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Rakshan Bani-Etemad «Ich habe keine Zeit, sentimental zu sein»

Von Bert Rebhandl

 

Rakshan Bani-Etemad ist Anfang Mai nach Berlin gekommen, um eine Werkschau zu präsentieren. Am Tag nach der Vorführung von Tales im Arsenal treffen wir uns in einem Hotelfoyer nahe dem Gleisdreieck. Es ist eine typische Situation, wie sie im Weltkino zum Alltag gehört: Ich spreche kein Farsi, sie fühlt sich mit ihrem guten Englisch doch nicht sicher genug, um das Interview auf diese Weise zu führen. Das Gespräch wird von Nasrin Bassiri, einer Freundin von ihr, gedolmetscht. Als ich zwischendurch ein Foto mache, erkundigt sich Rakshan Bani-Etemad danach, was ich mit dem Bild vorhabe. Es ist nur zu meiner privaten Erinnerung, sage ich. Sie ist beruhigt. Sie trägt kein Kopftuch, will aber sichergehen, dass auch außerhalb des Landes kein Bild von ihr erscheint, in dem sie die Regeln missachtet, die im Iran gelten.

 

 

 

Frau Bani-Etemad, Ihr aktueller Film trägt den internationalen Verleihtitel Tales. Was sind das für Geschichten?

Das iranische Wort bezeichnet wichtige Begebenheiten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es bezieht sich auf eine Zeit, in der das mündlich geschah.

Es ist also nicht in erster Linie ein Begriff aus der Literatur?

Diese Geschichten gibt es auch in der Literatur, dort spricht man von Märchen. Im Unterschied dazu meint der Begriff Tales etwas, das geschehen ist, und nicht ausgedacht wurde.

Stimmt es, dass Sie anfangs an eine Reihe von Kurzfilmen dachten, aus der dann ein Episodenfilm wurde?

Nein, es war von Anfang an ein langer Film geplant, aber ich habe das so konzipiert, dass ich ihn als eine Reihe von Kurzfilmen gedreht habe, weil man dafür keine Genehmigung braucht. Für einen Langfilm muss man bei den Behörden um Erlaubnis fragen. Es war spannend, das zu drehen, weil es eine Herausforderung für mich darstellte, ob ich in der Lage bin so zu arbeiten: mehrere Drehbücher, die aber insgesamt einen einheitlichen Film ergeben sollten und nicht einfach für sich stehen.

Auffällig ist, dass viele Figuren aus früheren Filmen auftauchen. Fast so etwas wie eine Werkschau.

Diese Idee ist älter als das Drehbuch. Diese Protagonisten wie Nargess oder Touba existieren nicht nur in meinen Filmen, sondern in meiner Umgebung. Es sind lebendige Wesen. Ich beschäftige mich laufend mit ihnen. Ich hatte das Bedürfnis, sie alle zusammenzubringen.

Das heißt, Frau Touga existiert konkret?

Da kann ich mit ja oder nein antworten. Ich habe viele vergleichbare Situationen erlebt und habe viel Zeit mit solchen Frauen verbracht, daraus habe ich Touba erschaffen. Es ist ein alter Gedanke, die Figuren aus Nargess oder aus Under the Skin of the City gleichsam zu begleiten. Ich habe viele Jahre lang Eindrücke gesammelt.

Wie realistisch ist es, dass eine ältere Frau de facto zu einer Arbeiterführerin wird? Die Szene in dem Bus ist übrigens großartig, eine lange Einstellung mit so vielen Leuten auf kleinstem Raum.

Ich kenne viele Frauen in Arbeiterorganisationen, oft handelt es sich nicht um Organisationen im strengen Sinn, mit Satzung und allem, sondern um lose Zusammenschlüsse. Die Frauen tun sich zusammen, um etwas zu erreichen.

 

Tales (2014)

© Rakshan Bani-Etemad

 

Eine besonders «novellenhafte» Geschichte in Tales handelt von einem Mann, der einen Brief in Empfang nimmt, der für seine Frau bestimmt ist. Er reagiert darauf zutiefst verletzt und eifersüchtig, auch deswegen, weil er den Brief nicht lesen kann. Er ist Analphabet. Die Auflösung zeigt sehr viel über das Geschlechterverhältnis im Iran.

