spielfilm

Night Moves Too little, too late to love: Bertrand Bonellos Nocturama

Von Simon Rothöhler

© Real Fiction

 

Alles beginnt mit filmisch umgesetzter Logistik. Menschen, Objekte, Nachrichten, die durch die Pariser Gegenwart befördert werden. Plot- als Verkehrstechnik: Transport- und Kommunikationsmedien greifen ineinander, Steadicamfahrten betreiben Teenagertracking. Die Métro-Montage zieht den urbanen Raum zusammen, Zeitraumschnitte etablieren eine druckvolle Handlungskette. Die Eleganz und Präzision der filmischen Schaltungen überträgt sich auf die Aktionen. Ziemlich slick, dieser austrainierte Filmkörper glänzend verknüpfter Bewegungsereignisse. Die Handlungsträger scheinen zielgerichtet, etwas treibt sie offenbar an. Noch fehlt dem Drive das Motiv, also manifestiert sich nur ein Vektor und investierte Energie. Ein filmisches Elaborat, das unaufhörlich formbildend städtische Infrastruktur prozessiert. Ein operativer Raum, konstituiert durch öffentlichen Nahverkehr.

Zu einem Netzwerk gehören Knoten. Nocturama verfestigt die konspirativ codierten Begegnungen einer multiethnischen Gruppe überwiegend noch juveniler Pariser als etwas Positionelles. Die Zeit der Teens und Twens tickt in Form eines eingeblendeten Timers, Bonellos selbstkomponierter minimalistischer Elektroscore installiert zusätzliche Kompaktheit. Stadt als Druckkammer. Scharfe Schnitte und sekundenkurz etablierte Blickachsen, einmal auch eine Berührung, signalisieren immer deutlicher einen prozeduralen Ablauf unter Verabredeten. Was sie wollen, warum sich ihre Bewegungen kreuzen, worin ihre Verbundenheit liegt, bleibt unausgesprochen. Weil unmittelbar entschlüsselbare Nachrichtengehalte fehlen, übersetzt sich die filmische Nahverkehrsbeobachtung für den uneingeweihten Blick in eine Art Wahrnehmungspolitik uneindeutiger Beziehungsmaschen. Hier läuft definitiv ein Plot ab, nur welcher und zu welchem Ende, fragt sich ja nicht nur unsere Gegenwart.

Was in diesem Netzwerk anonymer Bewegungen und unausgesprochener Agenden sofort irritiert, ist weniger die Abwesenheit psychologischer Wegweiser als der gruppenintern zu keinem Zeitpunkt thematisch werdende Habituskurzschluss: Eine bürgerlich saturierte Haltung (des Körpers und zur Welt) kontaktiert eine vorstädtisch deprivilegierte – um in Kategorien zu sprechen, die gleichermaßen stereotyp wie wirkmächtig sind. Weil die Hierarchie zwischen jeunesse dorée und den jeunes de banlieue dezidiert untermarkiert bleibt, geraten Automatismen der Bedeutungsstiftung ins Schlingern, die ja selbst dann noch greifen, wenn die migrantische Vorstadt etwa durch die selbstbewusste Einübung eines Marivaux-Stücks gegen den sogenannten Strich gebürstet wird, wie in Abdellatif Kechiches L’esquive [über den wir vor Ewigkeiten mal ein Jungle World-Gespräch geführt haben]. Wo Konventionalismen wegbrechen, bleibt fürs erste nur die Form: etwas diffus Generationelles, eine kollektive Performance, eine geteilte Zirkulation junger Menschen und klandestiner Botschaften durch die französische Hauptstadt. Wäre die Gruppe homogener, weniger weiß, weniger weiblich, weniger gut situiert, wäre vermutlich klar, wohin die Reise gehen soll (direkt ins Märtyrerparadies, das mit den disponiblen 72 Jungfrauen). Wäre sie hingegen noch weißer, könnte man sich in Zeiten wie diesen ebenfalls einen Reim darauf machen, aber Anhängern des Front National käme wohl kaum in den Sinn, Emmanuel Frémiets goldene Reiterstatue der von französischen Rechtsextremen als Ikone beanspruchten Jeanne d’Arc zu flambieren.

