serien 2009

Amerika im Jahre Null Mit Mad Men, einer Fernsehserie über eine Werbeagentur im New York der 60er Jahre, erschließt Matthew Weiner neue Dimensionen des historischen Erzählens

Von Bert Rebhandl

© AMC

 

Wann beginnt die Gegenwart? Seltsame Frage, vor allem, wenn man sie historisch zu beantworten versucht. Die Gegenwart beginnt vielleicht 1989, als der Kommunismus zusammenbrach, oder 2001, als die Verwundbarkeit der reichen Zivilisationen sichtbar gemacht wurde. Die amerikanische Fernsehserie Mad Men macht einen anderen Vorschlag: Die Gegenwart beginnt 1960. In diesem Jahr gewinnt John F. Kennedy in den USA die Präsidentschaftswahlen gegen Richard Nixon. Aber das ist nur ein Faktum, hinter dem sich eine wesentlichere Bewegung verbirgt. 1960 beginnt das, was man später die «Sixties» nennen würde: ein Jahrzehnt, in dem das Verhältnis von Politik und Kultur neu bestimmt wird. Die 60er Jahre sind für die Generation, die momentan an vielen Schaltstellen des öffentlichen Lebens sitzt, das, was der amerikanische Journalist Thomas Frank in seinem Buch The Conquest of Cool das «temporal homeland» nennt. «For as long as America is torn by culture wars, the 1960s will remain the historical terrain of conflict. Although popular memories of that era are increasingly vague and generalized (…) we understand ‹the sixties› almost instinctively as the decade of the big change, the birthplace of our own culture, the homeland of hip, an era of which the tastes and discoveries and passions, however obscure their origins, have somehow determined the world in which we are condemned to live.»

Die erzählte Zeit der Serie Mad Men beginnt im Mai 1960. Sie beginnt mit einer Ankündigung, die sich auf die individuelle Lebensspanne der Hauptfigur Don Draper bezieht, die aber auf die ganze Generation gemünzt ist. «Reader’s Digest says it will kill you», antwortet ein Kellner, dem Draper eine Zigarette der Marke Lucky Strike angeboten hat. Draper, der für eine Werbeagentur an der Madison Avenue in New York arbeitet und gerade über eine Kampagne für Lucky Strike nachdenkt, sieht sich um und sagt: «Yeah, I heard about that.»

Die Szene könnte beiläufiger nicht sein, und doch enthält sie schon zwei wesentliche Informationen über die Serie Mad Men. Sie wird diesem Mann, den sie sich zur Hauptfigur gemacht hat, potentiell bis an sein Lebensende folgen. Und sie wird dabei dieses Milieu nicht aus den Augen lassen, in dem es so entscheidend darum geht, die Kanäle des Wissens zu bespielen. Die Mad Men, die «Männer der Mad(ison) Avenue», stehen im Plural. Don Draper ist nur einer von ihnen, schon bald kennen wir eine ganze Menge, die beiden älteren Partner und Inhaber der Werbeagentur Sterling Cooper, und die jüngeren «copy writers» und «account amangers». Don Draper steht zwischen diesen beiden Gruppen, er ist der Mann, über dessen Tisch alle Entscheidungen laufen, aber er muss sie in erster Linie vermitteln, er trifft sie als (sehr gut bezahlter) Angestellter.

Mann ohne Geschichte

Das Moment des Nullpunkt, des Neubeginns bekommt in der Figur von Don Draper auch noch eine biografische Note. Er ist nämlich gar nicht er selbst. In Wahrheit heißt er Dick Whitman, seine Herkunft und seine familiären Umstände tauchen in der Serie immer wieder als Flashbacks dann auf, wenn Draper sein kompliziertes Leben aus dem Griff zu verlieren droht. Er ist ein Kind der wirtschaftlichen Depression, im Koreakrieg hat dieser Dick Whitman eine dramatische Situation genutzt, um sich eine neue Identität zu verschaffen: er eignet sich die Erkennungsplakette des Soldaten Don Draper an, lässt dann aber auch sehr bald dessen Leben (und Ehefrau) hinter sich und geht nach New York, um ganz neu anzufangen. Ein Mann ohne Geschichte (aber mit drängenden Erinnerungen). Ein «Selfmademan» (hinter einem Schreibtisch). Im Mai 1960 ist Don Draper in seiner neuen Identität so gefestigt, dass Matthew Weiner, der Mastermind hinter Mad Men, ihn uns zuerst einmal bei einem Seitensprung präsentiert: Er begibt sich nach der Arbeit nicht nach Hause zu seiner Familie im Grüngürtel von Manhattan, sondern geht zu seiner Geliebten Midge, einer Künstlerin im Greenwich Village. Die erste Revolution der Sixties, die Draper begreift und vorwegnimmt, ist die sexuelle.