Keine Filmemacherin kann behaupten, dass das, was sie zeigt, auch die Realität einer Gesellschaft ist. Aber Iran ist nun einmal im Grund eine patriarchalische Gesellschaft, das kann man wahrhaftig sagen. Trotzdem haben die Frauen in ihrem Bereich eine bestimmte Autorität. Meine Großmutter ging auf der Straße hinter dem Großvater her, zu Hause hatte sie das Sagen. Sie war eine Autorität, niemand machte ihr das streitig. Das ist der Grund, warum die iranischen Frauen trotz Entrechtung und Diskriminierung doch ihre Stellung halten und sehr selbstbewusst auftreten.

Die besagte Episode zeigt ja eigentlich noch mehr, nämlich dass die Männer mit ihrer Vorherrschaft und mit ihrer Rolle als Familienoberhaupt überfordert sind – ein Befund, der sich auch Ihren Dokumentarfilmen entnehmen lässt und der fast so etwas wie ein Leitmotiv in Ihrem Werk ist. So viele alleinstehende Frauen, so viele Männer drogensüchtig oder im Gefängnis oder einfach schwach.

Für die Männer ist es viel schwieriger, denn das, was ihnen historisch als Rolle zugewachsen ist oder was sie zumindest als Fassade aufrechterhalten sollten, können sie nicht ausfüllen, weil die Frauen zu weit fortgeschritten sind oder zuviel Autorität haben. Im Iran gibt es aber auch viele Männer, die mit den Frauen für deren Rechte kämpfen. Es ist ein bisschen anders, als es das Klischee haben will.

Sie haben vor Tales ziemlich lang keinen Spielfilm gemacht, konkret seit Mainline (2006). Hatte das mit den politischen Umständen zu tun, mit der Präsidentschaft von Ahmadinedschad?

Die Gründe dafür waren nicht im unmittelbaren Sinn politisch, allerdings hatte es schon damit zu tun, wie Ahmadinedschad mit Kunst umgegangen ist.

Wenn ein neuer Präsident ins Amt kommt, wie wirkt sich das auf die Filmbehörden im Iran aus?

Jeder Präsident tauscht die führenden Beamten aus, das wirkt sich auf die gesamten Strukturen aus.

Gehen wir an den Beginn Ihrer Arbeit. Sie waren 1979, im Jahr der Revolution im Iran, Studentin an der Filmhochschule in Teheran. War die Schule damals auf der Seite der Revolution?

In der Ära des Schahs gab es in allen Bereichen, und unsere Hochschule war keine Ausnahme, mehr oder weniger latente Revolutionsgruppen, in vielen verschiedenen Schattierungen. Wenn man das grobe Muster anwenden will, dass es eher religiöse und eher politische Veränderungswillige gab, dann gilt das auch für die Hochschule.

Welche Filme wurden während der Ausbildung gezeigt?

Damals gab es im Iran die Möglichkeit, alle Filme aus aller Welt zu sehen. Unsere Universität war mit dem Kulturministerium verbunden, dadurch waren die Möglichkeiten besonders gut. Allerdings gab es alles nur in 35 mm, das war eine Einschränkung. Wir haben sehr viele Filme gesehen, allgemein war das Interesse am italienischen Neorealismus am größten.

Hatten Sie damals Fernsehen im Sinn oder Film?

Als ich anfing, war mir klar, dass ich Filmemacherin werden möchte, das Fernsehen gab mir aber die Möglichkeit, zu arbeiten.

War das Fernsehen eher ein Machtapparat oder oppositionell geprägt?

Im Iran gab es immer nur das offizielle Fernsehen, es war sicher in erster Linie ein Machtinstrument der Islamischen Republik.

Sie konnten damals aber als Dokumentarfilmerin zu arbeiten beginnen.

