerkschafters und Kriegsgegners Frank Little in Butte. Nach dem Granite Mountain Mine Desaster im Juni 1917, dem 168 Bergleute zum Opfer gefallen waren, half Little der dortigen Copper Miner’s Union, einen Streik gegen die Anaconda Mining Company für mehr Arbeitssicherheit und höhere Löhne zu führen. Frühmorgens am 1. August wurde er von einem Mordkommando entführt und grausam gelyncht. Wie in mehreren seiner Filme verbindet Wilkerson auch hier Landschaftsaufnahmen, Typografie, Text, Archivmaterial und Musik zu einem experimentellen, genuin amerikanischen Agitprop. Überhaupt ist er ein glänzender Rhetoriker mit einem beeindruckenden Bariton, der die Texte seiner Filme selber spricht. In Did You Wonder Who Fired theGun? (2017) tut er das live auf der Bühne und mit beachtlichem Einsatz, während der Film läuft. Zwar beneiden die anderen Künste den Kinofilm um seine audiovisuelle Präsenz, aber trotz allem bleibt das Geschehen auf der Leinwand virtuell, und es liegt in der Vergangenheit, während Travis als Sprecher wie als Person im Saal physisch und mental gegenwärtig ist. Noch einmal Gary Snyder: «When the mind is exhausted of images, it invents its own.» Wie lässt sich im anschwellenden Strom der bewegten Bilder Aufmerksamkeit erzeugen a) für den Film, b) bei den Zuschauern selbst?

 

Did You Wonder Who Fired the Gun? (2017)

© Travis Wilkerson

 

In seinem Live Performance-Film macht Wilkerson eine Reise nach Alabama und in die Vergangenheit seiner Familie. In der Stadt Dothan, bekannt als «Peanut Capital of the World», hat sein Urgroßvater mütterlicherseits 1946 den Schwarzen Bill Spann erschossen – ein Mord, der wie so viele im Land der white supremacy ungesühnt blieb und in der Familie lange verheimlicht wurde. Travis befragt sich selbst, engste Verwandte, Bürgerrechtsaktivisten, recherchiert ein weiteres rassistisches Verbrechen. Ein schmerzhafter Prozess, in den Abgrund der eigenen Familie zu blicken, in Home Movies wieder und wieder dem lachenden Mörder zu begegnen. Kolorierte und negativ umkopierte Einstellungen mit Gregory Peck, dem paternalistischen Gutweißen aus To Kill a Mockingbird, rahmen Wilkersons Suche nach der verlorenen Zeit ein. Did You Wonder Who Fired the Gun? wurde, bevor er als Stream und auf DVD herauskam, auf den bedeutenden Festivals Sundance und Locarno und in 16 Bundesstaaten im Kino gezeigt.

Auch bei meiner Vorführung von Barstow, California versuchen wir das virtuelle Leinwandgeschehen um den Protagonisten Spoon Jackson und seinen Geburtsort in der Mojave Wüste um eine Gegenwartsebene zu erweitern. Über eine von Skype gemietete Telefonnummer und einen Account beim ConnectNetwork GTLkann Spoon mich anrufen. Noch während der letzten Sekunden des Abspanns dröhnt das Ding Dong des Skype-Telefons: «What’s up?» Wir haben verabredet, dass er so kurz nach dem Film keine Gedichte liest, sondern dass Doug Hawes-Davis als Q & A-Moderator, ich und gegen Ende auch das Publikum mit Spoon reden: über unsere jeweiligen Orte, das Gefängnis und das Festivalkino, über Spoons Entwicklung zum Schriftsteller und über seine Situation als Gefangener, der nach einem fehlerhaft geführten Prozess seit 41 Jahren eingekerkert ist. Ganz zum Schluss, in der 12. Minute, liest Spoon ein Gedicht, das sich mit dem Motto des Festivals «Where Reality Plays Itself» deckt.

 

REAL

Realness eats raw meat

and does not waver

nor drift on the currents.

