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Part Cinema Der Künstler Mark Lewis nimmt sich das Kino vor – in Einzeluntersuchungen zu seiner historischen Poetik, aber auch in inszenierten Überlegungen zur Aufführungspraxis. Auf der Kunst-Biennale in Venedig bespielt er mit vier neuen Werken den kanadischen Pavillon

Von Maja Naef

Es beginnt mit einem Tanz. Im vierminütigen Film Nathan Phillips Square, A Winter’s Night, Skating (2009) lässt Mark Lewis die Kamera einem schlittschuhlaufenden Paar folgen, das nachts über die Eisbahn im Zentrum Torontos gleitet. Die zunächst irritierende Abwesenheit der Tonspur – weder eine entlegene akustische Kulisse noch das Knirschen der Kufen auf dem Eis – entzieht dem Film seine narrativ-illustrative Bedeutung und rückt die Bestandteile der filmischen Sprache selbst ins Zentrum. Die Herstellung des bewegten Bildes zu erkunden, ist ein Projekt, an dem Mark Lewis seit Mitte der neunziger Jahre arbeitet und aus dem seither bereits über vierzig Filme hervorgegangen sind. Während der in London lebende Künstler sich zunächst mit einzelnen Werken der Filmgeschichte auseinandersetzte (1997 reinszenierte er beispielsweise mit Upside Down Touch of Evil die Eröffnungssequenz aus Orson Welles’ Film mit auf den Kopf gestellter Kamera), befasst Lewis sich seit 2000 mit der historischen Poetik des Films, die er in der Annäherung an urbane Situationen seiner unmittelbaren Erfahrungswelt erkundet. Alle vier Filme, mit denen der 52jährige den kanadischen Pavillon der diesjährigen Biennale in Venedig bespielt, sind ohne Ton, und wie die meisten seiner Filme wurden auch diese in einer einzigen Einstellung aufgenommen, haben eine Dauer von der Länge einer kommerziell erhältlichen Filmrolle und sind, auf DVD übertragen, im Ausstellungskontext stets als Loop präsentiert.

Ort-, Zeit- und Handlungsangabe im Titel des ersten Films lesen sich wie das Gerüst für ein Skript, welches in den drei anderen Filmen noch einmal reduziert wird: auf den Ort (TD Centre, 45th Floor, 2009), die Zeit (Cold Morning, 2009) sowie auf die Handlung (The Fight, 2008). Drei dieser Filme sind (wie Gemälde oder Fotos) entlang einer Wand angeordnet, während The Fight in der Tiefe des Ausstellungspavillons abgespielt wird. Durch einen extra errichteten Glasschirm, der an Dan Grahams unrealisiertes Cinema-Modell von 1981 erinnert, werden die Lichtverhältnisse im Innenraum reguliert.

Lewis präsentiert seine Filme, wie bereits erwähnt, in einem Pavillon, der nicht extra in Projektionskojen unterteilt wurde. Generell unterscheidet Lewis zwischen Filmen für den Ausstellungskontext und solchen für das Kino (außerhalb des Pavillons, in einem venezianischen Auditorium, wurde sein 40-minütiger Film Backstory gezeigt). Und dass der kanadische neben dem britischen Pavillon steht, der für Steve McQueens Giardini (2009) in eine das Kino imitierende Black Box transformiert worden und nur zu bestimmten Abspielzeiten zugänglich ist, ist erhellend für eine allgemeine Auseinandersetzung, wie Film im Museum ausgestellt werden soll. Formal richtet Lewis seine Filme auf ihren Präsentationskontext ein: Der Ausstellungsraum wird nicht von Filmprojektoren verstellt, wodurch beispielsweise Tacita Dean oder Rodney Graham die Bedingungen des Projizierens thematisieren. Lewis’ meist auf 35mm gedrehte Filme werden von DVD als Single-Kanal-Projektionen und nicht wandfüllend, sondern in den Dimensionen eines großformatigen Bildes gezeigt. Kurz in ihrer Abspiellänge, ohne Ton und geloopt, gerinnen Lewis’ Filme zu «pictures in motion» (David Campany), die den Raum zwischen stillem und bewegtem Bild artikulieren.

