Tiananmen/Khartum
Tiananmen 3./4. Juni 1989 / Khartum 3. Juni 2019 – mit diesem Eintrag auf Facebook reagierte ein Freund auf die Ereignisse im Sudan an dem Tag, an dem der muslimische Fastenmonat Ramadan endete. Milizen griffen die Demokratiebewegung an, einen Tag später war von sechzig Toten die Rede. Der Vergleich mit der Volksrepublik China hat sein Vergleichsdrittes in erster Linie in diesem Datum: Man gedenkt am 3. Juni einer niedergeschlagenen Freiheitsbemühung und sieht die Niederschlagung einer anderen. In China wandte sich vor vierzig Jahren eine (vorgebliche) Avantgarde gegen eine andere: Die Partei setzte gegen die Studenten ihre Vorstellung von einem zentralistisch gesteuerten System durch. Es dauerte danach im Grunde bis heute, bis man in Europa begriff, dass nun tatsächlich ein Systemkonkurrenzverhältnis vorliegt, das sich mit der Regierung Trump in den USA zusätzlich differenziert hat: einer technokratisch-digitaloffensiven, neokolonialen Superkontrollgesellschaft in China und einer neofeudal-oligarchischen hegemonokolonialen Militärgroßmacht mit liberalen Enklaven steht das prozedural überlastete, intellektuell ängstliche Nationalinteressenskonglomerat EU gegenüber, in dem « die Wirtschaft » vor allem auf die Rettung der letzten Reste der alten « Globalisierung » setzt. Das Votum, mit dem Russland und China im UN-Sicherheitsrat eine Verurteilung der Gewalt im Sudan verhinderten, zeigte aber einmal mehr, dass « Völker » mit ihren Hoffnungen auf « Selbstbestimmung » an keine universale Norm mehr appellieren können. Der Sudan ist ein Wüstenstaat, in dem es bei den Protesten zuerst einmal um die revolutionäre Grundeinheit ging: um den Preis eines Stücks Brot. Der Sudan ist aber auch ehemalige britische Kolonie, ehemaliges Rückzugsgebiet von Osama Bin Laden, gegenwärtiger Fluchtkorridor nach Europa (weitgehend geschlossen durch Alimentierung der Milizen, die nun auf das eigene Volk schießen) und Nachbar von Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die derzeit alle darauf warten, wie Trump-Kushner den Palästinakonflikt durch die Abschaffung der Palästinenser lösen will. In einer solchen Situation für eine Demokratisierung zu kämpfen, in einem Land, in dem wohl danach erst die Klärung der Freiheitlichkeit der Demokratie zwischen frommen Muslimen und bereits jetzt als Sündenböcke dienenden Säkularen ansteht, ist ein Wagnis, das jede Unterstützung verdienen müsste. Da das Regime im Sudan, das einfach einen alten Despoten durch neue ersetzen möchte, über die Kommunikationsmittel verfügt, sind in diesen Tagen zittrige Handyvideos auf Twitter das wenige, was man aus dem im Juni 2019 wohl wichtigsten politischen Kampf mitbekommt. Wenn alles so ausgeht, wie es zu befürchten ist, wird man in dreißig Jahren daran kaum mehr denken. Für den Augenblick aber ist das Pathos der Konjunktion Tiananmen Khartum die angemessene Reaktion ohnmächtig solidarischer Beobachter im sicheren Europa.