Dass die im Bild verteilten Bewegungsmuster, die gesetzt und designiert wirkenden Auftritte und Abritte einem Plan folgen, wird jedenfalls schnell ersichtlich. Was diesen Plan jenseits der Logistik seiner Ausführung zusammenhält, bleibt – eigentlich bis zum Schluss – eine ziemlich offene Frage. Sie wäre dem Regisseur Bertrand Bonello sicher anders, weniger insistierend gestellt worden, hätte es nach den Dreharbeiten im Sommer 2015, die ein bereits fünf Jahre zuvor geschriebenes Skript realisierten, nicht den 13. November 2015 gegeben, als Paris von einer Attentatsserie überzogen wurde, die 130 Menschen das Leben kostete. Auch weil Nizza (und Brüssel und Berlin) folgten, hat der neue französische Premierminister Bernard Cazeneuve den damals verhängten Ausnahmezustand kürzlich bis zum 15. Juli 2017 verlängert.

Mit dem evasiven Symbolhaushalt von Nocturama hat das alles zu tun, weil das jugendliche Kollektiv einen minutiös abgestimmten Plan abarbeitet, der Paris mit terroristischen Effekten und Zeichen traktiert. Die demonstrative Radikalität traf im Sommer 2016, als Bonellos Film – er war zuvor von Cannes abgelehnt, weil nicht nur hinter vorgehaltener Hand als zu heikel eingeschätzt worden – seinen französischen Kinostart erlebte, dann allerdings auf das Feedback der veränderten Realität post-Bataclan. Der Film sah zwar super aus, hatte aber ein Problem: Eine ästhetische Präzisionsmaschine, die durchaus wirklichkeitsresonierende Terrorbilder mit jugendkulturellen Revolutionscodes in Verbindung bringt, die nicht islamistisch, sondern anders radikal, nicht zuletzt auch: radical chic sein wollen, lief unter diesen Bedingungen zwangsläufig Gefahr, unzeitgemäß oder gar zynisch retro zu wirken.

Dass es in Nocturama um radikale, aber eben weltanschaulich vergleichsweise unbestimmt aufgeladene Spielarten von Kapitalismus-, Konsum-, Entfremdungskritik zu gehen scheint, legt vor allem die zweite Hälfte dieses Diptychons nahe. Nachdem am Ende der ersten Filmtafel einiges in die Luft gesprengt worden ist (ein HSBC-Bankentower in La Défense, ein offiziell gut bewachtes Staatsgebäude, Autos in der Innenstadt) und mindestens der Innenminister nicht mehr unter den lebenden Repräsentanten des Landes weilt, zerstreut sich die Attentätergruppe nicht in die angeblich so gefährliche Binnengrenzenlosigkeit des Schengenraums, sondern zieht sich, wie um das gesetzte Signal zu konsolidieren, in ein plangemäß evakuiertes Luxuskaufhaus zurück.