Film als Tableau

Ehe Lewis Anfang der Neunziger durch die zusammen mit Laura Mulvey realisierte Dokumentation Disgraced Monuments (1993) über die Zerstörung von öffentlichen Monumenten in der Ex-Sowjetunion mit Film zu arbeiten begann, beschäftigte er sich im Umfeld der «Vancouver School» (zu der u. a. Roy Arden, Rodney Graham oder Jeff Wall zählen) mit Fotografie. Die Auseinandersetzung mit dem klassischen «tableau» ist, wie Michael Fried in seinem neuen Buch Why Photography Matters As Art As Never Before dargelegt hat, für Künstler wie Jeff Wall oder Douglas Gordon zentral. Lewis verfolgt in seinen Filmen vergleichbare Interessen und nimmt darauf auch Bezug, wenn er sie ausstellt, als wären sie Werke in einer Galerie. Anders als das Kino oder die Black Box gewährt der Ausstellungsraum seinen Besuchern eine reflexive Distanz; diese Distanz muss das Kunstwerk aber auch überbrücken, um den Besucher zum Betrachter zu machen.

Das tanzende Paar in Nathan Phillips Square wirkt in eine ferne, tonlose Welt entrückt, selbstgenügsam wie eine Arabeske, eine Figur, die unabhängig von Kamera und Betrachter abläuft. Denn die langsame Bewegung der Kamera folgt nicht dem Paar, sie beschreibt ebenfalls eine autonome Bewegung, geradeso, als ob sie losgelöst von dem, was sie aufzeichnet, ihrer eigenen Choreografie gehorchte. Eine Ausnahme bildet die kurze Anfangssequenz, als die Kamera dem vor ihr herfahrenden Paar auf die Eisfläche folgt und Kontakt mit diesem aufnimmt. Das Paar führt die Kamera (und den Betrachter) gleichsam wie eine Rückenfigur in einem Gemälde in den Film ein. Diese Eröffnung macht aber auch auf die zunächst kaum merkliche Trennung zwischen Paar und Eislaufbahn aufmerksam: Mark Lewis verwendet in diesem Film wie auch in The Fight das Verfahren der Rückprojektion. In Nathan Phillips Square ist der Tanz die Form der Verschränkung zwischen Figur und Raum; er durchquert – oder, genauer gesagt, umspielt – die Naht dieses kompositen Filmbildes. Lewis hat übrigens mit seinem in diesem Jahr fertiggestellten Film Backstory ein Porträt über Vater und Sohn des Hansard-Unternehmens vorgelegt, die als Techniker Pionierarbeit für die Rückprojektionstechnologie in Hollywood leisteten. (In diesem Film kehrt Lewis die Optik um, indem er die Background-Details – die Techniker der Rückprojektion – in den Vordergrund holt.) Lewis’ eigener Umgang mit diesem Verfahren ist, wie nicht anders zu erwarten, medienhistorisch informiert: Während der Tanz in Los Angeles digital abgefilmt wurde, ist die Eislaufbahn in Toronto auf traditionellem Filmmaterial aufgenommen worden.

Rückprojektion: Hier

Der Hintergrundfilm in The Fight zeigt eine alltägliche Straßenszene in Berlin mit einem öffentlichen Markt. Links bildet eine Häuserzeile eine schräg in die Tiefe gerichtete Kulisse, während rechts das Wort «Hier» als lesbarer Rest einer Anzeige ins Auge springt. Vor diesem Schauplatz sind zwei Gruppen von Migrant/inn/en in eine handgreifliche Auseinandersetzung verstrickt: die einen stehen links, die anderen rechts im Bildfeld, in der Mitte vermischen sie sich kurz in einem Handgemenge, um sich dann wieder auf ihre Seite zurückzuziehen. Manche der Passanten, die im Hintergrund (d. h. in der Rückprojektion) vorübergehen, blicken in Richtung der Hauptszene, und man meint, sie würden die Rauferei bemerken. Auch der Schriftzug «Hier» dürfte auf der Einheit des Raumes insistieren. Aber wo man am meisten Handlung erwartet, ist keine, allenfalls ein Handgemenge, das weder auf einen Höhepunkt noch auf eine Auflösung hinsteuert. Der Loop verwandelt das Geschehen in eine rhythmisch-bewegte Figur. Im Katalog der Biennale bemerkt Lewis: «Film, which has its genesis in the idea of the ‹moving picture›, is always and immediately a composition in decomposition. And for me this is what both disqualifies film as pictorial art (a picture after all is something that is composed, stilled, quiet) and at the same time provides the complex dialectic by which film can address pictorialism.» Wenn Lewis hier vom Gemälde spricht, meint er das klassische «tableau», das als Darstellung eines dramatischen Konflikts in dessen entscheidendem, «fruchtbaren» Augenblick bestimmt wurde. Indem er seine Filmbilder komponiert, zuallererst durch die getrennte Aufnahme und spätere Vernähung von Vorder- und Hintergrund, aber auch durch das Weglassen einer Tonspur und die Präsentation in einem Ausstellungsraum, nähert Lewis das Filmbild dem «tableau» an und löst letzteres zugleich in jenem auf.