Schon damals wie auch heute habe ich mir für die iranische Gesellschaft ein besseres Leben gewünscht. Ich habe ein, zwei Jahre nach der Revolution angefangen, Dokumentationen für das Fernsehen zu machen. Da musste man Kontakte zu Institutionen haben, Geräte leihen können. Die Institution hat Kontrolle ausgeübt, es mir aber doch auch ermöglicht, Filme zu drehen.

Die Revolution im Iran ist für uns immer noch ein schwer durchschaubares Geschehen. Kann man die Schleierfrage als einen Schlüssel dazu sehen?

Als Chomeini in Paris war, hat er in Interviews noch beschwichtigt und gesagt, das ist kein Thema. Da haben wir ein Jahr später herausgefunden, wie es sich wirklich verhielt. Es gab spontane Großdemonstrationen, zwei Jahre lang konnten sich die Frauen behaupten.

 

The May Lady (1999)

© Rakshan Bani-Etemad

 

In The May Lady gibt es eine markante Szene: Die Protagonistin ist bei sich zu Hause. Sie wäre wohl nicht verschleiert, denn sie ist ja im privaten Bereich. Da sie aber in einem Film zu sehen ist, ist sie zugleich in einem öffentlichen Raum, also befolgt sie – befolgen Sie – die Schleierpflicht. Sie zeigen dann, wie sie den Schleier ablegt, und zwar just in dem Moment, in dem sie aus dem Bild tritt.

Das gilt für den ganzen Film, der ja eine Liebesgeschichte ist. Es war nicht möglich, sie zu erzählen. Ich war gezwungen, reale Szenen mit Personen wegzulassen und stattdessen Musik, Licht, Lyrik zu verwenden, um eine reale Geschichte zu erzählen. The May Lady ist eine der wenigen Liebesgeschichten, in denen die Figuren, die sich lieben, niemals gemeinsam im Bild sind.

Die Zensur produziert Ersatzhandlungen.

Selbstverständlich kann man das, was im täglichen Leben passiert, nicht zeigen. Dafür braucht es andere, sinnbildliche Erzählweisen. Ich suche nach Szenen, die aussagekräftiger sind als die Realität. Man zeigt nicht die Hochzeitsnacht, sondern die Schuhe vor dem Zimmer. Schön und aussagekräftig muss es sein.

Dieses Prinzip der Umschreibung ist ja auch ganz wesentlich für alle Poesie. Die May Lady ist allerdings eher eine Erforscherin der Gesellschaft, sie sucht nach der «exemplarischen Mutter». Ist das ein Selbstporträt, diese Frau namens Foruq?

Diese Frage wird mir häufig gestellt, aber ich muss sie mit Nein beantworten. Der Standpunkt ist meiner, aber die Figur hat mit meinem Leben nichts zu tun. Ich bin eine Macherin, Foruq ist eine sentimentale Figur, mein Privatleben ist das ganze Gegenteil. Ich habe keine Zeit, sentimental zu sein.

Was ist das für ein Institut, das ihre Recherche unterstützt?

Das stellt ihre eigene Recherche dar, das ist eine private Initiative. Eine Filmemacherin trommelt Leute zusammen, sie arbeitet in einem Filmstudio, aber diese Sache ist ihre eigene Angelegenheit, ein persönliches Projekt.

In dem aber viel von Ihren eigenen dokumentarischen Arbeiten zu erkennen ist. Sie haben nach den frühen Arbeiten für das Fernsehen drei Spielfilme gemacht, die im Westen nahezu unbekannt sind. Auch bei der Werkschau im Arsenal waren sie nicht dabei. Was sind das für Filme?

Das sind drei satirische Filme, die zwischen 1986 und 1989 entstanden. Ich wollte mich dabei aber nicht über Menschen lustig machen, sondern über gesellschaftliche Phänomene. Ich wurde kritisiert, weil ich als Frau im iranischen Kino auf diese Weise hervorgetreten bin. Man hat sich von mir eher poetische oder Liebesfilme erwartet.

Sie nehmen diese frühen Filme aber weiterhin ernst?

Auf jeden Fall. Es gibt keinen Grund, sie nicht wichtig zu nehmen, sie sind auch thematisch von Bedeutung. Die ersten beiden waren sehr erfolgreich, in allen Fällen geht es um eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen.