Dies gilt, wenn auch auf eine kompliziertere Weise, für die weibliche Figur, von der sich erst allmählich herauskristallisieren wird, dass sie Draper auf eine vielfach komplementäre Weise entspricht: Peggy Olsen betritt das Universum der Serie als Sekretärin, sie kommt aus Brooklyn nach Manhattan, aus der Welt katholischer Bigotterie in die Welt noch unbegriffener Frivolität, gegen die sie sich vorerst einmal versieht, indem sie sich auf Anraten der allwissenden Chefsekretärin Joan ein Kontrazeptivum verschreiben lässt. Es heißt Enovid und ist, wie (fast) alle anderen Namen, Musikstücke, Marken in Mad Men, historisch korrekt recherchiert. Enovid war die erste Pille, die in den USA von der FDA offiziell zugelassen wurde, das Detail verweist nach vorn, auf eine Liberalisierung des Lebensstils hin, während Lucky Strike und der ganze Komplex von «big tobacco» eine der Hypotheken ist, mit denen die «Mad Men» sich herumzuschlagen haben – finanziell viel zu bedeutend, um einen «account» wie Lucky Strike ignorieren zu können, kulturell aber eben auch schon kontrovers. Dass es ausgerechnet die konservative Zeitschriftenauslesezeitschrift «Reader’s Digest» ist, die auf die gesundheitlichen Risiken des Rauchens verweist, ist Programm: Den Horizont von Mad Men bestimmmt immer das, was die Mehrheit denkt, und Reader’s Digest war eines der Mehrheitsmedien. (Das Fernsehen, auch das macht uns Mad Men klar, war damals noch ein wackliges Massenmedium.)

Matthew Weiner hatte das Konzept zu Mad Men schon fertig ausgearbeitet, als er von David Chase zu der Arbeit an der Serie The Sopranos beigezogen wurde. Trotzdem reichte dieses Prestige hinterher nicht, um HBO von Mad Men zu überzeugen. Die Produktion bekam schließlich den Zuschlag von AMC, einem kleinen Bezahlsender, dessen Kerngeschäft das Abspielen alter Filme ist, der inzwischen allerdings ebenfalls verstärkt auf original content setzt und mit Mad Men einen ersten großen Erfolg zu verzeichnen hat.

Im Koordinatensystem, das die großen epischen amerikanischen Fernseherzählungen der letzten Jahre etabliert haben, würde Mad Men ziemlich genau zwischen The Sopranos es die Vermittlung zwischen öffentlichem und privatem Leben gemeinsam, die verschwimmenden Grenzen zwischen «draußen» (Beruf, Affären, Freundschaft, Freiheit) und «drinnen» (Ehe, Familie, Verantwortung, Erziehung). Und ähnlich wie in The Wire ist in der Erzählung von den Mad Men der Horizont durch ein Motiv der Totalität markiert: Was dort die Stadt Baltimore mit allen ihren Institutionen, Kulturen, Dynamiken ist, ist in Mad Men die Geschichte der USA selbst und damit – im Zeitalter des Kalten Krieges und der atomaren Gefahr – die Weltgeschichte. Die besondere (intellektuelle) Spannung, die Mad Men auszeichnet, entsteht gerade aus dieser Verhältnisbestimmung: dass der große Rahmen historisch vorgegeben ist (für die ersten Staffeln durch die Präsidentenwahl 1960, durch die Kubakrise 1961, durch die entstehende Bürgerrechtsbewegung), dass Weiner aber davon mikrohistorisch erzählt.

