essayfilm

Niemand ist eine Insel Varda oder die zeitgenössische Kunst. Anmerkungen zu Les Plages d'Agnès

Von Raymond Bellour

Les Plages d’Agnès (2008)

© Ciné-Tamaris Roissy Films

 

Der Film von Agnès Varda ist schön, bezaubernd, verführerisch, überraschend, bewegend, umwerfend, so sehr ähnelt er ihr, mehr als jeder andere ihrer Filme, denn hier hat sie sich entschieden, ihren «Lebensrundgang» zu erzählen und abzuwägen, im Glanz einer unvergänglichen Liebe im Andenken an Jacques Demy. Eine Unternehmung mit autobiographischen Anmutungen, von ihrer Kindheit und ihren Ursprüngen bis zur Feier ihres letzten Geburtstags (die Szene wurde als Nachwort hinzugefügt, weil das Ereignis zusammenfiel mit dem Beinahe-Ende des Films), den die Menschenmenge ihrer zahlreichen Freunde mit 80 Besen würdigte.

Aber diese Anmutung einer Chronologie täuscht. Sie implodiert fortlaufend, Folge des Prozesses selbst, den die Rückschau in Gang setzt. Tatsächlich handelt es sich weniger um ein Erzählen, denn um ein Orientieren, ein schrittweises, dem Zickzack der Erinnerung folgendes Nachzeichnen der Karte des Selbst, die niemals die schöne Einheit der Karte Frankreichs mit all seinen Départements haben wird (Agnès ruft es uns schalkhaft ins Gedächtnis), wie sie den Schülern früher nahegebracht wurde, in Form eines Puzzles. «Meine Erinnerungen umgeben mich wie Fliegen, die umherschwirren, (…) und sich im Kreis drehen; in Unordnung geratene Gedächtnisbruchstücke.» «Ein bisschen ich (je), ein bisschen ich (moi), ich schmeiße alles durcheinander und dann räume ich auf.» Hier kommt alles auf die unaufhörlichen Schwankungen zwischen dem Ich (je) und dem Ich (moi) an, auf die Bewegungen, die von der Unordnung zur Ordnung und zu einer neuen Unordnung führen, ganz nach Belieben eines dahintreibenden Netzes von Assoziationen und je nachdem, durch welche Anziehungskräfte bzw. Konflikte die Wörter mit den Bildern in eine Verbindung treten. Auch hört diese Autobiographie nicht auf, sich in ein Selbstporträt zu verwandeln. Varda täuscht sich hier nicht, wenn sie in ihren wenigen «Anmerkungen» gleich zweimal auf dieses Wort zurückgreift und die Patenschaft des «alten Montaigne» beschwört, der vor etwas mehr als vier Jahrhunderten diese gleichsam transhistorische Form der Sorge um sich selbst, der trügerischen Suche nach Identität und deren sternförmiges Zerspringen mit Hilfe der Schrift fixierte, wie für alle Zeit, und doch stets in einem aleatorischen, mehr oder weniger chaotischen Modus verbleibt. Außerdem weisen aus gewählte, die «Anmerkungen» rhythmisch begleitende Begriffe deutlich in die Richtung einer Haltlosigkeit, eines spontanen Hervorsprudelns, eines Spiels der Analogien – gegenüber dem Wort «Puzzle», das eine Möglichkeit von Zweckgerichtetheit und Ordnung voraussetzt –: Collage, Kaleidoskop, Fragment («die Vorstellung von Fragmentierung, die ich sehr mag»). Bevor er ein solcher Rundgang durch ein Leben werden konnte, verfolgte dieser Film das Vorhaben, eine Forschungsarbeit über das Gedächtnis zu sein, über den im Alter drohenden Gedächtnisverlust, wovon die Frau Jean Vilars in Les Plages d’Agnès ein ebenso grausames wie zärtliches Bild abgibt. Indem sie ihrem eigenen Gedächtnis als ihrer entstehenden Lebenserinnerung entgegengleitet, konnte Varda sich jenen Gärstoff der Beunruhigung erhalten, der aus der Erinnerung ein lokales und gleichzeitig schwebendes Fragment macht und damit das Spiel des Prozesses noch vor die Gewissheiten seiner Ergebnisse stellt.