Sie hatten damals aber schon ein anderes Projekt, das allerdings erst viel später realisiert werden konnte.

Under the Skin of the City sollte eigentlich mein erster Film sein, das Drehbuch stammt aus dieser Zeit, es war aber nicht möglich, dafür eine Erlaubnis zu bekommen. Dann kam die Schwangerschaft mit der Tochter dazwischen, erst viel später wurde es möglich, den Film zu realisieren. Da war meine Tochter schon 16 und konnte auch selbst mitspielen.

Sie spielt auch eine wichtige Rolle in dem Dokumentarfilm Our Times, der für meine Begriffe sehr viel über die große Nähe zwischen den beiden Formen Spielfilm und Dokumentarfilm in Ihrem Werk erkennen lässt.

Our Times war zwei Jahre nach dem Spielfilm, es geht um die zweite Amtsperiode von Präsident Chatami.

Wir haben ein wenig vorgegriffen, denn noch sind wir an der Schwelle zu den 90er Jahren. 1993 war auf den internationalen Festivals der Film zu sehen, mit dem ich, wie viele andere, Sie «entdeckt» habe: Nargess. Welche Umstände spielten dabei eine Rolle?

Ich habe mich lange mit der Situation von Frauen nach der Scheidung beschäftigt. Das vor allem war der Hintergrund für das Drehbuch zu Nargess.

Es gibt in dieser Dreiecksgeschichte eine für das iranische Kino ungewöhnliche Figur: Afaq, eine ältere Frau, die von Einbrüchen lebt, und die ihren Mann Adel an eine jüngere Frau verliert. Eine große, melodramatische Rolle.

In der Regel haben wir es mit klassischen Frauenrollen zu tun: Mutter oder Hausfrau. Bei Nargess bestand die Herausforderung darin, jemand wie Afaq zu zeigen, ohne sie zu verurteilen.

 

Nargess (1992)

© Rakshan Bani-Etemad

 

Wie kommt eine Frau im Iran zu so einer «Karriere»?

Ich habe darüber viel in einem Gefängnis für Ex-Prostituierte gelernt. Für diese Frauen gibt es kaum eine Perspektive.

Obwohl der Film Nargess heißt, ist für mich Afaq die eigentliche Hauptfigur. Auch deswegen, weil ihr Schmerz und ihr Begehren in vielen eindrücklichen halbnahen Einstellungen so deutlich werden. Wer ist die Schauspielerin? War sie schon bekannt?

Farimah Farjami war vor allem als Theaterschauspielerin tätig, sie hatte aber auch einige «schwierige» Frauen im Kino gespielt.

Sie gelten als Sozialrealistin. In Nargess ist aber auch so etwas wie ein Genre-Element zu erkennen. Ich muss an große amerikanische Schauspielerinnen denken: Joan Crawford zum Beispiel. Haben Sie sich mit dem Gangsterfilm oder dem Melodram beschäftigt?

Ich habe über diese Fragen nicht wirklich nachgedacht. Es ist nicht wichtig, ob Nargess ein Melodram ist oder nicht. Es ist ein sozialkritischer Film, der eine Geschichte so erzählt, wie ich es konnte. Es war vor allem wichtig, keine Klischees zu zeigen, dazu brauchte ich kein filmisches Vorbild. Ich habe Nargess so erzählt, wie es mir möglich war.

Gab es Probleme mit der Zensur?

Eine Szene musste ich opfern, das war schmerzvoll. Bis heute finde ich das unverzeihlich, aber mir blieb keine andere Wahl.

Was wäre in dieser Szene zu sehen gewesen?