Geschichte der Gegenwart

Mad Men interessiert sich nicht deswegen für all die kleinen Veränderungen im Leben, weil es für Werber von entscheidender Bedeutung ist, all dies zu wissen. Es ist wohl eher umgekehrt: Die Werbeagentur ist deswegen der perfekte Ausgangspunkt für das Projekt dieser Serie, weil sie den Umschlagpunkt von großer in kleine Geschichte markiert und bearbeitet. Was auf einer ersten Ebene als das historische Datum erscheint, dass Kennedy sich gegen Nixon durchsetzen konnte, ist auf der spezifischeren Ebene, die Sterling Cooper und Mad Men interessiert, eine enorm komplex determinierte Situation aus veränderten Mentalitäten, neuen Bedürfnissen, aus Trends und Ängsten und individuellen Entscheidungen. Für eine Werbeagentur ist dies das Feld, auf dem sie operiert, für eine Fernsehserie, die auf eine Geschichte der Gegenwart abzielt, ist dies der privilegierte Ort, von dem aus zu erzählen ist.

Jede individuelle Figur in Mad Men steht dadurch mehr als nur implizit in einem Verhältnis zu den prekären Freiheitsversprechen und Fortschrittslogiken, die (mit JFKs Versprechen einer Mondfahrt usw.) auch am Eingang der Sixties standen: der «closet homosexual» Sal, die latent hysterische Hausfrau Elizabeth («Betty», «Bets», «Birdie») Draper, der Kulturbuddhist Bert Cooper, die jüdische Kaufhaus-Erbin Rachel, und natürlich vor allem die Sekretärin Peggy, die einen Marsch durch die Institutionen beginnt. Für sie vor allem gilt das klassische lineare epische Erfahrungsprinzip, während für den ja von der ersten Creditsequenz an als «falling man» ausgewiesenen Don Draper eher ein Prinzip der Lateralität gilt: Bei ihm interessiert sich die Serie eher dafür, was ein Mann alles gleichzeitig in ein Leben hineinbekommt, ohne dass es ihm vollständig zerbricht. (Am Ende der zweiten Staffel taucht er für eine Weile in Kalifornien unter, die Offenheit seines Lebensentwurf rührt in diesen Folgen fast schon prinzipiell an die dramaturgischen Notwendigkeiten einer Fernsehserie.)

In The Conquest of Cool beschreibt Thomas Frank vor allem, wie sich das kommerzielle Amerika in den Sixties für die beginnende Gegenkultur zu öffnen beginnt, wie Motive der Dissidenz und der Hipness in die Werbestrategien eingehen, und wie früh die Freiräume, die sich die Beatniks, die Rebels, die Hippies erarbeiteten, schon wieder kolonisiert wurden (1965 warb die Gin-Marke Booth’s mit dem Slogan: «Protest against the Rising Tide of Conformity»). Mad Men verzeichnet in den ersten Staffeln noch stärker die retardierenden Momente in einer Welt, die tief in den Konventionen der fünfziger Jahre befangen ist. Die Geduld, mit der erzählt wird, zeugt von dem paradoxen Unterfangen, mit dem wir es hier zu tun haben: In einem Medium, das von Jahr zu Jahr über die Fortsetzung einer Serie wie Mad Men entscheidet, zielt die Serie selbst von vornherein auf die niemals garantierte lange Dauer. Da sie selbst dem langsamem Produktionszyklus von jährlichen Staffeln unterliegt, und mit der kürzlich beendeten dritten Staffel erst an die Schwelle zum Jahr 1964 gelangt ist, produziert sie nebenbei auch so etwas wie virtuelle Jahresringe. In unser Wissen darüber, was 1968 oder 1971 in der großen Geschichte passiert ist, können wir Figuren wie Don Draper oder Peggy Olsen schon einmal auf eigene Rechnung eintragen. Als Greil Marcus für Artforum einen Text über Mad Men schrieb, begann er mit einem Szenario, das Don Draper im Jahr 1971 imaginiert: Er lebt in Paris, ist Schriftsteller, er liebt einen Mann namens Jean-Paul. Es ist das Jahr 12 unserer Gegenwart. In der Zeitrechung von Mad Men.

Mad Men (Staffel 1) erscheint im Februar 2010 bei Universal auf DVD