Elizabeth Bruss hat für das Kino in einem bereits älteren, zwar etwas steifen, aber von großer konzeptioneller Kraft zeugenden Artikel auf die relative Unmöglichkeit der Autobiographie geschlossen, im Vergleich zu deren Errungenschaften im literarischen Raum. Sie unterstrich die Schwierigkeit des Kinos, nicht ständig zwischen reiner Aufnahme und Inszenierung hin- und herzupendeln (Wahrheitswert). Danach: auf der einen Seite die Vielfalt der Funktionen, die im Kino das relativieren, was die Einzigartigkeitsstellung des Autors in seinem Schreiben ausmacht; auf der anderen die Spannung zwischen Beschreibung und Ausdruck bei der Suche nach der Wirklichkeit selbst (Handlungswert). Schließlich und vor allem gibt es im Kino keine Entsprechung zu dieser verschwommenen Einheit, die den Autoren, den Erzähler und die handelnde Figur zu einer ebenso beweglichen wie gesicherten Instanz verschmilzt (Identitätswert).

Bezaubernder Umweg

Man weiß, dass gerade zu der Zeit, als Elizabeth Bruss schrieb, ein ganzes «Kino des Ichs» diese Unterscheidungen durcheinanderbrachte (allerdings ohne sie wirklich hinfällig werden zu lassen), vor allem mit Hilfe zweier Mittel: durch die Kraft der Off-Stimme und durch den systematischen Einsatz der Photographie, dieser Zeugin der Wahrheit; beide Mittel haben das Spiel der unterschiedlichen Zwangsläufigkeiten um eine Schraubendrehung verrückt. Man konnte ebenfalls feststellen, dass subtile Verschiebungen in Richtung des Selbstporträts die Sackgassen der Autobiographie abmildern und transformieren konnten, indem sie alle möglichen Arten von Übergangswegen öffneten. Doch niemals sind diese schwebenden Mehrdeutigkeiten so frontal vereitelt worden wie in dem Film von Agnès Varda: Tatsächlich gelangt er mit den Mitteln des Selbstporträts zur Autobiographie und umgekehrt, indem er, ganz für sich allein, eine nur einmal einsetzbare Form erfindet. Allgegenwärtig, von der ersten Einstellung bis zur letzten, mit dem Körper und/oder mit der Stimme, ebenso in wie off, überhäuft Agnès Varda ihren Film auf eine Weise, die sie zu dessen sanft-exzessiver Autorin macht und gleichzeitig sowohl Erzählerin als auch handelnde Figur werden lässt. Sie hat sich sogar – bezaubernder Umweg – die Unterstützung einer Schauspielerin gegönnt, eine junge Agnès Varda, die bei der Gelegenheit, in Form eines Zusatzes zum Spiel, die Echos der Zeit sich überlagern lässt, um auf diese Weise die Fiktion besser mit dem Dokumentarischen mischen zu können, Vardas erklärtes Programm seit ihrem ersten Film La Pointe courte (1954).

Jahrmarktskunst

Doch die interessanteste Sache ist, sich zu fragen, wie es dem Film gelingt, ein derartig kluges Gleichgewicht zu halten. Die Antwort besteht aus einem Wort: Installation. Dieser Film wird ununterbrochen installiert. Und dadurch gewährt er sich den Luxus von Bildern in Bildern, mises en abymes in der Art einer natürlichen Fälschung. Zum Beispiel wenn Varda – unter dem Vorwand, es sei «eines der Ziele des Kinos, Träumereien eine Existenz zu geben» – genau so bereitwillig, wie sie die Episoden eines Lebens aneinanderreiht, dem Vergnügen nachgibt, «Trapezkünstler vor Meereshintergrund auftreten zu sehen». So ruft sie akrobatische Jahrmarktskünstler am Strand von Sète, ihrem Wahlheimatort, zusammen. An dieser Stelle, in dieser fließenden Bewegung von Kunststücken auf dem Trapez, zeigt sich, wie sich ihr Film beim geringsten Anlass immer wieder installiert und reinstalliert.