Ich werde das genau erzählen. Es ist eine Szene zwischen Afaq und Adel. Er kommt aus dem Gefängnis, es gibt ein Gespräch zwischen ihnen, eine Auseinandersetzung. Afaq verlässt dann das Haus, die Szene spielt in der Nacht an einer Bushaltestelle. Eine Außenaufnahme. Ich erzähle das, wie es im Drehbuch steht. Afaq steht an dieser Bushaltestelle und schaut ins Leere. Man hört eine Hupe, ein Freier lädt sie ein, in sein Auto einzusteigen. Es folgt eine Großaufnahme, das Gesicht von einem lüsternen Mann, im Hintergrund Afar, sie steht auf, ganz aufgeregt, und geht aus dem Bild. Das dritte Bild zeigt die aus der Ferne gefilmte Stadt, das Auto ist vorne, Afaq kommt ins Bild und wirft einen Stein auf dieses Auto, das Auto fährt fluchtartig davon. Wir hören einen Schrei von Afaq, der gleichsam über die ganze Stadt zu hören ist: Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?

Sie wird ihre Vergangenheit nicht los. Und sie bleibt mit ihrem Schmerz und ihrer Sehnsucht allein.

Damals war es unüblich, die Liebe zwischen zwei Menschen zu zeigen. Wenn man Liebe zeigte, dann zwischen Eltern und Kindern. Etwas anderes durfte man nicht zeigen. Die Liebe von zwei Frauen zu zeigen, die beide einen Mann lieben, das war etwas ganz Besonderes.

Das wurde damals auch international so wahrgenommen. In den frühen 90er Jahren begann die Konjunktur des iranischen Kinos auf den internationalen Festivals, mit Vertretern wie Mohsen Makhmalbaf, Abolfasl Jalili und Ihnen. Bald verengte sich das dann aber ein wenig, inzwischen spricht man fast nur noch von Kiarostami und Panahi. Wie stehen Sie zu diesen beiden Stars?

Natürlich haben wir enge Beziehungen, wir sind Kollegen, wir sehen uns im Ausland oder im Iran.

Es gibt aber auch einen Konflikt, der fast unübersehbar die Szene prägt, ein Zerwürfnis zwischen Kiarostami und Panahi.

Darüber möchte ich nicht sprechen.

Was werden Sie als nächstes machen?

Ich habe einen langen Dokumentarfilm abgeschlossen und beginne einen neuen.

Worum geht es in dem, der gerade fertig wurde?

Um eine Zusammenkunft von iranischen und französischen Ärzten, die sich um Kinder kümmern.

Die jüngsten Wahlen im Iran werden vielfach als Anlass zu vorsichtigem Optimismus gesehen. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Man muss optimistisch sein. Die neu gewählten Volksvertreter sind vielfach näher an den Bedürfnissen der Menschen. Die Ergebnisse haben konkret gezeigt, was das Volk wollte.

Was will das Volk?

Es will ein natürlicheres Leben, eine gute Präsenz in der Welt, Reisefreiheit. Es sind Anliegen, die sich von denen anderer Völker nicht groß unterscheiden: Man will ein gutes Leben haben, und man will in der Welt nicht verachtet sein.

Der Iran als «Schurkenstaat»?

Es gibt eine große Hoffnung auf Beseitigung der Sanktionen, unter denen die Menschen sehr gelitten haben. g

Dank an Christine Sievers, Annette Lingg und Nasrin Bassiri

 

Gibt es einen Mann?

In den Filmen von Rakshan Bani-Etemad gibt es häufig ein Bild im Bild: Die Filmkamera nimmt einen Videobildschirm auf, oder nimmt die Position einer Videokamera in ihr Bild auf. Die Regisseurin verweist damit auf den Ausgangspunkt ihres Erz.hlens: Sie recherchiert. .«Gibt es nicht inzwischen Hunderte von diesen Filmen?», heißt es an einer Stelle in Tales, der mit einem Filmemacher beginnt, der im Iran ankommt und mit einem Taxi in die Stadt fährt. Er ist ein Rückkehrer und möchte sich ein Bild machen. Er ist ein Stellvertreter der Regisseurin, die damit sehr stark den selbstreflexiven Zug mittr.gt, den wir aus dem iranischen Kino kennen und der in Abbas Kiarostamis Close-Up , Mohsen Makhmalbafs Salam Cinema, Abolfasl Jalilis A True Story oder zuletzt Jafar Panahis This is not a Film die markantesten Beispiele hat. Ihr Hauptwerk Under the Skin of the City beginnt mit dem gerahmten Bild von Touba, einer Frau in schwarzer Verschleierung auf einem Sony-Monitor, die eine politische Stellungnahme in eine Kamera spricht. Im Iran stehen Wahlen an, sie benennt ihre Erwartungen. Sie spricht für eine Gruppe von Frauen, die neben ihr sitzen. Bevor sie etwas sagt, muss sie ihr Kopftuch justieren, denn es sind zuviele Haare zu sehen. Was erwartet sie von den Wahlen? Dass man auf die hart arbeitenden Frauen h.rt, dass die Politiker sich um Sozialleistungen kümmern. Die Frau heißt Touba. Sie ist mit ihrem Statement nicht zufrieden: «Vor der Kamera werde ich ganz dumm.»