He has the staying power

of the sun.

Realness walks only in his

own shoes.

 

2010 zeigte ich beim Big Sky Festival Milltown, Montana(den anfangs erwähnten zweiten Film aus der «The American West»-Trilogie) mit bibbernden Knien. In Missoula, Butte und Browning saßen im Publikum die «Experten des Alltags» (Rimini Protokoll), denen der deutsche Filmemacher seinen Spiegel vorgehalten hatte. Mit einem blauen Auge, verpasst von einem Lokalreporter in Missoula, war ich damals davongekommen. Jetzt freue ich mich über die Einladung mit Barstow, dem dritten Trilogie-Film, in die Big Sky High School, die am Stadtrand in der Nähe des Bitterroot River liegt. Melissa, eine Sonderschullehrerin, fährt mich hin. Stolz berichtet sie während der Fahrt von einer Aktion beim Trump-Besuch in Missoula letzten Oktober. Aktivist*innen hatten auf dem stadtnahen Mount Jumbo in farbigen, großen Nylon-Lettern das Wort «LIAR= LÜGNER» ausgelegt, gut sichtbar für die Präsidentenmaschine Air Force One und alle Medien. Missoula ist eine überwiegend liberale, umweltbewusste Stadt.

Angekommen in der Schule werden wir von Scott Mathews empfangen, der Problemschüler*innen beim Abschluss hilft und den internationalen Schüleraustausch moderiert. 2013/14 hat er neun Monate lang den Hamburger Austauschschüler Diren Dede betreut. Scott zeigt mir im Flur eine lange Tafel mit den Namen der Sportler, die bei All State-Turnieren ausgezeichnet wurden, darunter auch Diren, der als Verteidiger in der Schülerelf spielte. Der 17-jährige Hamburger wurde im April 2014 bei einer garage hopping genannten Mutprobe von einem paranoiden Hausbesitzer erschossen. Seine entsetzten Gasteltern sagten daraufhin: «It’s heartbreaking. This is not who we are, as a country, as a state and as neighbors too.»

Acht Schülerinnen und zwei Schüler eines Literaturkurses erwarten uns. Ihre Bilder und Texte werden in der Aerie International Collection of Student’s Literature and Visual Art publiziert. Meinen Film haben sie schon tags zuvor gesehen. Scott ist ein Mensch, der nicht viele Worte macht. Er ging davon aus, dass das Gespräch nicht viel länger als 15 Minuten dauern würde – am Ende dauerte es 90 Minuten.

Zurück auf der Higgins Ave suche ich nach Gebrauchtbüchern. In The Bird’s Nest – Books & Stuff bin ich der einzige Kunde. Fündig werde ich bei einer Publikation der University of Alaska, betitelt Kassigeluremiut, einer Sammlung von Schwarzweißfotos und Gedichten, geschrieben in Englisch und Yup’ik (oder Yugtun) von Schülern in Kasigluk, einer Yup’ik-Ansiedlung im Yukon Delta National Wildlife Refuge. Nick, John, Paul und Mike heißen die Autoren. Einer schreibt über die verzweifelte Suche nach seinem Bruder.

Last two years ago I was at camp | And I heard my brother was lost | I was unhappy because he is the one who help me | With anything that can be done | I went home and my dad was no there he was at | Nunapitchuk waiting for my brother to stop | But he didn’t come home so we wait for three days | And three nights | And then I went to bed and cannot sleep good | Because I was thinking of my brother that he been lost | Soon I wake up and Dad he tell me that they find him | Near the Agoola with frozen feet.

In Nome an der Beringstraße, wo ich 2002 den ersten Teil der «The American West»-Trilogie gedreht habe, begegnete ich einem Jäger, dem Ähnliches widerfahren war wie dem Bruder im Kasigluk-Gedicht. An der vom Ausweiden blutigen Hand, mit der er den Abzug seines Sturmgewehrs betätigt hatte, fehlten alle Finger.