Bewegung und Stillstand

Das Lösen und Verbinden von Hinter- und Vordergrund erlaubt eine Reflexion über das Bild, die an Lewis’ frühere Arbeiten anschließt, in denen es ebenfalls um die Reduktion und Isolation verschiedener filmischer Praktiken ging, dem von ihm so genannten «part cinema». Insbesondere die Dialektik von Zoom-in / Close-Up und Zoom-out / Feld, die Lewis in The Pitch (1998) oder Algonquin Park, September (2001) und Algonquin Park, Early March (2002) eingesetzt hatte, lassen das Bild aus einem subtil ausbalancierten Ineinander von Bewegung und Stillstand hervorgehen: Erst nachdem die Kamera wandert und ein Wald erkennbar und schließlich entfernt ein Eisfeld sichtbar werden, verliert das monochrome Feld, mit dem Alonquin Park, Early March beginnt, seine Unbestimmtheit und wird als Schneefläche identifizierbar.

Auch Cold Morning und TD Centre, 54th Floor, die beiden anderen in Venedig ausgestellten Filme, zeichnen sich durch eine präzise Kamerabewegung aus. In TD Centre verschiebt die Kamera ihre Position leicht nach rechts und wieder zurück, um von der 54. Etage den distanzierten Verkehrsstrom sowie das kaum wahrnehmbare Wandern des Sonnenstandes zu beobachten, bis ein Hochhaus seinen Schatten auf den TD Komplex projiziert, als würde hier eine Urszene des Films neu erzählt.

In Cold Morning hingegen zeichnet die fix installierte Kamera auf, wie ein Obdachloser sein Nachtlager, das er über einem Belüftungsschacht an einer von Fußgängern stark frequentierten und verkehrsreichen Straße installiert hat, in rituell anmutenden Handgriffen zusammenräumt. Lewis hat eine niedrige Kameraposition gewählt, so dass der Oberkörper – und vor allem das Gesicht – des Obdachlosen nicht im Bild erscheinen. Seine langsamen Bewegungen lassen im Unbestimmten, ob sie gespielt, «im Leben vorgefunden» oder beides zugleich sind. Absichtsvolles und Gefundenes geraten noch in anderer Hinsicht in ein spannungsvolles Verhältnis. Dem Obdachlosen wird das Überleben im Winter auf zweierlei Art erleichtert. Zunächst ist da der aus dem Schacht aufsteigende feuchtwarme Dampf, über dem er sein Nachtlager eingerichtet hat und der auch die Atmosphäre des Filmbildes leicht eintrübt. Dagegen weckt der Auftritt eines Mannes, der dem Obdachlosen eine Plastiktüte bringt, den Verdacht der Theatralität, jedenfalls, wenn man die gute Tat auch als gefilmte Tat wahrnimmt. Auf kaum merkliche Weise wird die Präsenz der Kamera – und damit auch die der Zuschauer – zum Problem. Was wäre, wenn auch der Dampf auf eine Intention verwiese, kein bloßer Nebeneffekt von U-Bahn oder Kanalisation, sondern eine soziale Einrichtung zur Erleichterung des Lebens auf der Strasse? Eine solche Vorstellung mag entlegen erscheinen, aber sie drängt sich durch den Vergleich von menschlicher und industrieller Wärme, den Mark Lewis in Cold Morning zieht, auf. Darin spiegelt sich eine filmische Frage: Wie verhält es sich mit der statischen Kamera, mit der Cold Morning aufgenommen wurde. Steht sie einfach in der Stadt und registriert, was vor ihr Objektiv tritt, oder möchte sie etwas zeigen? Ist sie ein Apparat oder ein Subjekt? Mit einfachen Mitteln macht Mark Lewis diese Unbestimmtheit erfahrbar.

Biennale di Venezia: bis 22. November 2009 | marklewisstudio