Bis zu diesem Punkt, dieser Aussetzung aller selbstgesetzten Zirkulation, hatte der Planungsstand gerade noch gereicht. Nun scheinen die Protagonisten jedoch überrascht von ihrer eigenen Fixierung. Eingesperrt im Zentrum der Hauptstadt, glauben sie augenscheinlich der vorbereiteten Fluchtperspektive nicht mehr: dass sie nach einer Kaufhausnacht im Morgengrauen wieder in ihr dann ja immer noch recht junges Leben zurückkehren können. Einzelnen scheint die Wahrheit langsam aufzugehen: Sie sind walking dead – der baldtoten, nicht der untoten Sorte. Im Vergleich zu George Romeros historischen Supermarktzombies, die Bonello mitunter als Inspiration und Referenz ins Feld geführt hat, geht es im Pariser Konsumtempel gesittet, wenn auch ähnlich bewusstlos zu. Zu besichtigen ist, wohlwollend gesprochen, weniger eine Schwundstufe als eine adoleszente Vorstufe der Kritik bestehender Verhältnisse: Dagegensein, Unzufriedensein, Elternhäusern (die Staaten der Kindheit) eine Ladung Dynamit verpassen Wollen. Wo also hin mit diesem quasi-anthropologischen Aufbegehren, wenn im Imaginären der Gegenwart sämtliche Radikalcodes neoreligiös oder neonationalistisch besetzt sind, ins Reich Gottes oder in eines ohne alles ‹Fremde› zeigen. Wie soll man sich gegen diese phantasmatische Monopolstellung zur Wehr setzen? Danke für das Ministeriumspraktikum und die Sciences Po-Eintrittskarte, aber Jugend ohne popkulturell griffige Register der Dissidenz hat ein Problem. Sofern in Nocturama etwas bockig offline gegangen wird, könnte es auch um ein anders gelagertes Sagbarkeitsdefizit gehen, um Gewaltfantasien, die sich aus zuviel, statt zuwenig Kommunikation und Vernetzung speisen. So viele Filmjugendliche mit so wenig Interesse an Mobiltelefonen wie hier sieht man jedenfalls selten auf einem Haufen. Kann das wirklich so sein? Spätestens an dieser Stelle wäre der Generation Bonello die Realismusfrage zu stellen.

Dass sich die Zusammensetzung der Gruppe einer Reihe eher zufälliger, insignifikanter, niedrigschwelliger Alltagsbegegnungen verdankt – vor allem solchen, in denen Kinder aus ‹gutem Hause› von Kindern aus weniger gut betuchten Miet- und Sozialwohnungen bedient und beschützt werden, ihnen den Kaffee servieren oder in Securityuniform die Tür aufhalten –, wird in kurzen, retardierenden Rückblenden, als Unterbrechung der realzeitlich dynamisierten Plotkette des ersten Teils eher aphoristisch hingetupft als plausibilisiert. Merkwürdig wortlose Verbrüderungsgesten, eigentlich nicht mal Fragmente einer Sprache adoleszenten Rebellionsbegehrens tauchen da auf, erweisen sich aber im explizitesten Fall als ungeliebte universitäre Klausurvorbereitungslektüre. Statt dieses tradierte Vokabular oder mittlerweile ähnlich institutionell abgehangene «akzelerierte» Begriffsangebote jüngeren Datums klappt Nocturama mit der zweiten Tafel einfach eine verheißungsvoll glitzernde Warenlandschaft und die Agonie des Wartens auf den Zugriff antiterroristisch geschulter Spezialkräfte auf. Der ausdrücklich theatral aufgefahrene Stillstand wäre in puncto Zeitdiagnose dann allerdings wieder klassisch Beckett.

Kein Gott wird an-, keine Revolution ausgerufen. Ödnis der Selbstbegegnung in einem Spiegelkabinett, das mit vermucktem Zeugs von Fendi, Kenzo, Isabel Marent ausstaffiert ist. Man(n) flieht in spielerische Maskierungen, queere und andere. «Ultraviolence» (HeartsRevolution) und «I don’t like» (Chief Keef) dröhnen dazu resonanzlos aus der Bang & Olufsen, verdrängen Bonellos smarte Carpentersoundscapes. Wie Leos Carax’ Holy Motors im verwaisten La Samaritaine gedreht, einem Art Nouveau-Gebäude, das realiter dem börsennotierten Branchenführer LVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton SE gehört, reduziert sich die urbane Mobilität des ersten Teils auf ein zunehmend solipsistisches Kreisen ohne kommunikativen Horizont. Schalldicht umgeben von einem Bühnenaufbau herrlich sinnloser Luxusprodukte, driftet die Gruppe, gerade erst vereint, schon wieder auseinander, verbunden nur kurz über das kollektive Starren auf Flat Screens, die zu bestätigen scheinen, dass draußen zwar keine Botschaft, aber immerhin ein radikaler Mitteilungswunsch angekommen sein könnte. Keine Frage, man sitzt mit sich in der Falle. Also ein Bad nehmen und die Champagnerregale leertrinken.