In Tales kehrt diese archetypische Mutterfigur, die sowohl einer gro.en Familie wie sinnbildlich dem Volk vorsteht, wieder, in einer Szene in einem Kleinbus, in dem eine Gruppe Arbeiter zu ihrer Fabrik unterwegs ist. Es steht eine betriebliche Auseinandersetzung an, alle sind aufgebracht, Touba ist so etwas wie die Sprecherin. Der Film Under the Skin of the City beginnt mit dem Insert «Im Namen Gottes», die Produktionsfirma trägt den Namen Cinema 79. Das war das Jahr, in dem der Iran zu einem «Gottesstaat» wurde, wie es verkürzt in der westlichen Redewendung heißt. Rakshan Bani-Etemad ist eine Vertreterin dieser Revolution, allerdings nicht in dem Sinn, dass man sie als eine muslimische Fundamentalistin bezeichnen müsste. Sie gehört zum sozialen Flügel, immer spricht sie in erster Linie von den Versuchen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen.

Dass sie als Dokumentaristin beim Fernsehen begann, taucht in ihren Filmen später immer wieder auf. Besonders markant in The May Lady, der in verschlüsselter Form sicher so etwas wie ein Selbstporträt enthält: eine urbane, intellektuelle Frau, die mit ihrem heranwachsenden Sohn zusammenlebt, der sich schwer tut, sich von der Mutter zu lösen. Die May Lady geht mit der Kamera in die Viertel der einfachen Leute und sucht nach einer «exemplarischen» Mutter. Unverkennbar geht es hier auch um das alte Dilemma der Spaltung zwischen Reflexion und (Über-)Leben; der Film ist aber auch sehr interessant, weil er nach Formen des (halb-)öffentlichen Lebens sucht, nach Orten, in denen Dialoge geführt werden k.nnen, in denen es um mehr geht als nur um das eigene Schicksal.

In Nargess, dem Film, mit dem Rakshan Bani-Etemad im internationalen Festivalkino bekannt wurde, nahm dieses sozialkritische Interesse eine vergleichsweise klassische Form an: ein Mann zwischen zwei Frauen, ein Versuch, aus einem Leben der Kriminalität in ein rechtschaffenes, wenngleich armes Leben zu wechseln. Dazwischen diese Symbolfigur weiblicher Ausgrenzung: Afaq, eine Frau in mittleren Jahren, frühere Prostituierte, nun lebt sie von Eigentumsdelikten. Es ist der Film, bei dem sich das Interesse an einer synthetischen Sicht auf Gesellschaft am deutlichsten modellhaft konturiert, auch deswegen hatte er wohl die größte Aufmerksamkeit gefunden.

Gerade vor diesem Hintergrund ist es aber interessant, dass Rakshan Bani-Etemad in ihrem Gespräch mit cargo erzählt, dass das Drehbuch zu Under the Skin of the City ganz am Anfang ihrer Filmprojekte stand: ein Großfamilienfilm, in dem die einzelnen Mitglieder jeweils auch für Optionen stehen, sich zu dieser Islamischen Republik zu verhalten, die ihr Gerechtigkeitsversprechen nicht eingehalten hat. Abbas, der ältere Sohn, plant eine Arbeitsmigration nach Japan, der jüngere Sohn ist politisch engagiert (und zwar bis zu einem Grad, der die Sache für ihn gefährlich macht), die ältere Tochter ist mit einem Mann zusammen, der ihr nur Leid zufügt; die jüngere Tochter, gespielt von Rakshan Bani-Etemads eigener Tochter, steht für die bildungsoptimistische, reformbereite Generation, die sich mit der vergleichsweise liberalen Präsidentschaft von Mohammad Chatami verbindet, der 2005 durch den Hardliner Mahmud Ahmadinedschad abgelöst wurde.

