Bühne & Bild
Alle im Saal blickten auf die Projektionsfläche.
Für ihren Aufbau hatten man sogar mit der Regel gebrochen, dass die Fahne immer rechter Hand vom Richter stehen muss – sie wurde stiefmütterlich auf die linke Seite geräumt – mittig hinter dem erhöhten Tisch unangetastet: das Kruzifix. Die drei hohen Richter mit ernster Miene und das projizierte Bild geben Rätsel auf. Es sieht aus wie die Aufnahme einer Art Wärmekamera, jeder Bewegung folgt ein Standbild. Jetzt erkennt man die Konturen eines massigen Mannes, daneben leicht versetzt eine Frau. Der Mann trägt eine Brille, er blättert nach vorn übergebeugt in Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch liegen und lehnt sich dann – wie in großer Erschöpfung – zurück in seinen Sessel. Er scheint alt zu sein, angestrengt, macht nicht den Versuch, in die Kamera zu schauen.
Nun wird das Übertragungsbild auch besser. Ich stehe an der Wand des größten Gerichtsaals in Córdoba, Argentinien. Alle Sitzplätze sind voll besetzt, der Prozess war auf Plakaten überall in der Stadt angekündigt worden. Es gilt vier Männer zu verurteilen, von denen einer General Luciano Benjamín Menéndez ist, ehemaliger Oberbefehlshaber der Armee in Córdoba, zuvor bereits wegen seiner Taten während der argentinischen Militärdiktatur in einem als historisch geltenden Prozess zu «lebenslänglich» verurteilt. Menéndez sitzt links außen in der ersten Reihe mit dem Rücken zu den Gerichtszuhörern, schlohweiß, neben ihm drei weitere Männer, eine überdachte Panzerglasscheibe trennt sie von der nächsten Reihe.
Mit größtmöglicher Emotionslosigkeit trägt der Sekretär nun die Fakten und Details der Verschleppung, Folterung und Ermordung eines Mannes vor, dessen Sohn die Anklage für diesen Prozess führt und rechts außen im Raum quer zu Richter und Angeklagten sitzt.
Der Mensch zu dem medialen Abbild befindet sich in Buenos Aires, acht Nachtbusstunden von Córdoba entfernt. Der Mann genießt besonderen Schutz. Er ist zu alt zum Reisen und wird deshalb per Bildübertragung in den Prozess transportiert. Die Übertragung ist Prozessbedingung: Er muss hören, was gesagt wird, wessen er angeklagt wird, er muss sich «einschalten dürfen». Immer wieder muss deshalb ein Mann in der ersten Reihe aufspringen und an den Richtertisch stürzen und die Maus hin- und herschieben, damit die Übertragung nicht in den Standby-Modus springt, das Bild erlischt und der Prozess nicht mehr rechtens wäre. Beim vierten Mal jedoch bleibt die Projektionsfläche schwarz. Ein Mann beugt sich zum Obersten Richter und sagt ihm etwas ins Ohr – ein zweiter Mann verlässt telefonierend den Saal, jetzt hebt auch der Sekretär seinen Blick und schaut fragend zum Richter. Die Verbindung nach Buenos Aires ist nicht wiederherzustellen, das Abbild des abwesenden Mannes bleibt verschwunden. Der Prozess wird für diesen Tag abgebrochen.
Draußen auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude gibt es andere, statische Bilder zu sehen: an langen Seilen sind auf weißer wetterfester Plane die schwarz-weißen Bilder der Vermissten zu sehen, teils sehr private Bilder, teils offizielle Passbilder – immer auch mit dem Datum ihres Verschwindens.