Folglich wird die Eröffnung zur beeindruckendsten Sequenz, nicht zuletzt, weil sie die unausgesprochene Bürde in sich trägt, die Spielregeln festzulegen. «Spiegel, die Hilfsmittel schlechthin des Selbstporträts», schreibt Agnès. Eines Tages wird man eine Detailanalyse dieser ein wenig schwindelerregenden Sequenz wagen, die 4 Minuten und 22 Sekunden lang ist und 39 Einstellungen umfasst. Nach zwei Einführungseinstellungen, die uns die Heldin zeigen, wie sie allein am Strand umherwandert («Ich spiele die Rolle einer kleinen Alten, pummelig und geschwätzig, die ihr Leben erzählt»), entfaltet sich die Sequenz dank einer atemberaubenden Anordnung von Spiegeln in allen Größen, aufgestellt an diesem windigen Strand von Agnès und einigen jungen Leuten aus ihrem Team um der reinen Wirkung von Reflexen, Spiegelungen, überlagernden Bildern, Rahmen und Identitäten willen, die die Spiegel zu erzielen gestatten. Inszenierung als Installation, Installation als Mise-en-scène, so lautet das sich selbst offenlegende Prinzip.

Im Schutz der Düne

Denn gleich im Anschluss, im Laufe der bescheideneren, aber ebenso verblüffenden Installation von Familienphotos im Schutz einer Düne wird sich ein Wunsch verwirklichen, den Agnès hier äußert, ausgehend von einem Kindheitsphoto, das sie in einem Badeanzug mit Hosenträgern zeigt und mit einer weißen Schleife am höchsten Punkt ihres Schädels: sogleich wird die Szene leibhaftig, nachgespielt von zwei kleinen Mädchen von heute, die mit künstlichen, in den Sand gepflanzten Blumen hantieren, Agnès als verträumte Zeugin, die diesen Akt des Nachstellens befragt und dann von einer Stimme angerufen wird: «Hättest du dir das damals vorstellen können, dass du hier 70 Jahre später eine Installation mit Blumen aus Krepp-Papier machen würdest …?» Gleich darauf treffen wir sie wieder an, sie kniet auf dem Boden und ist gerade dabei, die Dekoration einer anderen Installation zu komponieren – einer echten diesmal, einer Installation für ein Museum –, Le Tombeau de Zgougou (Das Grab von Zgougou) (ihre Katze), eine von acht Installationen ihrer Ausstellung L’Ile et Elle (Die Insel und Sie) in der Fondation Cartier (Paris 2006).