Schön sind sie, die leeren Performanzen der so begriffslos protestierenden Jugendlichen, die in dieser Nacht goldene Masken tragen, Heiraten und Dekadentsein spielen, im eigenen Ausdruck aber nur einmal, bei der per Karaokeeinlage appropriierten «My Way»-Coverversion von Shirley Bassey, zumindest etwas zu sich zu kommen scheinen. My Way? Das ist nicht nur in Zeiten, in denen egomanisch-destruktive Populisten die Topoi linker Globalisierungskritik rhetorisch nach rechts wenden, ein nationales, ethnisch entmischtes Volkswirtschaftswir als Antwort auf die nicht selten als ‹Sorgen› getarnten Ressentiments der gar nicht mal sonderlich Zukurzgekommenen ventilieren, keine wirklich brauchbare Gesprächsgrundlage. Aber was sollen sie auch tun, wenn der Warenhausspiegel nicht nur die möglicherweise tatsächlich überflüssigen Luxusobjekte vervielfacht, sondern auch die performierten Protestsignale als unendlich oft kommodifizierte Posen stur zurückprojiziert. Alles, die ganze rebellische Ikonografie längst aufgesaugt, Treibstoff für die nächste Vermarktungszündstufe. Soviel Zombiefilmkapitalismuskritik gönnt sich Nocturama dann eben doch, also auf zum nächsten Regal, zur nächsten Ausdifferenzierung.

Bonello baut dies – dem versetzten Temporalmodell von Gus van Sants Elephant nachempfunden – als Zeitschleifenirritationsstruktur, die jede Vorstellung linearer Progression vielleicht nicht subvertiert, aber zumindest multiperspektivisch unsicher werden lässt. Übrig bleibt serieller Wiederholungszwang vor sorgfältig abstrahierter Spukkaufhauskulisse: Junge Menschen, die in diesem ausweglosen Labyrinth ständig Schaufensterpuppen ihres jetzigen und zukünftigen Selbst, ihrem eigenen Bild als Designerleiche begegnen. Ein zwischenzeitlicher Versuch, etwas Konkretes, vielleicht sogar eine anschlussfähige Idee von Weltverbesserung wenigstens symbolisch in dieses hermetische Innen zu holen, scheitert in Nocturama spätestes dann, wenn die verdutzt ins Warenparadies gebetenen Chlochards als erste von den effizienten Moves der anrückenden Antiterroreinheiten ausgeschaltet werden.

Der Titel «Nocturama», gibt Bonello in Interviews zu Protokoll, beziehe sich nicht auf Nick Cave & The Bad Seeds, sondern ganz direkt auf jenen speziellen Käfigtypus, in den nachtaktive, das Licht scheuende Zootiere eingesperrt werden. Die Freiheit, selbst ein Freigehege sieht nach menschlichen Maßstäben anders aus. Waren die Marx-Brothers, als sie sich 1941 in The Big Store eine anarchische Kaufhausnacht gründlichster Konsumzersetzung mit viel Polizeislapstick um die Ohren schlugen, in ihrer Kapitalismusanalyse nicht schon viel weiter als diese postresignative Metaphorik nocturnaler Einschließung? Vermutlich, aber Bonello hat den aktuell handelsüblichen Käfig immerhin blendend ausgeleuchtet. «Help me», ruft der last man standing, der eigentlich noch ein Kind ist, bevor dann wirklich der letzte Schuss fällt.

Nocturama (Bertrand Bonello) F 2016 

 

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