In dem Dokumentarfilm Our Times, der mit Under the Skin of the City so etwas wie ein Paar aus den frühen nuller Jahren bildet, taucht die Tochter auch auf, leidenschaftlich engagiert für eine zweite Amtszeit von Chatami, der 2001 auch tats.chlich noch einmal gewählt wurde. Rakshan Bani-Etemad wird während dieses Wahlkampfs auf eine Reihe von jungen Frauen aufmerksam, die sich allesamt (ohne realistische Chance) als Kandidatinnen für das Präsidentenamt gemeldet hatten. Dieser Umstand, dass sie prinzipiell wählbar sind, konkret aber die Schwierigkeiten erleben, vor die vor allem Frauen im Iran gestellt sind, wird schließlich an Arezoo besonders deutlich ersichtlich: Sie ist eine alleinerziehende Mutter Mitte 20, die mit ihrer blinden Mutter und ihrer Tochter lebt. Sie arbeitet anfangs bei einer Versicherung, ist dann aber lange Zeit vor allem mit Wohnungsssuche beschäftigt, weil der Sohn der Vermieterin heiratet und deswegen das Zimmer beansprucht, das Arezoo bisher bewohnt hat. «Gibt es einen Mann?», wird sie immer wieder gefragt, ihre negative Antwort macht sie moralisch verdächtig. Mit einem Mann wäre alles leichter.

De facto ist es aber ganz und gar nicht so, wie aus Tales deutlich wird, in dem Nargess, die junge Ehefrau aus dem Film von 1993, wieder auftaucht, und zwar in einem Frauenhaus, in dem sie Zuflucht vor ihrem brutalen Ehemann sucht. Tales ist deutlich als Summe einer langjährigen Beschäftigung mit fiktionalen Figuren konzipiert, von denen Rakshan Bani-Etemad selbst sagt, dass sie realen Personen nachempfunden sind. Dabei liegt das Augenmerk sicher nicht so sehr auf Individualität und Psychologie, sondern auf Strukturen und Möglichkeiten: Drogensucht bei den M.nnern, Prostitution bei den Frauen sind die beiden «Strategien», in denen sich die mangelnden Möglichkeiten äußern, mit dem eigenen Leben etwas anzufangen.

Das medial-reflexive Moment steht in den Filmen von Rakshan Bani-Etemad also immer im Dienst einer Annäherung an soziale Wirklichkeit. Es geht nicht darum, diesen Wirklichkeitsbezug zu brechen und zu problematisieren, sondern ihn zu verdeutlichen. Die Kamera ist in diesem Sinn ein Instrument der Hervorhebung, der Individualisierung von Erfahrungen, die viele Menschen teilen. Der Verweis auf den italienischen Neorealismus als der filmischen Bewegung, der w.hrend des Studiums das Interesse galt, findet sich in einer Figur wie Frau Touba eingelöst. Zugleich ist in einem Film wie Under the Skin of the City, in dem Bürotürme, Produktionsetagen, Ladenfronten eine wichtige Signatur des gemeinsamen Lebens bilden, deutlich erkennbar, dass der «Gottesstaat» Iran um 2000 durchaus auf dem Weg zu einer eigenen Moderne war – ein Prozess, der durch politische Entscheidungen auf nationaler wie internationaler Ebene verlangsamt, wo nicht unterbrochen wurde. Die aktuelle Situation nach dem Atomabkommen und mit einer neuen Balance in der iranischen Volksvertretung markiert einen wegweisenden Moment: 2016 könnte für den Iran zu einem Schlüsseljahr werden. Rakshan Bani-Etemad wird mit dokumentarischen Mitteln dabei sein. reb