Dabei bildet sich ein Spiel von Doppeldeutigkeiten, dessen Regeln nicht wirklich zu bestimmen sind, doch die ausgetragenen Partien sind vielsagend. Seit ihrem Auftritt als «Kartoffel» im Pavillon Utopia Station der Kunstbiennale von Venedig 2003 ist Varda ohne Zweifel die produktivste Filmemacherin auf dem Feld zeitgenössischer Kunst-Installationen. Mit der entwaffnenden Schlichtheit, die ihr unschlagbarer Trumpf ist, sagt sie in dem Film: «Die alte Filmemacherin hat sich in eine junge Künstlerin verwandelt.» Den ganzen Film über nimmt das Abenteuer ihrer Installationen Form an, aus denen sie lange Segmente zeigt (von den Veuves de Noirmoutier Die Witwen von Noirmoutier bis zu den Justes de France Gerechte von Frankreich), genauso wie sie Ausschnitte aus zahlreichen ihrer Filme auswählt, um durch sie alle hindurch sich selbst zu porträtieren und von sich zu erzählen. Dadurch nimmt man plötzlich deutlicher wahr, in welchem Ausmaß viele dieser Filme von vornherein und auf vielfältigste Weise potentielle Elemente von etwas Prä-Installativem enthielten, angesichts der ständigen und schonungslosen Verflechtungen zwischen Fiktion und Dokumentarischem, sowie der angeborenen Neigung zu allen erdenklichen Formen von Bühnenbildern, Performances und Dispositiven (ganz zu schweigen von ihrer großen Liebe für die Malerei oder von ihrer Photokunst). Eine Episode aus Les Plages d’Agnès (Die Strände der Agnès) veranschaulicht diesen vielseitigen Schöpfungsdrang besonders gut: Inspiriert von einer Einstellung aus La Pointe courte, die die Vorwärtsbewegung eines Karrens zeigt, der von zwei Kindern durch das Dorf geschoben wird, und angetrieben von dem Wunsch, den zwei Söhnen des Mannes («Pierrot», der vor dem Ende des Schnitts verstarb und dem der Film gewidmet ist), der damals als Double für Noiret eingesetzt wurde, «Probeaufnahmen» von damals vorzuführen, die die Söhne noch nie gesehen hatten, hat sich Agnès Varda etwas ausgedacht: Sie hat einen Karren aufgebaut, auf den sie, während er von denselben, mehr als erwachsen gewordenen Kindern geschoben wird, eben diese Bilder projizieren lässt, des Nachts, eine neue Art von Wanderkino. Auf diese Weise hört der Film niemals auf, von Bild zu Bild zu gehen («Ich schaffe heute Bilder, die seit langem in mir umgehen», sagt Agnès, drapiert im Bauch eines am Strand aufgebauten Wals voller Teppiche und Stoffe), von Dispositiv zu Dispositiv, vom Film, der er ist, zum Museum, nach dem die Installation ruft.

Im Kino wohnen

So dass man zu träumen beginnt. Bestünde eine der möglichen Wirkungen des Films darin, uns einzuladen, die unvermeidlich gewordene Formel «Kino und zeitgenössische Kunst» hinter uns zu lassen, angesichts ihrer Schwierigkeiten, sich selbst zu erläutern? Die Formel kann ein wichtiges Argument für sich ins Feld führen. Kino ist das, was projiziert wird, zu den Bedingungen eines unveränderten Aufbaus (im Dunkeln, für ein sitzendes Publikum und für die festgelegte Dauer einer Vorführung), und sei es im Museum. Die zeitgenössische oder die Kunst überhaupt ist das, was sich zeigt – jede Projektion innerhalb einer Installation in einem Museum ist dazu bestimmt, ihren Aufbau jedes Mal (mehr oder weniger) neu zu erfinden und zeugt deshalb notwendigerweise von einem anderen Kino.

Aber was geschieht, jenseits dieser – unwiderruflichen – Trennungslinie, wenn sich ein Film in der ganzen Intimität seines Film-Seins als Abfolge von Installationen aufführt, selbst wenn diese genauso erfasst werden vom zwangläufig richtungslosen Treiben des Gedächtnisses und des Vergessens, das der Kinoprojektion eigen ist? Es passiert kurz vor dem Abspann von Les plages d’Agnès, im Innern der mit Zelluloidstreifen von wiedergefundenen Kopien ihres Films Les Créatures bespannten Hütte des Scheiterns (La Cabane de l’échec) in der Fondation Cartier, dass Varda dem Kino eine neue Definition gibt als «Licht, das von irgendwoher kommt und von Bildern aufgehalten wird». Sie fügt hinzu: «Wenn ich dort bin, habe ich den Eindruck, dass ich im Kino wohne, dass es mein Haus ist, es scheint mir, dass ich schon immer dort wohnte.» So befinden wir uns in einem feinen und seltenen Dazwischen, wo das Kino selbst wie zeitgenössische Kunst agiert. Nicht nur deshalb, weil es von heute ist und viel Kunst zeigt, sondern im eigentlichen, an diesem schicksalhaften Syntagma hängenden Sinn. Solche Grenzgänge zu ermöglichen, spontan und kalkuliert, darin besteht die ganze Anmut der Agnès Varda.

Übersetzung von Stefan Pethke |  Der Text ist ursprünglich erschienen in Trafic Nº 69